Abkürzungen
TCA:
trizyklische Antidepressiva
ZAS:
zentrales anticholinerges Syndrom
Das anticholinerge Syndrom entsteht durch (meist) kompetitive Hemmung muskarinerger
Acetylcholinrezeptoren, die sich vor allem im Parasympathikus und im zentralen Nervensystem,
aber auch im Sympathikus finden, wo sie zum Beispiel Teil der Innervation der Schweißproduktion
sind [1].
Klinisch äußert sich die Hemmung der muskarinergen Acetylcholinrezeptoren peripher
mit einer verminderten bis aufgehobenen Schweiß- und Sekretproduktion (z.B. trockener
Mund, trockene Achseln), erweiterten Pupillen mit Lichtscheu und Akkommodationsstörungen,
herabgesetzter bis aufgehobener Darmmotilität und möglichem Harnverhalt sowie einer
Sinustachykardie. Außerdem besteht häufig mildes Fieber.
Kann das auslösende Toxin die Blut-Hirn-Schranke überwinden, kommt es durch Hemmung
zentraler M1-Rezeptoren zum zentralen anticholinergen Syndrom (ZAS) mit Agitation
bis hin zu
einem (meist) hyperaktivem Delir. Oft zeigen die Patienten eine verkürzte
Aufmerksamkeitsspanne und entwickeln visuelle, aber auch auditorische oder taktile
Halluzinationen. Klassisch nesteln die Patienten und greifen nach nur ihnen ersichtlichen
Objekten (z.B. Insekten, die sie entfernen wollen) [1]
[2]. Auch ein gemischtes und hypoaktives Delir oder Koma ist möglich.
In Lehrbüchern wird zur Beschreibung der Symptome gerne das Vollbild des Toxidroms
„Trocken wie ein Knochen“, „Heiß wie ein Hase“, „Rot wie Rote Beete“, „Blind wie eine
Fledermaus“, „Verrückt wie ein Hutmacher“ genutzt.
Merksatz zum anticholinergen Syndrom:
„Dry as a Bone“, „Hot as a Hare“, „Red as a Beet“ „Blind as a Bat“, „Mad as a Hatter”.
Wichtig ist dabei zu beachten, dass in der üblichen Lehrmeinung beim Toxidrom zwar
periphere und zentrale anticholinerge Symptome und Befunde einhergehen, in der klinischen
Realität die zentralen Symptome aber nach Abklingen peripherer Symptome oft persistieren
[1]. In einer Untersuchung zeigten 94% der Patienten in der Notaufnahme mindestens einen
der Befunde Sinustachykardie, verminderte Sekretion oder Mydriasis, die Kombination
aller 3 Symptome kam nur in 28% der Fälle vor, 55% der Fälle zeigten eine Kombination
aus verminderten Darmgeräuschen und Sinustachykardie [3].
Ein ZAS sollte bei jedem Delir differenzialdiagnostisch bedacht werden – periphere
Symptome wie Sinustachykardie, erweiterte, träge Pupillen oder verminderte Darmgeräusche
können hinweisend sein, das klassische Vollbild des Toxidroms findet sich jedoch meist
nicht!
Auslösende Substanzen
Historisch kam es zu anticholinergen Vergiftungen am häufigsten durch die Tropanalkaloide
Scopolamin, Atropin und/oder Hyoscyamin, die in Pflanzen wie Tollkirsche (Atropa belladonna),
Engelstrompete (Brugmansia spp.) oder Stechapfel (Datura spp.) enthalten sind [1]
[4].
Mittlerweile sind anticholinerg wirksame Medikamente jedoch die häufigsten Auslöser:
Antihistaminika der 1. Generation wie Dimenhydrinat, Diphenhydramin oder Doxylamin
werden
meist akzidentiell bei Kindern überdosiert oder in suizidaler Absicht als freiverkäufliche
„Schlaftabletten“ konsumiert [5]. Auch Antipsychotika wie Quetiapin sind typische Auslöser des anticholinergen Syndroms
[6]
[7], wobei unter den gängigen Antipsychotika der 2. Generation Clozapin gefolgt von
Olanzapin die stärkste anticholinerge Wirkung hat [8]
[9].
Daneben wirken viele andere Medikamente anticholinerg und können auch ohne Überdosierung
bei vulnerablen, meist älteren Patienten ein Delir auslösen oder die Entstehung zumindest
unterstützen [10]. Dazu zählen Medikamente, die wegen ihrer anticholinergen Wirkung therapeutisch
eingesetzt werden (z.B. Trospiumchlorid), aber auch Loperamid und Tramadol. Zum Screening
können verschiedene Scores zur Bestimmung der „Anticholinergic Burden“ hilfreich sein
[10]. Im zur Nutzung in Deutschland vorgeschlagenen „Anticholinergic Burden Score“ wird
jedem Medikament eine anticholinerge Wirkung von nicht vorhanden (0 Punkte), schwach
(1
Punkt), mäßig (2 Punkte) bis stark (3 Punkte) zugeordnet [11]. Medikamente oder Kombinationen mit einem Score von 2 oder mehr Punkten sollten
insbesondere bei älteren Patienten vermieden werden und können bei Vorliegen eines
Delirs auf
eine anticholinerge Genese hinweisen.
Auch postoperativ und in der Intensivmedizin können Delire auf eine anticholinerge
Wirkung
zurückgeführt werden [12]
[13].
Bei Vergiftungen mit trizyklischen Antidepressiva ist die Hauptgefahr jedoch nicht
das Auftreten einer anticholinergen Wirkung, sondern von Krampfanfällen und Herzrhythmusstörungen
[2].
Ein anticholinerges Syndrom kann nicht nur durch Vergiftungen, sondern auch Medikamenteneinnahme
in therapeutischer Dosierung ausgelöst werden.
Management
Das anticholinerge Syndrom zu erkennen, kann eine Herausforderung sein. Häufig liegt
neben einem Delir nicht das Vollbild, sondern nur einzelne periphere Symptome oder
die Einnahme typischer Toxine als unterstützende Hinweise vor. Zeigen Patienten lediglich
periphere anticholinerge Symptome oder sehr milde zentrale Symptome, reicht oft eine
symptomatische Therapie ([Abb. 1]), zum Beispiel, indem der Patient regelmäßig reorientiert, in einer reizarmen Umgebung
überwacht und die Versorgung durch Angehörige unterstützt wird [1]
[2]. Benzodiazepine wie Lorazepam können bei milder Agitation ohne Halluzination oder
Denkstörung eingesetzt werden [1].
Abb. 1 SOP Anticholinerges Syndrom. * Dosierungsvorschlag für Kinder; i.v.: intravenös, kgKG:
Kilogramm Körpergewicht; KI: Kurzinfusion; NaBic: Natriumhydrogencarbonat; NaCl 0,9%:
physiologische Kochsalzlösung; ZAS: zentrales anticholinerges Syndrom
Die ideale Therapie eines ausgeprägten ZAS mit Delir wäre die Gabe von M1-Rezeptor-Agonisten,
diese sind jedoch klinisch nicht verfügbar. Daher werden Blut-Hirn-Schranken-gängige
und somit zentral wirksame Acetycholinesteraseinhibitoren verwendet. Physostigmin
wurde 1864 erstmals erfolgreich eingesetzt [14] und ist weiterhin Mittel der Wahl. Zwar stehen mittlerweile auch andere Acetylcholinesteraseinhibitoren
wie Donepizil oder Rivastigmin zur Verfügung, diese fluten jedoch langsamer an und
sind somit schlechter steuerbar. Außerdem ist die Datenlage deutlich schlechter als
für Physostigmin [1]
[15].
Beim schweren ZAS ist Physostigmin Antidot der Wahl.
Physostigmin
Physostigmin wirkt als reversibler Hemmer der Acetylcholinesterase, stimuliert aber
auch direkt nikotinerge Acetylcholinrezeptoren, wodurch es im Hippokampus prokonvulsiv
wirkt und das Auftreten von Krampfanfällen sowie deren Generalisierung begünstigen
kann [1]. Mit einer maximalen Acetylcholinesterasehemmung im Rattenhirn nach 5 Minuten flutet
Physostigmin rasch an [16]
[17] und zeigt auch nur eine Eliminationshalbwertzeit von 22 Minuten [1]. Die maximale Acetylcholinkonzentration wird im Rattenhirn aber erst nach etwa einer
halben Stunde erreicht [16]. Das Erreichen der maximalen Wirkung scheint also später und die klinische Wirkdauer
länger zu sein, als die Verteilungs- und Eliminationshalbwertzeit vermuten lassen.
Sicherheit
Aufgrund zweier Fallberichte mit Herz-Kreislauf-Stillstand nach Physostigmin-Gabe
bei Patienten mit Vergiftung durch trizyklische Antidepressiva (TCA) Anfang der 1980er-Jahre
[18] wurde Physostigmin lange Zeit nur zurückhaltend eingesetzt. Beide Patienten zeigten
jedoch vor Physostigmin-Gabe einen Status epilepticus und breite QRS-Komplexe und
hatten letale TCA-Dosierungen eingenommen. Daher erscheint der letale Verlauf mindestens
ebenso gut, wenn nicht besser durch die Vergiftung erklärt. Dennoch wurde Physostigmin
lange als unsicher betrachtet.
In jüngerer Zeit wurden einige Fallserien und ein narratives Review publiziert, die
die Sicherheit von Physostigmin bei anticholinergem Syndrom, auch bei Vergiftung mit
trizyklischen Antidepressiva, systematisch untersuchten [19]
[20]
[21]
[22]. Häufige Nebenwirkungen waren Hypersalivation oder Schwitzen (in etwa 6–9% der Fälle),
Übelkeit und Erbrechen (etwa 4% der Fälle), Krampfanfälle (etwa 0,6% der Fälle) und
Bradyarrhythmien in 0,3% der Fälle. In einer Fallserie wurde zudem bei einem von 54
Patienten ein Asthmaanfall dokumentiert [23]. Die Herzfrequenz sinkt nach Physostigmin-Gabe (in Abhängigkeit von der Dosis) etwa
um 15 Schläge/min [23].
Wichtig ist dabei zu beachten, dass in einigen Fallserien bei Patienten mit breiten
QRS-Komplexen vor der Physostigmin-Gabe Natriumbikarbonat und bei Einnahme von die
Krampfschwelle senkenden Toxinen zudem 1–2 mg Lorazepam intravenös gegeben wurde [19]. In allen Fällen wären die Krampfanfälle im Übrigen auch durch die zugrunde liegenden
Toxine erklärbar gewesen und die cholinergen Nebenwirkungen (vermehrtes Speicheln
oder Erbrechen) scheinen eher auf eine Physostigmin-Überdosierung oder zu rasche Gabe
zurückführbar.
Die Sicherheitsbedenken beim Einsatz von Physostigmin sind also real, werden jedoch
wahrscheinlich deutlich überschätzt. Es besteht ein klarer Konsens, dass bei breiten
QRS-Komplexen, Krampfanfällen oder Bradykardien besondere Vorsicht und Monitorkontrolle
erfolgen soll. Manche Autoren raten dann ganz vom Einsatz von Physostigmin ab oder
empfehlen die Gabe von Natriumbikarbonat (bei breiten QRS-Komplexen) und/oder Lorazepam
(bei breiten QRS-Komplexen oder erhöhtem Krampfrisiko) vor der Gabe von Physostigmin
[1]
[2]
[20]
[22].
Physostigmin sollte nur unter Monitorkontrolle gegeben werden. Besondere Vorsicht
gilt bei erhöhtem Krampfrisiko, breiten QRS-Komplexen und Bradykardie.
Wirksamkeit
Bei 74–96% der Patienten mit ZAS kann innerhalb von Minuten nach Physostigmin-Gabe
eine deutliche Verbesserung des Delirs beobachtet werden [7]
[19]
[22]
[23]
[24]. Komplett reversibel ist das Delir in 43–87% der Fälle [23]
[24]. In den Studien, in denen die Wirkung mit Benzodiazepinen verglichen wurde, hatten
diese nur eine Verbesserung von Agitation bzw. Delir in 24–36% der Fälle erbracht
[22]
[24]. Eine randomisiert-kontrollierte Studie verglich Physostigmin mit Lorazepam und
fand direkt und 4 Stunden nach der Medikamentengabe eine Delirkontrolle bei 56% und
78% der Physostigmin-Patienten, aber bei keinem der mit Lorazepam behandelten Patienten
[25].
Auch die Rate an Intensivaufenthalten [26] oder Intubationen [24]
[26]
[27] war bei Patienten, die mit Physostigmin behandelt wurden, deutlich niedriger.
Der Einsatz von Physostigmin beim ZAS kontrolliert das Delir erheblich besser als
Benzodiazepine und ist mit einer niedrigeren Intubationsrate assoziiert.
Dosierung
In der Fachinformation [28] des auf dem deutschen Markt erhältlichen Produkts wird eine Dosierung von 0,04 mg/kg
(oder auch 2 mg), die über 10–15 Minuten in 50 ml physiologischer Kochsalzlösung gegeben
werden soll, empfohlen, um Nebenwirkungen einer zu schnellen Gabe zu reduzieren.
Die Dosierung von Physostigmin zeigt in der Literatur eine deutliche Varianz und es
besteht international kein Konsens oder eine klare Datenlage für das eine oder andere
Schema. Historisch wird üblicherweise eine Initial-Dosis von 2 mg (0,04 mg/kg bei
Kindern) langsam (0,5–1 mg/min) intravenös beim Erwachsenen eingesetzt [1]
[19]. Eine erneute Gabe bei unzureichender Wirkung wird meist nach 5–10 Minuten empfohlen
[22]
[24].
Allerdings zeigen sich in diesen Studien auch erhöhte Raten von cholinergen Nebenwirkungen
wie Erbrechen und Hypersalivation im Vergleich zu Studien, in denen initial niedrigere
Physostigmin-Dosen verabreicht oder diese langsamer gegeben wurden. Zudem waren auch
Dosierungen von 1 mg in Studien wirksam [20]
[29]. In Zusammenschau mit der Kinetik werden daher in der neueren Literatur auch defensivere
Dosierungsschemata von 0,5–1 mg (0,01–0,02 mg/kg bei Kindern) Initialdosis über 5–10
Minuten mit einer erneuten Gabe frühestens nach 15 Minuten empfohlen [1].
Eine zu rasche oder hochdosierte Gabe von Physostigmin scheint mit vermehrten Nebenwirkungen
einherzugehen.
Wurde eine ausreichende Initialwirkung erzielt, können aufgrund der kürzeren Wirkdauer
von Physostigmin im Vergleich zum Toxin im Verlauf weitere Gaben notwendig werden,
die auch als kontinuierliche Gabe möglich sind [30]. Die Fachinformation empfiehlt bei nachlassender Wirkung die erneute Gabe von 1–4
mg alle 20 Minuten, eventuell auch als Dauerinfusion [28].
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Periphere Symptome oder milde zentrale Symptome eines anticholinergen Syndroms können
zunächst rein symptomatisch behandelt werden.
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Gefährlich ist das schwere ZAS, welches sich typischerweise in einem hyperaktiven
Delir äußert und insbesondere bei älteren Patienten als Differenzialdiagnose erwogen
werden sollte.
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Durch Gabe des Antidots Physostigmin unter Monitorkontrolle kann das ZAS besser als
mit Benzodiazepinen allein kontrolliert werden.
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Vor allem bei zu rascher Applikation oder Überdosierung von Physostigmin treten als
Nebenwirkungen Hypersalivation, vermehrtes Schwitzen und Erbrechen auf, Vorsicht ist
zudem bei erhöhtem Krampfrisiko und Bradykardie geboten.