PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26(03): 01
DOI: 10.1055/a-2420-4680
Editorial

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Barbara Stein
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Liebe Leserin, lieber Leser,

mein Aufenthalt in der diesjährigen europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz (sehr empfehlenswert!) schloss auch den Besuch der beeindruckenden Ausstellung European Realities im Museum Gunzenhauser (ebenfalls sehr empfehlenswert!) ein. Die knapp 300 Werke von mehr als 60 Künstler*innen aus rund 20 europäischen Ländern umfassende Ausstellung thematisiert die zahlreichen europäischen Realismusbewegungen der 1920er- und 1930er-Jahren. Die meist wenig bekannten Künstler*innen verarbeiteten die psychischen Spannungen der Zwischenkriegszeit wie die Folgen von Krieg, Armut, Weltwirtschaftskrise, gesellschaftlichem Wandel oder industriellem Fortschritt, aber auch ihre Ängste vor einem erneuten Krieg und vor den wachsenden nationalsozialistischen Bestrebungen. Ihre Werke verdeutlichen das Grundbedürfnis nach Sicherheit, das sich in einer durch Unsicherheit geprägten Epoche verstärkt zeigt. Der exakte, formale und oft kühl wirkende Stil der Neuen Sachlichkeit reflektiert das Bedürfnis nach Klarheit und Kontrolle in politisch und gesellschaftlich unsicheren Zeiten.

Obwohl die Welt für die meisten von uns objektiv sicherer ist als für unsere Vorfahren, plagen uns Ängste vor dem Verlust an Sicherheit und Kontrolle. Die aktuelle Weltlage mit ihren politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Problemen und dem Erstarken der rechten Kräfte bereitet uns allen Sorgen, da sie uns wenig durchschaubar und noch weniger individuell beeinflussbar erscheint. Wir streben nach emotionaler und materieller Sicherheit und fühlen uns in ambiguen Situationen häufig unwohl und belastet. Das Ausmaß an Ambiguitätstoleranz ist individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Vielleicht sind Menschen, die den Nervenkitzel suchen, besonders risikofreudig, vielleicht haben sie auch erkannt, dass es unmöglich ist, sämtliche Risiken auszuschließen. Vielleicht haben sie auch mehr Selbstvertrauen.

Mut zur Unsicherheit – eine Herausforderung für uns alle und nicht nur für Patient*innen mit Zwangsstörungen.

In diesem Sinne

Ihre

Barbara Stein



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
19. August 2025

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