PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26(04): 92-93
DOI: 10.1055/a-2476-6795
Resümee

Frauen

Genderkompetenz hilft

Ganze 5 Jahre hat es gedauert, bis wir nach dem Themenheft „Männer“ den Fokus einer PiD Ausgabe auf „Frauen“ legten. In Anbetracht des vorliegenden Heftes und seiner interessanten und anregenden Beiträge erscheint uns diese zeitliche Latenz nicht mehr recht nachvollziehbar. Unverständlich ist dies auch deshalb, weil wir in unseren Praxen, Beratungsstellen und Kliniken mehrheitlich Frauen behandeln und zudem in unserer eigenen Berufsgruppe (und in unserem Herausgeberteam) das weibliche Geschlecht dominiert.

Warum erst jetzt ein Frauen-Heft?

Was hat uns daran gehindert, ein Heft über uns Frauen zu gestalten? Natürlich gibt es viele konkurrierende interessante Themen, die es wert waren, in einem der jährlichen vier Hefte diskutiert zu werden. Sicher spielte auch der Gedanke eine Rolle, der Vernachlässigung der spezifischen männlichen Bedürfnisse im psychotherapeutischen Behandlungsalltag entgegenzuwirken und mehr Männern die Tür in die Psychotherapie zu öffnen. Vielleicht befürchteten wir auch, dass wir in einem Heft über Frauen die komplexen Wechselwirkungen zwischen psychologischen, biologischen, sozialisationsbedingten, soziologischen, politischen usw. Dimensionen nicht adäquat darstellen können.

Wir müssen uns jedoch auch selbstkritisch fragen, ob wir uns nicht entlang unserer Gendersozialisation verhalten haben. Und unreflektiert in die Falle einer patriarchalisch dominierten Haltung getappt sind, die Männer strukturell bevorzugt und Frauen systematisch benachteiligt.

Wir alle wissen, dass Frauen immer noch in ihrer Selbstbestimmung und Freiheit eingeschränkt, von gesellschaftlichen Prozessen ausgeschlossen und vom Gesundheitssystem benachteiligt werden, außerdem eher sexualisierter, psychischer und körperlicher Gewalt ausgesetzt sind. Gender Pay Gap, Rollenverteilung innerhalb der Familie oder nicht bezahlte und gesellschaftlich wenig gewürdigte Care-Arbeit führen zu ökonomischer Abhängigkeit von Frauen und dem Risiko von niedrigerem sozialen Status, Altersarmut usw. Die Herausforderungen, mit denen sich Frauen heute konfrontiert sehen, sind komplex, anspruchsvoll, mehrdimensional, widersprüchlich, heterogen, überfordernd und häufig krankmachend.


Mehr als nur Beklagen

Bei der Planung unseres Heftes hatten wir den Anspruch, über die Klage bestehender Diskriminierungsprozesse hinauszugehen. Wir baten unsere Autorinnen und Autoren darum, mit uns ihre Ideen für eine gendersensible Psychotherapie zu teilen, in der weibliches Erleben Raum bekommen kann.

Lassen Sie uns ein paar Aspekte herausheben: Gendersensibilität in der Psychotherapie berücksichtigt und anerkennt die Auswirkungen von Geschlechterrollen auf das psychische Funktionieren. Erst dann ist gendergerechtes Handeln möglich. Genderkompetenz bedeutet, im Psychotherapieprozess eine bewusste, differenzierte und Genderthemen gegenüber offene Haltung einzunehmen. Gendersensible Themen sind Sexualität und Begehren, Schönheit, Paarbeziehungen, Fruchtbarkeit und Reproduktion, Macht und Aggression.


Kontinuierliche Selbstreflexion ist nötig!

Einig sind sich unsere Autorinnen, dass eine wichtige Voraussetzung für Gendersensibilität und Genderkompetenz eine kontinuierliche Reflexion unserer eigenen Geschlechtsidentität und -sozialisation ist. Wir haben alle Vorstellungen von gelingendem Frausein, angemessenem weiblichem (und natürlich auch männlichem) Verhalten, weiblichen Rollenmustern und Lebensverläufen, Vorstellungen von zwischengeschlechtlichen Beziehungsmustern usw. in uns. Diese Hintergrundschablonen zu reflektieren, erscheint uns sehr spannend. In Psychotherapie begegnen wir Patient*innen, die ebenfalls ihre Muster von bewussten oder unbewussten genderbezogenen Rollenerwartungen haben, und dies – wie wir auch – reproduzieren. Doing Gender ist ein Prozess, in dem sich das Geschlecht in sozialen Interaktionen konstruiert und reproduziert.


Genderkompetenz kann erlernt werden

Wir haben sensible Antennen für Abweichungen von unseren Gendernormen und belegen als abweichend wahrgenommenes Verhalten eher mit psychiatrischen Diagnosen. Je ähnlicher die Gendersozialisation zwischen zwei Interaktionspartner*innen ist, desto mehr entwickeln wir ein Gefühl von Verständnis und Nachvollziehbarkeit. Allerdings werden dann eigene Gendererfahrungen weniger reflektiert und hinterfragt, wodurch der psychotherapeutische Prozess behindert werden kann.

Genderkompetenz kann erlernt werden – wir denken, das vorliegende Heft kann dazu beitragen. Es beschäftigt sich mit psychologischen Faktoren in Entwicklungsverläufe von Mädchen, sexualpädagogischen Ansätzen in der Schule, feministischer Psychotherapie und der Bedeutung von Kontextualisierung im Psychotherapieprozess. Auch genderspezifische Behandlungsansätze für von Gewalt betroffene Frauen, bei psychischen Störungen rund um die Schwangerschaft, Geburt und die ersten Lebensjahre des Kindes, bei ADHS und bei Kaufsucht werden thematisiert. Und wir werfen einen überraschenden Blick auf gewalttätige Frauen – sehr spannend! Interessante Buchrezensionen und hilfreiche Links ermöglichen thematische Vertiefungen.

Vielleicht erinnern Sie sich an unsere Frage im Editorial: „Werden unsere Therapien anders, vielleicht wirksamer, wenn wir die Genderaspekte berücksichtigen?“

Das können wir nun beantworten: Genderkompetenz führt zu besseren Therapieergebnissen, da genderkompetente Psychotherapeut*innen responsiver sind. Und zudem kann die Beschäftigung mit der eignen Gendersozialisation äußerst anregend und erhellend sein!

Wir danken allen Autorinnen und Autoren dieses Heftes für ihre engagierten Beiträge und freuen uns nun auf Ihre Reaktionen!

Barbara Stein und Claudia Dahm-Mory




Publication History

Article published online:
24 November 2025

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