II. Feststellungen des Bundessozialgerichts und des SG München
Das BSG hat entschieden, dass die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNO) berechtigt
war, Honorarbescheide eines MVZ im Rahmen der sachlich-rechnerischen Richtigstellung
mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben und das gewährte Honorar vollständig
zurückzufordern, da die eingereichten Sammelerklärungen zu den Abrechnungen nicht
von einem ärztlichen Leiter des MVZ unterzeichnet waren. Die entsprechende Vorgabe
im Honorarverteilungsmaßstab der KVNO sei von der Ermächtigungsgrundlage des § 87b
Abs. 1 S. 2 SGB V gedeckt und verstoße nicht gegen höherrangiges Recht.
Der vorangehende Beitrag in RöFo 04/2024 zeigte auf, dass wesentliche Rahmenbedingungen
für die Stellung des ärztlichen Leiters bisher weder gesetzlich, noch durch die Rechtsprechung
festgelegt worden sind. Unklar waren insbesondere Umfang und Ort der Tätigkeit des
ärztlichen Leiters, ob mehrere ärztliche Leiter bestellt werden können, ob ein ärztlicher
Leiter nachträglich bestellt werden kann und ob verlangt werden kann, dass der ärztliche
Leiter die bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) einzureichende Abrechnungs-Sammelerklärung
(mit-)unterschreiben muss. Ebenfalls nicht eindeutig oder abschließend geklärt waren
die Rechtsfolgen einer fehlenden Bestellung eines ärztlichen Leiters, insbesondere,
ob eine hierauf gestützte Zulassungsentziehung des MVZ zulässig ist. Schließlich waren
Fragen zur Haftung des ärztlichen Leiters bisher unklar. Diese gesetzlich bisher nicht
hinreichend geregelten Anforderungen und Handlungsfelder für den ärztlichen Leiter
werden nachfolgend vor dem Hintergrund der veröffentlichten Urteilsgründe der Entscheidung
des BSG und der Ausführungen des SG München in den Punkten 1. bis 7. dargestellt und
untersucht.
1. Tätigkeitsumfang des ärztlichen Leiters
Im Gesetz ist nicht geregelt, welchen Umfang der vertragsärztliche Versorgungsauftrag
eines ärztlichen Leiters nach der Bedarfsplanungsrichtlinie Ärzte (BPL-RL) haben muss.
Je nach KV-Bezirk werden unterschiedliche Anforderungen an den Tätigkeitsumfang gestellt.
Teilweise wird verlangt, dass der ärztliche Leiter mit mindestens 10 bis zu 20 Stunden
pro Woche im MVZ angestellt sein muss. Welchen Anrechnungsfaktor der ärztliche Leiter
erfüllen muss, ist jedoch im Gesetz bisher nicht definiert.
Hierzu führt das BSG in seinem Urteil vom 13.12.2023 aus, dass der ärztliche Leiter
mindestens im Umfang einer halben Arztstelle (Anrechnungsfaktor 0,5 nach der BPL-RL)
im MVZ tätig sein muss und verweist hierzu auf sein Urteil vom 19.07.2023[
4
]. Das Urteil vom 19.07.2023 stellte zu dem vormals erforderlichen fachübergreifenden
Charakter eines MVZ fest, dass es hierfür ausreichend war, wenn die Ärzte mit einem
Wochenstundenumfang beschäftigt waren, der nach der BPL-RL einem Anrechnungsfaktor
von 0,5 entsprach. Weitergehende Anforderungen hinsichtlich des Tätigkeitsumfangs
bei einem MVZ dürfen nach Ansicht des BSG auch für den ärztlichen Leiter nicht gestellt
werden. Zwar hat der Gesetzgeber den fachübergreifenden Charakter als Voraussetzung
für ein MVZ gestrichen; dies dürfte – zwar nicht gesichert, aber voraussichtlich –
keinen Einfluss auf die Aussage des BSG haben, dass der ärztliche Leiter lediglich
mit dem Anrechnungsfaktor 0,5 im MVZ angestellt sein muss, da es im Urteil vom 13.12.2023
allein auf diese Voraussetzung verweist. Gemäß § 51 Abs. 1 S. 4 BPL-RL ist hierzu
eine Tätigkeit von über 10 bis 20 Wochenstunden erforderlich. Je nach Verteilung der
Sprechstunden im MVZ ist grundsätzlich eine Tätigkeit von zumindest 12,5 Wochenstunden
ausreichend, um den Anrechnungsfaktor 0,5 zu erfüllen[
5
]. Folglich ist davon auszugehen, dass eine Tätigkeit im Umfang von 12,5 Wochenstunden
für die Stellung als ärztlicher Leiter ausreicht.
2. Tätigkeitsort des ärztlichen Leiters
Ebenfalls ist in § 95 Abs. 1 SGB V nicht geregelt, ob der ärztliche Leiter die Tätigkeit
zwingend vollständig oder zumindest zu einem bestimmten Teil am Vertragsarztsitz des
MVZ erbringen muss oder ob es ausreicht, wenn er ausschließlich an einer Nebenbetriebsstätte
des MVZ tätig wird.
Hierzu wurde in dem vorangehenden Beitrag auf das Urteil des SG Marburg vom 03.05.2023[
6
] verwiesen, nach dem der Tätigkeitsort einer ärztlichen Leitung eines MVZ auch eine
Nebenbetriebsstätte des MVZ sein kann, sofern der Gesamtverantwortung im Einzelfall
dadurch hinreichend Rechnung getragen wird. Dies sei regelmäßig der Fall, wenn zwischen
Nebenbetriebs- und Hauptbetriebsstätte eine Distanz liege, die in weniger als 30 Minuten
zu überbrücken ist. Es wurde darauf hingewiesen, dass dieses Urteil zwar eine erhebliche
Indizwirkung hat, aber die Frage des Tätigkeitsortes nicht abschließend beantwortet
wurde. Das BSG hat in seinem Urteil vom 13.12.2023 nun im Hinblick auf die Frage,
ob der ärztliche Leiter selbst seine Tätigkeit am Hauptstandort des MVZ ausüben muss,
auf das Urteil des SG Marburg verwiesen[
7
]. Damit hat sich das BSG der Einschätzung des SG Marburg angeschlossen, dass der
ärztliche Leiter nicht zwangsläufig am Vertragsarztsitz des MVZ tätig werden muss.
3. Mehrere ärztliche Leiter
Die Vorschrift des § 95 Abs. 1 S. 4 SGB V regelt zwar, dass auch eine kooperative
ärztliche Leitung in einem MVZ möglich ist, wenn in einem MVZ Angehörige unterschiedlicher
Berufsgruppen vertragsärztlich tätig sind. Nicht geregelt ist hingegen, ob generell
mehrere ärztliche Leiter bestellt werden können, insbesondere wenn sie derselben Fachgruppe
zugehörig sind. Den Entscheidungsgründen des Urteils des BSG vom 13.12.2023 ist zu
entnehmen, dass ein MVZ einer zeitweisen Verhinderung des ärztlichen Leiters mitunter
dadurch begegnen kann, dass es von vorherein einen weiteren ärztlichen Leiter oder
einen Vertreter bestellt[
8
]. Da das BSG keine weiteren Voraussetzungen hierzu nennt, ist davon auszugehen, dass
die Bestellung eines weiteren ärztlichen Leiters oder eines stellvertretenden ärztlichen
Leiters ohne weiteres möglich ist.
4. Nachträgliche Bestellung
In dem vorangehenden Beitrag wurde die Frage, ob eine nachträgliche Bestellung eines
ärztlichen Leiters möglich ist, nicht behandelt. Diese Frage hat das BSG mit Urteil
vom 13.12.2023 bejaht und in den Entscheidungsgründen wie folgt begründet:
„Aus § 1 Abs. 4 S. 3 HVM, an den Satz 5 anknüpft, ergibt sich, dass es ausreicht,
wenn der Unterzeichner die Verantwortung für die Erfüllung der Abrechnungsvoraussetzungen
übernimmt, weil er sich von deren Erfüllung persönlich überzeugt hat. Dies ist einem
nachträglich bestellten ärztlichen Leiter aufgrund seiner ärztlichen Fachkompetenz
– ggf. nach Rücksprache mit dem jeweiligen behandelnden Arzt – möglich. Selbst ein
während des gesamten Quartals bestellter ärztlicher Leiter wäre im Übrigen nicht bei
den Behandlungen der anderen Ärzte des MVZ zugegen und könnte nur aufgrund der Dokumentation
und der Angaben der behandelnden Ärzte beurteilen, ob diese als Grundlage für eine
wahrheitsgemäße Sammelerklärung herangezogen werden können.“[
9
]
Zu berücksichtigen ist, dass auch der nachträglich bestellte ärztliche Leiter für
den Zeitraum der ärztlichen Leitung sämtliche Voraussetzungen erfüllen muss, also
insbesondere im MVZ angestellt und jedenfalls im unter Punkt 1 dargestellten Umfang
von grundsätzlich 12,5 Wochenstunden tätig sein muss.
5. Unterzeichnung der Sammelerklärung
Ebenso wenig ist gesetzlich geregelt, ob der ärztliche Leiter die nach § 35 Abs. 2
S. 3 BMV-Ä bei der KV einzureichende Abrechnungs-Sammelerklärung (mit-)unterschreiben
kann oder sogar muss, um damit das Vorliegen einer fehlerfreien Abrechnung zu bestätigen.
Wie in dem vorangegangenen Beitrag dargestellt wurde, hat das BSG in dem Urteil vom
13.12.2023 entschieden, dass der ärztliche Leiter die Abrechnungs-Sammelerklärung
zwingend unterschreiben muss. Unterbleibt dies, kann die zuständige KV Honorarbescheide
eines MVZ im Rahmen der sachlich-rechnerischen Richtigstellung mit Wirkung für die
Vergangenheit aufheben und das gewährte Honorar vollständig zurückfordern, wenn die
eingereichten Sammelerklärungen zu den Abrechnungen, entgegen der Vorgabe des jeweiligen
Honorarverteilungsmaßstabes, nicht von einem ärztlichen Leiter des MVZ unterzeichnet
worden sind.
6. Entziehung der Zulassung des MVZ
Ebenfalls nicht behandelt wurde bisher die Frage, welche Folgen die Nichtbestellung
eines ärztlichen Leiters für das MVZ hat. Nach § 95 Abs. 6 S. 1 SGB V ist die Zulassung
zu entziehen, wenn die Zulassungsvoraussetzungen nicht oder nicht mehr vorliegen,
der Vertragsarzt die vertragsärztliche Tätigkeit nicht aufnimmt oder nicht mehr ausübt
oder seine vertragsärztlichen Pflichten gröblich verletzt. Gemäß § 72 Abs. 1 S. 2
SGB V gilt die Vorschrift entsprechend für MVZ. Zusätzlich ist nach § 95 Abs. 6 S. 3
SGB V einem MVZ die Zulassung auch dann zu entziehen, wenn die Gründungsvoraussetzungen
des Absatzes 1a S. 1 bis 3 länger als sechs Monate nicht mehr vorliegen. Die Frage
war daher bisher, ob die Entziehung der MVZ-Zulassung für den Fall der Nichtbestellung
eines ärztlichen Leiters erst nach Ablauf der Frist von sechs Monaten erfolgen durfte.
Das BSG führt in den Entscheidungsgründen des Urteils vom 13.12.2023 aus, dass die
vorstehend genannte „Schonfrist“ von sechs Monaten nach § 95 Abs. 6 S. 3 SGB V gerade
nicht den Wegfall der ärztlichen Leitung nach § 95 Abs. 1 S. 3 SGB V erfasst und allein
§ 95 Abs. 6 S. 1 Alt. 2 SGB V einschlägig ist, welcher zur sofortigen Zulassungsentziehung
berechtigt[
10
]. Auch an dieser Stelle verweist das BSG auf sein Urteil vom 19.07.2023, in dem es
ausgeführt hat, dass der Zulassungsentzug nicht zwingend ist und aus Gründen der Verhältnismäßigkeit
stets zu prüfen ist, ob ein milderes Mittel als die Zulassungsentziehung in Betracht
kommt; wobei das BSG darauf verweist, dass bei einem Fehlen der ärztlichen Leitung
„nur“ eine Zulassungsentziehung gemäß § 95 Abs. 6 S. 1 Alt. 2 SGB V in Betracht kommt[
11
].
Diese Rechtsauffassung wurde durch die Entscheidung des SG München vom 29.02.2024[
12
] für den vertragszahnärztlichen Bereich bestätigt. Nach dem Gesetzeswortlaut müsse
ein MVZ per Definition eine (zahn-)ärztliche Leitung haben, diese sei konstitutiv
für das MVZ. Fehle eine zahnärztliche Leitung, sei dem MVZ gemäß § 95 Abs. 6 SGB V
die Zulassung zu entziehen. Anders als beim Wegfall der Gründungsvoraussetzungen eines
MVZ in § 95 Abs. 6 S. 3 SGB V sehe der Gesetzgeber insoweit keine sechsmonatige Schonfrist
vor. Der Gesetzgeber messe dem Vorhandensein einer (zahn-)ärztlichen Leitung damit
eine hohe Bedeutung bei. Leistungen, die von einem MVZ erbracht würden, welches keinen
(zahn-)ärztlichen Leiter habe, der die Betriebsabläufe tatsächlich steuere und sicherstelle,
dass (zahn-)ärztliche Entscheidungen unabhängig von sachfremden Erwägungen getroffen
würden, seien daher sachlich rechnerisch zu berichtigen, unabhängig davon, dass das
MVZ weiter über eine Zulassung verfüge. Eine Unverhältnismäßigkeit des vollständigen
Honorarverlusts sei bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und
dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe nicht erkennbar. Das Vorhandensein eines
zahnärztlichen Leiters sei konstitutiv für ein MVZ und diene insbesondere dem Schutz
der Versicherten. Das MVZ hätte auch jederzeit einen Vertreter für die zahnärztliche
Leitung bestellen können und auch müssen, so dass kein unverhältnismäßiger Eingriff
in das Recht des MVZ auf Honorierung vorliege.
7. Haftung des ärztlichen Leiters
Für die Haftung des ärztlichen Leiters ist durch die aktuelle Entscheidung des BSG
keine Änderung erkennbar. In den Entscheidungsgründen heißt es auszugsweise:
„Den ärztlichen Leiter trifft zwar keine fachliche Verantwortung für jede einzelne
Behandlungsmaßnahme, wohl aber die Verantwortung für die ärztliche Steuerung der Betriebsabläufe
und eine Gesamtverantwortung gegenüber der KÄV […]. Grundsätzlich ist das MVZ selbst
für die Abgabe einer wahrheitsgemäßen Abrechnungs-Sammelerklärung verantwortlich.
Diese Verantwortung ist unteilbar und nicht delegierbar, sodass das MVZ gegenüber
den Institutionen der vertragsärztlichen Versorgung nicht auf ein eventuelles Fehlverhalten
der dort tätigen Ärzte verweisen kann […]. Dabei kann aber die besondere Struktur
des MVZ nicht außer Acht gelassen werden. Bei diesem fallen der vertragsärztliche
Status und die tatsächliche Durchführung der Behandlungen auseinander; der Status
ist dem MVZ zugewiesen, die Behandlungen werden durch die dort tätigen Ärzte durchgeführt
[…]. Anders als der nichtärztliche Geschäftsführer eines MVZ hat der ärztliche Leiter
die medizinische Fachkompetenz, die ihn zur Überprüfung befähigt, ob die von den einzelnen
Ärzten angegebenen Behandlungsvorgänge so stattgefunden haben können und somit als
Grundlage für eine stimmige Quartalsabrechnung taugen […].“[
13
]
Mit anderen Worten übernimmt der ärztliche Leiter eine generelle bzw. strukturelle
fachliche Verantwortung für die Behandlungen, die in einem MVZ von den zugelassenen
und angestellten Ärzten durchgeführt werden, nicht aber für jede einzelne Behandlungsmaßnahme.
Demnach haftet für Behandlungen grundsätzlich auch nicht der ärztliche Leiter, sondern
die Trägergesellschaft des MVZ im Außenverhältnis.
8. Einordnung der Rechtsprechung für die Praxis
Die Entscheidungsgründe des Urteils des BSG vom 13.12.2023 haben eine deutliche Konkretisierung
der Anforderungen an den ärztlichen Leiter erbracht. Die vollständige Nichthonorierung
der vertragsärztlichen Leistungen infolge einer fehlenden Unterzeichnung der Sammelerklärung
durch den ärztlichen Leiter stellt ein erhebliches Risiko für das MVZ und den ärztlichen
Leiter dar. Deutlich geworden ist auch, dass, ebenso wie die Nichtunterzeichnung der
Abrechnungssammelerklärung, auch die Nichtbestellung eines ärztlichen Leiters zur
Nichthonorierung für den betroffenen Zeitraum führt. Im Ergebnis ist stets Vorsicht
im Hinblick auf die ordnungsgemäße Bestellung und Erfüllung der Pflichten durch die
ärztliche Leitung geboten und zu bedenken, dass Verstöße zur Nichthonorierung sämtlicher
Leistungen und darüber hinaus zum Entzug der Zulassung des MVZ führen können.
Zumindest hat das BSG mit der Bestellung eines Stellvertreters, eines zusätzlichen
oder der nachträglichen Bestellung eines ärztlichen Leiters, sowie der Feststellung,
dass keine Tätigkeit am Vertragsarztsitz des MVZ erforderlich ist, eine Reihe von
Erleichterungen für die Tätigkeit des ärztlichen Leiters und zur Vermeidung von Honorarregressen
eröffnet.