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ICD-11 - Gesundheitsgesetzgebung - Krankenhausreform - Schlaf-Wach-Störungen - Alpha-ID-SE - elektronische Patientenakte
Von der ICD-10 zur ICD-11
Von der ICD-10 zur ICD-11
Die internationale Klassifikation der Krankheiten, die ICD, ist die zentrale
Referenzklassifikation in der Familie internationaler Klassifikationen der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) [1] .
Durch sie wird die Erfassung von Erkrankungen unabhängig von der jeweiligen
Landessprache möglich. Die ICD ist in vielen Ländern ein zentraler Pfeiler von
Abrechnungssystemen. Sie kommt im Rahmen von Pharmakovigilanz und Qualitätssicherung
zum Einsatz. Sie bildet die Grundlage für Morbiditäts- und Mortalitätsstatistiken
auf vielen verschiedenen Ebenen. Sie dient der Versorgungssteuerung. Und sie
ermöglicht Vergleiche von Morbiditäts- und Mortalitätsdaten über Einrichtungen,
Regionen, Länder und historische Zeiträume hinweg.
Weltweit genutzt wurde für all diese Zwecke in den letzten Jahrzehnten die ICD-10,
die Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts verabschiedet wurde. Sie hatte ihre
Stärken, weil sie im Vergleich zur Vorversion umfassender war, zeigte zuletzt aber
auch immer deutlicher ihre erheblichen Schwächen [2] . Sie ist nicht im digitalen Umfeld
entwickelt worden, so dass sie nicht die vollen Möglichkeiten eines modernen
Kodiersystems ausschöpft. Grundlegende Änderungen an der internationalen Version
sind kaum mehr möglich, denn die WHO hat die Weiterentwicklung nur noch für
Notfallkodes (wie z. B. zu Covid-19) vorgesehen. International ist die
unkoordinierte, nicht regelkonforme Erweiterung des ICD-10-Katalogs durch einzelne
Nationen ein weiteres Problem, da dies die internationale Vergleichbarkeit von
ICD-kodierten Daten beeinträchtigt.
Die ICD-11 [3] tritt an, diese Defizite zu
beseitigen. Es gehe um nichts weniger als einen „Reset des Systems“, so die WHO im
Jahr 2018 [2] . Die ICD-11 ist angelegt
als relationale Datenbank, die einerseits, wie gehabt, eine hierarchische Kodierung
ermöglicht, andererseits aber vielfältige Bezüge zwischen Erkrankungen, Symptomen,
Funktionen und Körperstellen abbilden kann (siehe Infokasten). Dabei kann ein
Element – anders als in der ICD-10 – mehreren übergeordneten Elementen zugeordnet
sein.
Infokasten: Die ICD-11 als agiles, lernendes System mit ontologischer
Infrastruktur [4]
Infokasten: Die ICD-11 als agiles, lernendes System mit ontologischer
Infrastruktur [4]
-
Wenige Stammkodes und viele Erweiterungskodes
ermöglichen genaue Kodierung via digitaler Erfassung
-
Foundation:
Standardisierte Basis, die gemeinsam weiterentwickelt werden soll und
aktuelle medizinische und kulturelle Entwicklungen aufnehmen kann
-
Hierarchische Gliederung in Medizinische Einheiten
(mehrdimensional, also Krankheiten, Störungen, Verletzungen,
äußere Ursachen, Anzeichen und Symptome), die optional mit
Attributen (Körperstelle, Körpersystem und Kausalmechanismus)
weiter definiert werden können
-
Ein Element kann mehreren übergeordneten Elementen zugeordnet
sein (multi-parenting)
-
Komplett elektronisch, Aktualisierung in Echtzeit
-
Linearisierung
:
Auszüge als statistische Klassifikation mit klarer hierarchischer
Baumstruktur für die Kodierung (single-parenting)
Ziele und Neuerungen der ICD-11
Ziele und Neuerungen der ICD-11
Bei den Zielen der ICD-11 muss zwischen formalen/
prozessualen und medizinischen/inhaltlichen Zielen unterschieden werden. Formal und
prozessual zielt die WHO u. a. darauf [5]
[6] ,
-
Die digitalen Möglichkeiten vom Point-of-Care bis zur statistischen
Auswertung von Daten zu nutzen, um ein flexibleres und langlebigeres
Klassifikationssystem zu erreichen, inklusive jährlicher Updates, wobei die
etablierten Prozesse und Erfahrungen mit den jährlichen Aktualisierungen der
ICD-10 ausgebaut und für Eingaben durch die breite Öffentlichkeit ergänzt
wurden.
-
Die Nutzung digitaler Tools zur Unterstützung der Kodierung im Alltag zu
ermöglichen,
-
Die Datenqualität zu verbessern,
-
Die internationale Vergleichbarkeit zu verbessern und
-
Die ICD-11 robuster und anpassungsfähiger zu machen, so dass keine nationalen
Erweiterungen mehr nötig werden bzw. innerhalb der ICD-11 Foundation
erfolgen können.
Inhaltlich und medizinisch erfolgte in der ICD-11 die Aufteilung des bisherigen
Kapitel 3 des ICD-10 „Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe sowie
bestimmte Störungen mit Beteiligung des Immunsystems“ in Kapitel 3 „Krankheiten des
Blutes oder der blutbildenden Organe“ sowie Kapitel 4 „Krankheiten des Immunsystems“
[7] . Besonders hervorzuheben ist
jedoch die Erweiterung um zwei völlig neue Kapitel. Hierbei handelt es sich zum
einen um das Kapitel 7 „Schlaf-Wach-Störungen“, was zur Folge hat, dass eine
Schlaf-Wach-Störung nicht mehr als Symptom klassifiziert wird ( [Abb. 1] ) [7] .
Abb. 1 Insomnie in der ICD-10 German Modification (-GM) sowie ICD-11
(Abb. basiert auf Daten aus [7]
[8] ).
Zum anderen handelt es sich um das Kapitel 17 „Zustände mit Bezug zur sexuellen
Gesundheit“ einschließlich der Geschlechtsinkongruenz [7] .
Mit diesen Kapiteln erhalten Gesundheitszustände eine klassifikatorische
Eigenständigkeit, die in der ICD-10 bisher den psychischen, so genannten F-Diagnosen
zugeordnet wurden. Zu erwähnen ist auch die in der ICD-11 aufgenommene komplexe
posttraumatische Belastungsstörung (CPTSD). Diese beschreibt ein komplexeres
Symptombild und wird häufig mit wiederholten oder langanhaltenden Traumata in
Verbindung gebracht, denen man nur schwer oder gar nicht entkommen kann, wie z. B.
Folter, langanhaltende häusliche Gewalt oder wiederholter körperlicher oder
sexueller Missbrauch in der Kindheit, sowie die chronischen Schmerzsyndrome, die
erstmals in einem Kapitel (MG30) zusammengefasst worden sind ( [Abb. 2] ) [7]
[9]
[10] .
Abb. 2 Chronische Schmerzsyndrome in der ICD-10 German Modification
(-GM) sowie ICD-11 (Abb. basiert auf Daten aus [7]
[8] ).
Neu sind ferner das Kapitel 26 „Ergänzendes Kapitel für Zustände der Traditionellen
Medizin“ sowie Kapitel V „Ergänzender Abschnitt für die Einschätzung der
Funktionsfähigkeit“ [7] . Um hier eine
Übereinstimmung mit der ICF, der Internationalen Klassifikation der
Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit zu gewährleisten, wurde die ICF in
die ICD-11 Maintenance Plattform übernommen (für Beispiel Intentionale
Kommunikation, siehe [Abb. 3] ) [11] .
Abb. 3 Umsetzung der Verlinkung mit anderen Kodierungssystemen in der
ICD-11 (vs. ICD-10 und ICF) am Beispiel Intentionale Kommunikation (Abb.
basiert auf Daten aus [7]
[8]
[11]
[12]
[13] ).
Ebenfalls neu ist das Kapitel X „Zusatzkodes“. Mit den Zusatzkodes können Stammkodes
der ICD-11 detaillierter beschrieben werden – zum Beispiel hinsichtlich der
anatomischen Lokalisation. Es ist auch möglich, dem Stammcode assoziierte
Informationen – zum Beispiel über Folgeerkrankungen – anzufügen. Die ICD-11 ist
hinsichtlich ihrer diagnostischen Breite ideal für den fachärztlichen Bereich.
Wichtig ist ihre Interoperabilität zu den medizinischen Terminologien in der Klinik
wie SNOMED CT (siehe Beispiel Aortenaneurysma, [Abb. 4] ) [14] sowie der
Primärversorgung (ICPC-3) [15] .
Abb. 4 Beispiel Aortenaneurysma aus SNOMED CT – ICD-11
Harmonisierung, (Abb. basiert auf Daten aus [7]
[16] ). Das SNOMED CT-Konzept
„Aneurysma der thorakalen Aorta“ ist mit dem ICD11-Kode BD50.3Z abgeglichen
(„Aneurysma der Aorta thoracica, nicht näher bezeichnet“).
Stand der Implementierung in Deutschland
Stand der Implementierung in Deutschland
Die ICD-11 ist formal seit dem 1. Januar 2022 einsetzbar, auch in Deutschland. Bis
sie in der Versorgung ankommt, wird es aber noch ein paar Jahre dauern. Eine
wichtige Deadline für die Implementierung der ICD-11 nicht nur in Deutschland, ist
das Jahr 2027: Ab dann sollten Todesfälle ICD-11-kodiert an die WHO übermittelt
werden. In Deutschland gibt es die ICD-11 seit Februar 2022 als deutsche Übersetzung
[7] . Der Erstübersetzungsprozess ist
weitgehend abgeschlossen ( [Abb. 5] ),
die Qualitätssicherung durch die wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften
läuft noch weiter.
Abb. 5 Stand der Übersetzung der ICD-11 ins Deutsche.
Für einen möglichst reibungsfreien Umstieg auf die ICD-11 hat eine vom
Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderte Umstiegsanalyse stattgefunden,
deren Ergebnisse aktuell in der AG ICD-11 des Kuratoriums für Fragen der
Klassifikation im Gesundheitswesen (KKG) beraten werden. Zentrale Empfehlungen für
die jetzt anstehende Umstiegsplanung sind
-
Die Verfügbarkeit der ICD-11 auf Deutsch zu gewährleisten,
-
Eine bidirektionale Überleitung zwischen ICD-10-GM und ICD-11 zu
erstellen,
-
Weitere spezifische Umstiegsanalysen und prospektive Studien zu initiieren
und
-
Eine Roadmap zur Einführung der ICD-11 in Deutschland zu erstellen.
Chancen der ICD-11 aus Sicht von Forschung und Industrie
Chancen der ICD-11 aus Sicht von Forschung und Industrie
Die Fortschritte, die die ICD-11 für die Versorgungsforschung potenziell bringen
kann, lassen sich am besten mit Beispielen illustrieren. Eine typische
Versorgungsforschungsfrage im Bereich der Rheumatologie lautet: „Wie genau ist die
medikamentöse Versorgung bei Rheumatoider Arthritis (RA) in der Population der
GKV-Versicherten?“ Für diese Frage ist es u. a. wichtig, zu unterscheiden, ob es
sich um eine seropositive oder seronegative RA handelt bzw. ob der Serostatus
überhaupt bekannt ist. Es wäre interessant, zu wissen, wie sich die Medikation im
Hinblick auf unterschiedliche Manifestationsorte der RA gestaltet und ob und wie sie
mit Folgeerkrankungen der RA zusammenhängt. Die Möglichkeiten, die die ICD-10 für
diese Analysen bietet, sind begrenzt. Zum einen kennt die ICD-10 zwar die
seropositive chronische Polyarthritis, die seronegative RA taucht jedoch erst viel
später in der Hierarchie und nur als Unterpunkt der 'sonstigen chronischen
Polyarthritis' auf [8] . Im Alltag wird
sie daher kaum kodiert [17] . Die ICD-11
bietet hier eine klarere Struktur und ermöglicht es zudem, mit Hilfe von X-Kodes die
Lokalisation zu spezifizieren und mit Hilfe eines Schrägstrichs Begleiterkrankungen
zu verknüpfen, die als assoziiert mit der RA anzusehen sind [7] . So beschreibt der ICD-11-Kode
FA20.0&XA86T5 eine seropositive RA, bei der die Metacarpophalangeal-Gelenke
betroffen sind. Und FA20.0&XA86T5/CB05.1 würde signalisieren, dass zusätzlich eine
mit der RA assoziierte, interstitielle Lungenerkrankung vorliegt. Die ICD-10 würde
die Kodierung einer interstitiellen Lungenerkrankung dagegen nur als parallelen Kode
erlauben, ohne dass die ursächliche Verknüpfung mit der RA transparent würde [8] .
Das Beispiel zeigt, dass die ICD-11 eine Kodierung auf einer Detailebene erlaubt, die
für die Versorgungsforschung einen gewaltigen Schritt nach vorn bedeuten würde. Es
zeigt aber auch, wie komplex die ICD-11 sein kann und wie groß entsprechend der
Bedarf nach Lösungen ist, die die Anwenderkreise in den behandelnden Einrichtungen
bei der Dokumentation am Point-of-Care – gerade auch in digitaler Form –
unterstützen. Eine Anwendung der ICD-11 kann praktisch nur noch im Rahmen digitaler
Anwendungen empfohlen werden. Aber genau hierfür wurde dir ICD-11 ja auch
entwickelt.
Aus Sicht der Gesundheitsindustrie stellen sich die Vorteile der ICD-11 im Vergleich
zur ICD-10 ähnlich dar wie aus Sicht der Versorgungsforschung. Relevante
Fragestellungen für Arzneimittelentwicklung und Arzneimittelvertrieb sind zumindest
bei einigen Erkrankungen auf Basis von ICD-10-Daten bzw. konventionellen
Abrechnungsdaten kaum zu beantworten. So ließ sich beispielsweise bei Erwachsenen
mit Lungenkrebs auf Basis von deutschen Krankenkassendatensätzen in lediglich 25%
der Fälle eindeutig klären, ob es sich um ein kleinzelliges oder nicht-kleinzelliges
Lungenkarzinom handelte, und diese Quote wurde auch nur erreicht, wenn zusätzlich
zur ICD-10-Kodierung noch die Medikation ausgewertet wurde [18] . Zudem würde eine ICD-11-basierte
Kodierung die Evidenzgrundlage für die Berechnung der Gesamtzahl der Betroffenen im
AMNOG transparent und nachvollziehbar machen und die Planbarkeit erheblich
verbessern helfen.
Chancen aus Sicht der medizinischen Versorgung
Chancen aus Sicht der medizinischen Versorgung
Nicht nur die Forschung profitiert von der ICD-11, sondern auch die unmittelbare
Versorgung der Betroffenen. Ein wichtiger Fortschritt sind hier die beiden neu
aufgenommenen Kapitel „Schlaf-Wach-Störungen“ und „Zustände mit Bezug zur sexuellen
Gesundheit“. Es ist vielen nicht bewusst, aber Klassifikationen können einen sehr
unmittelbaren Einfluss darauf haben, wie bestimmte Erkrankungen in einem
Versorgungsystem wahrgenommen werden. Im Fall der Schlaf-Wach-Störungen und der
Zustände mit Bezug zur sexuellen Gesundheit führte das bisher dazu, dass
Erkrankungen aus diesen Bereichen häufig nicht die Beachtung erfahren, die sie
verdienen.
Verdeutlichen lässt sich dies an der Insomnie, einer Erkrankung, die rund 6% der
erwachsenen Bevölkerung betrifft [19]
[20] . Die chronische Form dieser
Erkrankung, die chronische Insomnie, ist charakterisiert durch Einschlaf- und/oder
Durchschlafstörungen mindestens dreimal pro Woche über mindestens drei Monate, die
mit einem signifikanten Leidensdruck und/oder Beeinträchtigung am Tag einhergehen.
Die Klassifizierung der Insomnie als eigenständige Erkrankung erfolgte erstmals im
DSM-5 (engl. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) im Jahre 2013
[21]
[22] und wurde in der ICSD-3
(International Classification of Sleep Disorders) übernommen [23] . Davor galt die Insomnie nicht als
eigene Erkrankung, sondern wurde größtenteils als Symptom anderer Erkrankungen
gesehen oder als Befindlichkeitsstörung abgetan. In der ICD-10 werden
Kurzzeitinsomnien im Kapitel VI „Krankheiten des Nervensystems“ als „Episodische und
paroxysmale Krankheiten des Nervensystems“ abgebildet. Hingegen wird die chronische
Insomnie, wie andere Schlafstörungen, im Kapitel V „Psychische und
Verhaltensstörungen“ eingruppiert. Entsprechend erhalten Patienten bei der Kodierung
eine F-Diagnose, konkret F51.0 „Nichtorganische Schlafstörung“ ( [Abb. 1] ) [8] .
Diese Eingruppierung als F-Diagnose ist deswegen problematisch, weil mit ihr eine
Stigmatisierung der Betroffenen als „psychisch erkrankt“ einhergeht. Die Folge von
Angst vor Stigmatisierung ist, dass die chronische Insomnie im Zweifel gar nicht
erst kodiert wird. Dass das tatsächlich passiert, illustriert der Gesundheitsreport
der Krankenkasse Barmer aus dem Jahr 2019 [24] . Dort konstatieren die Forschenden eine starke Divergenz zwischen
der Häufigkeit berichteter Schlafprobleme und der tatsächlichen Dokumentation dieser
Probleme in Form einer ärztlichen F51.0-Diagnose: Nur etwa jede vierte Person, die
über relevante Ein- und Durchschlafstörungen berichtete, hatte in dieser
Untersuchung auch eine ärztliche Diagnose erhalten [24] . Ob aber neue Systematik mit
eigenständigem Kapitel „Schlaf-Wach-Störungen“ eine Verhaltensänderung katalysieren
hilft, wird nur die Zeit zeigen können.
Das ist wissenschaftlich unbefriedigend, weil die chronische Insomnie dadurch in
Statistiken systematisch unterrepräsentiert ist. Es ist aber auch aus
Versorgungssicht hochproblematisch, weil nur bei adäquater Kodierbarkeit eine
formale Diagnose vorliegt, auf deren Basis dann geeignete und vor allem
erstattungsfähige Therapien eingeleitet werden können. Die ICD-11 wird bei
chronischen Insomnien also zu mehr Sichtbarkeit und auf diesem Weg indirekt zu einer
besseren Therapierbarkeit beitragen. Analoges gilt für die Gendermedizin [25] , die Missbrauchsproblematik [9]
[10] , aber auch die Schmerzmedizin [26] .
Die Perspektive der Betroffenen
Die Perspektive der Betroffenen
Das Beispiel der chronischen Insomnie zeigt, dass Kodierung nicht nur ein abstraktes
Abrechnungs- und Versorgungsforschungsthema ist, sondern unmittelbare Relevanz für
Menschen mit Erkrankungen und deren Umfeld, also die Betroffenen besitzen kann. Ein
anderes Beispiel, anhand dessen sich das verdeutlichen lässt, sind die derzeit rund
8000 bekannten Seltenen Erkrankungen, von denen in der ICD-10 lediglich etwa 500 als
eigene Kodes abgebildet sind [8] . Auch
hier wird die ICD-11 zu größerer Sichtbarkeit führen [7]
[27]
[28] , allein schon dadurch, dass – auch
bedingt durch die vorgesehenen regelmäßigen Aktualisierungen – mehr Erkrankungen
künftig kodierbar werden, damit zum einen in den allgemeinen Statistiken erscheinen,
zum anderen besser für Versorgungsforschung zugänglich werden.
Speziell bei Seltenen Erkrankungen geht es aber nicht nur um Sichtbarkeit, sondern
auch um patientenrelevante Aspekte wie eine zeitnahe, akkurate Diagnosestellung und
eine bedarfsgerechte, therapeutische und pflegerische Versorgung auf
unterschiedlichen Ebenen. Im unmittelbaren Versorgungskontext ist dabei oft gar
nicht so sehr die ICD-Diagnose relevant als vielmehr eine adäquate Aufarbeitung von,
je nach diagnostischem oder therapeutischem Kontext, Symptomen und/oder
Funktionseinschränkungen. Daher sieht der 2013 durch das Nationale Aktionsbündnis
für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) veröffentlichte Nationale Aktionsplan
als Maßnahme 19 die Kodierung Seltener Erkrankungen mittels Orpha-Kennnummern vor
und als Maßnahme 20 ein webbasiertes Diagnosetool für Primärversorger. Hieran
schloss sich von 2013 bis 2019 ein nationales Projekt „Kodierung von Seltenen
Erkrankungen“ an, in dem der nicht-klassifizierende Diagnosekode Alpha-ID, der 2005
basierend auf der ICD-10 in Deutschland eingeführt worden war [29] , um Orpha-Kennnummern ergänzt wurde.
2019 entschied der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) mit Beschluss zu den Zuschüssen
für Zentren für Seltene Erkrankungen [30]
, dass die Kodierung mit Alpha-ID und Orphakode (Alpha-ID-SE) [31] eine Qualitätsanforderung ist. Mit dem
Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz [32] wurde dann die Alpha-ID-SE Kodierung
stationär ab 2023 verpflichtend. Dies ist ein großer Erfolg für den Bereich der
Seltenen Erkrankungen. Allerdings besteht weiterhin keine Verpflichtung zum Kodieren
im ambulanten Bereich, und auch in den Kliniken ist die Medizinische Dokumentation
und das Kodieren nicht miteinander gekoppelt, was eine sehr heterogene Struktur zur
Folge hat. Erschwerend kommt hinzu, dass Kliniken unterschiedliche Software für
einzelne Komponenten (z. B. patient administration system/ clinical workplace
system/ medical coding software) benutzen, und dass die bisherige ICD-10-GM [8] weiterhin als Grundlage für die
Abrechnung mittels German Diagnostic Related Groups (G-DRGs) [33] und statistische Zwecke dient. Auch
handelt es sich bei der Alpha-ID um ein nationales, paralleles System zur ICD, das
ständig erweitert werden muss. Die Erkenntnisse aus der Alpha-ID-SE [31] Einführung im stationären Bereich
können aber als Testlauf für die Umstellung vom ICD-10 auf ICD-11 in Deutschland für
den Bereich der Seltenen Erkrankungen gelten. Ein Kodierungssystem wie die ICD-11,
das Seltene Erkrankungen einerseits weit umfassender abbildet als die ICD-10 und
andererseits eine bessere Verknüpfung von Symptomen, Diagnosen, Funktion und
Begleiterkrankungen ermöglicht, und zudem Grundlage sein kann für Tools zur
symptombezogenen Diagnoseunterstützung oder auch Software-Lösungen, die
therapeutische Pfade digital umsetzen, ist daher von großem Wert. Die Erwartung an
die ICD-11 ist, dass sich diese künftig leichter in unterschiedliche
Versorgungskontexte implementieren lässt. Von besonderer Bedeutung im Hinblick auf
die Seltenen Erkrankungen ist hier die Weiterentwicklung der Kodierung in die
Primärversorgung. Denn es ist die Versorgung vor Ort, die den Weg zu den derzeit 35
Zentren für Seltene Erkrankungen mit ihren Spezialambulanzen bahnen muss und die im
Verlauf bei der Koordination der Versorgung eine wichtige Rolle einnimmt. Daher
erscheint die Umstellung auf ein einheitliches, standardisiertes System über die
Sektorengrenzen hinweg geboten. Diese Chance bietet die ICD-11.
Die Perspektive der Kostenträger
Die Perspektive der Kostenträger
Aus Kostenträgersicht ist die Migration aus einer ICD-10-Welt in eine ICD-11-Welt
nicht zuletzt deswegen eine große Herausforderung, weil ICD-Kodes im deutschen
Gesundheitswesen in großem Umfang für Zwecke der Steuerung und der Vergütung genutzt
werden. Am offensichtlichsten und bekanntesten ist das bei der stationären
Abrechnung über G-DRGs, die sich praktisch komplett auf die ICD-Kodierung verlässt
[33] . Weniger präsent in der
öffentlichen Wahrnehmung ist, dass ICD-kodierte Erkrankungen auch dem
Risikostrukturausgleich der Krankenkassen im Gesundheitsfonds [34] zugrunde liegen. Entsprechend führen
Veränderungen bei der Kodierung unter Umständen zu relevanten Verlagerungen von
Geldströmen auf unterschiedlichen Ebenen, mit denen das System dann umgehen muss -
nicht unlösbar, aber im Hinblick auf Umstiegsplanungen und ICD-11-Roadmaps
frühzeitig zu beachten.
Die große Chance der ICD-11 aus Sicht der Kostenträger liegt in den besseren
Differenzierungsmöglichkeiten in vielen Bereichen: Eine genauere Kodierung
erleichtert nicht nur, wie oben gesehen, die Versorgungsforschung, sondern natürlich
auch die Ressourcenallokation und Ausgabensteuerung mit dem Ziel einer verbesserten
Versorgung über die Sektoren hinweg. Gleichzeitig liegt hier aber auch eines der
größten Risiken: Die Potenziale der ICD-11 werden ungenutzt bleiben, wenn es nicht
gelingt, eine Kodierung in der nötigen Qualität und Tiefe auch wirklich zu
erreichen. Anreize für die Anwendenden, und insbesondere ärztliche Fachpersonen,
sich mit der ICD-11 intensiv zu befassen, fehlen derzeit. Im ungünstigsten Fall
droht bei einem schlecht exekutierten Umstieg sogar eine Verschlechterung der
Kodierungsqualität mit dann erheblichen Folgen an vielen Stellen des Systems. Dem
gilt es, aktiv und mittels digitaler Hilfen entgegenzusteuern.
Einige Handlungsfelder
Klar scheint, dass es angesichts der Komplexität des Übergangs von einem alten auf
ein neues Klassifikationssystem ratsam ist, sich frühzeitig mit den
Herausforderungen einer solchen Migration zu befassen. Es gilt, mögliche Hindernisse
zu identifizieren, die zu Verzögerungen bei der Implementierung der ICD-11 führen
könnten. Die Potenziale der ICD-11 können nur genutzt werden, wenn die Umstellung zu
einer detaillierteren, qualitativ hochwertigeren Dokumentationsqualität führt. Als
Herausforderungen – auch für die Versorgungsforschung – sind insbesondere die Latenz
von Einführung und gleichförmiger Nutzung sowie die erforderliche Änderung von
Kodiergewohnheiten zu sehen. Es ist zu fragen, wie die ICD-11 und somit die
gezieltere Kodierung zu einer besseren Versorgung über die Sektoren hinweg beitragen
kann, denn bei den wenigen Erkrankungen, bei denen auch schon in der ICD-10 eine
Verschlüsselung der Erkrankungsschwere möglich ist (z. B. Stadium gemäß der New York
Heart Association (NYHA) bei Herzinsuffizienz oder Stadium der Niereninsuffizienz),
wird diese im ambulanten Bereich in weniger als der Hälfte der Fälle genutzt [35] . Stattdessen wird oft ‚nicht näher
klassifiziert‘ kodiert. Hierzu ist jedoch anzumerken, dass im ambulanten Bereich –
im Gegensatz zum Krankenhaus [33] – keine
Verknüpfung der ICD-Kodierung mit der Vergütung besteht.
Daher sollen abschließend einige Handlungsfelder skizziert werden, die zu bearbeiten
bzw. intensiver zu diskutieren ratsam erscheint. Damit sollte jetzt begonnen werden,
auch wenn die geforderte Implementierung für Mortalität qua WHO-Assembly-Beschluss
bis 2027 im Moment noch hinreichend weit entfernt erscheinen mag. Wie in vielen
anderen Bereichen wird sich vorausschauendes Handeln auch hier auszahlen und es wird
helfen, in einem derzeit ohnehin dynamischen regulatorischen Umfeld zeit- und
kostenintensive Schleifen zu vermeiden.
-
Gemeinsames Verständnis bei allen Akteuren herstellen
Im Idealfall verständigen sich alle Akteure des Gesundheitswesens darauf,
den Umstieg auf die ICD-11 dazu zu nutzen, die Dokumentation im deutschen
Gesundheitswesen nachhaltig voranzubringen. Auch die ambulante Versorgung,
sowie die Ambulante Spezialfachärztliche Versorgung (ASV) sind hier
einzubeziehen. Dass eine solche Verständigung gelingt, ist keineswegs
selbstverständlich. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die sogenannte
‚Krokodilbiss-Debatte‘ [36] bei
Einführung der ICD-10 und an die Diskussionen im Zusammenhang mit der
Einführung von Kodier-Richtlinien in der vertragsärztlichen Versorgung [36] . Klar ist, dass ein
gemeinsames Verständnis, selbst wenn es erreicht würde, nicht ausreicht.
Aber es wäre eine gute Basis für alle weitergehenden Maßnahmen.
-
Digitale Einbettung frühzeitig planen
Ein zentraler Erfolgsfaktor für eine ICD-11-Implementierung, die über das
Kodieren der für die Abrechnung zwingend erforderlichen Kodes hinausgeht,
ist die digitale Einbettung der Kodierung in die Informationssysteme von
Arztpraxen und Krankenhäusern. Diese muss über das Anbieten eines reinen
Thesaurus hinausgehen. Stattdessen sollten aus der Standarddokumentation
möglichst automatisiert Kodierungsvorschläge abgeleitet werden, die dann von
den Anwendenden nur noch bestätigt oder dezent ergänzt werden müssen.
Letztlich wird es nur mit einer solchen technischen Umsetzung gelingen,
dauerhafte Akzeptanz für eine „tiefe“, qualitativ hochwertige
ICD-11-Kodierung zu erreichen, die alle Möglichkeiten nutzt, die die ICD-11
mit Blick auf Forschung, Qualitätssicherung und Patientensteuerung bietet.
Ein Selbstläufer wird die Implementierung entsprechender Tools nicht. Zudem
muss diese technische Umsetzung auch den Ansatz „Dokumentiere nur einmal für
alle Anwendungszwecke“ verfolgen und somit die ICD-11 im Ökosystem der
Kodiersysteme für verschiedene Anwendungsfälle eingebettet werden.
-
Über Anreizsysteme nachdenken
Der Anreiz für die Einführung der ICD-11 zum einen durch die Vorteile der
neuen, aktuellen und modernen Klassifikation selbst kommen, die für die
Anwendenden alleine durch die Verwendung einen Vorteil bringt, zum anderen
durch die gelungene Einbettung in IT-Systemen im Zusammenspiel mit anderen
Kodiersystemen wie SNOMED CT ( [Abb.
4] ) [16] , so dass die
Anwendenden idealerweise den Umstieg bzw. das Kodieren nicht als Last
empfinden oder es sogar gar nicht merken. So könnte es gelingen, dass die
große Mehrheit der Kodierenden den Nutzen einer hochwertigeren Kodierung als
erheblich einstuft, was herkömmlichen Anreizsystemen vorzuziehen wäre.
-
Fachgesellschaften stärker einbinden
Handlungsbedarf besteht insbesondere bei der Einbindung der
Fachgesellschaften und deren Dachverband, der Arbeitsgemeinschaft der
Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF).
Fachgesellschaften müssen bei der Qualitätssicherung der ICD-11 und deren
Übersetzung mitwirken, ein Prozess, der bereits läuft und der vom BfArM
koordiniert wird. Sie sind aber darüber hinaus auch wichtige Ansprechpartner
für die Implementierung der ICD-11, zumal in Zeiten, in denen die Definition
von (letztlich ICD-10/11-basierten) Qualitätsindikatoren und ihre
automatisierte Analyse zunehmend versorgungspolitische Bedeutung gewinnt.
Besonders wichtig ist die Rolle der AWMF auch im Hinblick auf die
Leitlinien, und hier insbesondere die Nationalen Versorgungsleitlinien und
das Onkologische Leitlinienprogramm von Deutscher Krebsgesellschaft,
Deutscher Krebshilfe und AWMF [37]
, die in der Ärzteschaft das Bewusstsein für die Umstellung bahnen helfen
können. Aber auch der G-BA ist hier im Hinblick auf die
Disease-Management-Programme [38]
sowie die Ambulante Spezialfachärztliche Versorgung [39] gefragt.
-
Regulatorischen Rahmen auf ICD-11-Kompatibilität prüfen
Stichwort Politik: Generell sollte die ICD-11 bei anstehenden Reformen schon heute
mitgedacht werden, um zu verhindern, dass Fakten geschaffen werden, die im Zuge der
ICD-11-Einführung wieder revidiert werden müssen. Das betrifft zum einen Vorhaben im
Bereich Digitalisierung wie die Neujustierung der elektronischen Patientenakte (ePA)
ab Anfang 2025 [40] . Um die ICD-11
reibungslos in das Ökosystem der Kodiersysteme der ePA einzupassen, ist eine
Harmonisierung mit weiteren Kodiersystemen nötig. Hier ist z. B. SNOMED CT [16] als umfangreichste internationale
Gesundheitsterminologie zu nennen. Um den Anwendenden keine Mehrfachkodierung
aufzubürden, ist auch für die ePA der Grundsatz „Dokumentiere nur einmal für alle
Anwendungszwecke“ ein wichtiges Ziel. Auch international wird diese gemeinsame
Verwendung von Kodiersystemen gefordert, wie aus einer Stellungnahme bei der letzten
World Health Assembly im May 2023 ersichtlich wird [41] . Es betrifft aber auch
digitalisierungsfernere Gesetzesvorhaben wie die Krankenhausreform, bei denen ein
zukünftiger Übergang auf die ICD-11 zumindest angedacht werden könnte. Ein weiteres
Beispiel ist das gesundheitspolitisch schon seit den Nullerjahren virulente Thema
der Present-on-Admission-Indikatoren [42]
. Sie dienen der Unterscheidung von bei Einweisung schon bestehenden von im
Krankenhaus erworbenen Diagnosen und sind u. a. für die Bewertung von
Komplikationsraten bzw. zur Risikoeinschätzung stationärer Fallkollektive relevant.
Auch hier stellt sich die Frage, wie mit diesem mehrfach verschobenen und deswegen
aus Sicht einiger Beteiligter mittlerweile relativ prioritären Thema angesichts des
absehbaren Übergangs von der ICD-10 zur ICD-11 umzugehen ist. Es erscheint
einerseits nicht zielführend, dieses wichtige Element auf die ICD-11 „zu
verschieben“, da es ohnehin schon viel zu lange aufgeschoben wurde. Andererseits ist
klar, dass der Übergang auf die ICD-11 Auswirkungen auf diese Indikatoren haben
wird, was zumindest planerisch berücksichtigt werden sollte.
Fazit
Die Einführung der ICD-11 kann für das deutsche Gesundheitswesen auf mehreren Ebenen
eine große Chance sein. Zum einen kann sie zu einer deutlich detaillierteren
Kodierung führen, die eine entsprechend umfassendere Nutzung der Daten ermöglicht.
Zum anderen wird durch die ICD-11 der Erkrankungskatalog an mehreren Stellen
modernisiert. Erkrankungen, die bisher gar nicht in der ICD auftauchen, darunter
viele Seltene Erkrankungen, werden künftig im regulären System abbildbar und
kodierbar. Zusätzlich erhalten Schlaf-Wach-Störungen und Störungen der sexuellen
Gesundheit eigene Oberkapitel und verlieren dadurch das Stigma, das ihnen bisher
aufgrund der historisch bedingten Eingliederung als F-Diagnosen anhaftete.
Um die medizinischen, wissenschaftlichen und versorgungspolitischen Potenziale der
ICD-11 zu heben, sollte dem Thema auf Ebene der Gesundheitspolitik, der
Fachgesellschaften, der Aufsichtsbehörden und auch der Softwareindustrie hohe
Priorität eingeräumt werden. Mit Blick auf das vorgesehene, späteste
Einführungs-Datum für Mortalität 2027 ist zu eruieren, welche Maßnahmen in welcher
Reihenfolge zu ergreifen sind, um am Point-of-Care von Anfang an eine möglichst
unkomplizierte Kodierung zu gewährleisten, die im besten Fall auch von den
Anwendenden selbst als ein Fortschritt, und nicht als erneute zusätzliche
bürokratische Zumutung, empfunden wird, die dazu beiträgt, dass im deutschen
Gesundheitssystem die Ressourcen sinnvoll alloziert werden können und somit auch
zukünftig eine Versorgung im Sinne der Betroffenen und ihres sozialen Umfeldes
gewährleistet ist.