Psychiatr Prax 2024; 51(06): 298-299
DOI: 10.1055/a-2320-7750
Debatte: Pro & Kontra

Krankenhauspsychiatrie in der Krise – ist konsequente Ambulantisierung die Lösung? – Kontra

Thomas Pollmächer
 

Nicht die Krankenhauspsychiatrie allein ist in einer Krise, sondern die gesamte medizinische und psychosoziale Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Es sind zumindest drei unterschiedliche Ursachen, die hierfür verantwortlich sind: Da ist zum einen die stetig zunehmende Inanspruchnahme von Leistungen, zum zweiten ist es der Mangel an Fachkräften vor dem Hintergrund des demographischen Wandels, vor allem von Pflegepersonen, Ärztinnen und Ärzten [1], und schließlich ist es die zunehmende Verknappung finanzieller Ressourcen.

In dieser Situation ist der Ruf nach Effizienzsteigerung verständlich und legitim. Und vielen, insbesondere den Kostenträgern[1], gilt die Ambulantisierung als das probateste Mittel zur möglichst sparsamen Mittelverwendung getreu dem sozialrechtlichen Slogan „ambulant vor stationär“. Allerdings sollte nicht vergessen werden, dass der ursprüngliche Impetus der Psychiatrie Enquete der 1970er Jahre zur Stärkung der ambulanten Versorgung nicht gesundheitsökonomischer, sondern fachlicher Natur war. Es ging vor allem um eine bessere Versorgung durch die Enthospitalisierung chronisch kranker Menschen und den Aufbau einer inklusiven Gemeindepsychiatrie.[2]

Leider geht die simple Gleichung nicht auf, dass Ambulantisierung zu einer gleichwertigen oder gar effektiveren Behandlung bei niedrigeren Kosten führt. Ohne Frage ist zum Beispiel die stationsäquivalente Behandlung (StäB) im häuslichen Umfeld für bestimmte Patienten der vollstationären Behandlung vorzuziehen, kostengünstiger ist StäB aber nicht und auch nicht unbedingt kosteneffizienter [2]. Insbesondere der personelle Aufwand ist groß und je weiter die Anfahrtswege gerade in ländlichen Versorgungsgebieten werden, umso geringer wird aufgrund der immensen Fahrzeiten die Effizienz des Personaleinsatzes. In vielen Fällen sind dann tagesklinische Angebote die bessere Lösung, insbesondere wenn gut erreichbare, dezentrale Tageskliniken vorhanden sind.

Letztere sollten im Übrigen auch zu den ambulanten Angeboten gezählt werden, weil auch während einer tagesklinischen Behandlung der Patient weiter im häuslichen Umfeld wohnt. Insofern sollte zukünftig der Begriff „stationär“ nur für die tatsächliche vollstationäre Behandlung Verwendung finden, während alle anderen durch das Krankenhaus bereitgestellten Versorgungsformen dem Wesen nach entweder aufsuchende oder nicht-aufsuchende ambulante Angebote sind.

Das fachliche und gesundheitsökonomische Potential dieser ambulanten Behandlungsangebote ist groß. Allerdings kann es nur dann voll ausgeschöpft werden, wenn alle Angebote des Krankenhauses einschließlich der stationären Behandlung im Einzelfall bedarfsgerecht und entsprechend der tatsächlich vorhandenen Ressourcen dynamisch eingesetzt werden können. Nicht Ambulantisierung um jeden Preis, sondern Flexibilisierung der Behandlung sollte der entscheidende Beitrag der Krankennhäuser zur Lösung der gegenwärtigen Krise sein. Um diese Flexibilisierung zu ermöglichen, bedarf es einer Veränderung der Strukturen, der Prozesse und der Finanzierung der Krankenhausbehandlung, die unnötige Schnittstellen zwischen vollstationärer, teilstationärer, stationsäquivalenter und ambulanter Behandlung beseitigt. Auch kurzfristige, dem aktuellen Bedarf des Patienten angepasste Wechsel des Settings und der Behandlungsintensität müssen unter Beibehaltung der Beziehungskontinuität, mit einheitlicher Dokumentation und ohne immer neue Aufnahme- und Entlassprozeduren möglich sein, die heutzutage noch mit hohem administrativem Aufwand unterschiedliche Vergütungsmodalitäten triggern. Auch wenn der Weg dahin noch weit ist, so scheint selbst in der Politik die Notwendigkeit entsprechender Reformen mittlerweile verstanden worden zu sein, wie die Empfehlungen der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung zeigen (siehe hierzu [3]).

Wie eingangs erwähnt, geht die Krise aber deutlich über die Krankenhauspsychiatrie hinaus. Im Bereich der kassenärztlichen Versorgung stehen die Ärzte für Psychiatrie und Psychotherapie vor denselben demographischen Herausforderungen wie die Krankenhausärzte. Der Bereich der nicht-ärztlichen Psychotherapeutinnen hingegen hat zwar keinerlei Nachwuchssorgen, die stetig wachsende Zahl dieser ambulanten Leistungserbringer nimmt aber an der Akut- und Notfallversorgung praktisch nicht Teil und widersetzt sich berufspolitisch äußerst erfolgreich allen Versuchen die Ressourcen in Richtung von Menschen mit schweren und chronischen psychischen Erkrankungen zu steuern. Dass dies bisher nicht gelingt, ist ein besonders schmerzlicher Beleg für die negativen Auswirkungen der strengen sektoralen Trennung des deutschen Gesundheitswesens in Krankenhäuser und die kassenärztliche Versorgung gerade für den Bereich der psychischen Gesundheit.

In dieser Situation ist es vollkommen unverständlich, dass der gemeinsame Bundesausschuss (GBA) diese sektoralen Grenzen weiter zementiert, indem er sich gegen die Übernahme eines fachlich und gesundheitsökonomisch erfolgreichen Modells zur schweregradgestuften, evidenzbasierten, sektorübergreifenden und koordinierte Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen (RECOVER) in die Regelversorgung ausspricht. Stattdessen empfiehlt der GBA ggf. (!) Elemente dieses Ansatzes in eine auf den kassenärztlichen Sektor zentrierte Versorgungsform basierend auf der sog. KSVPsych-Richtlinie zu übernehmen.[3]

Solche Ansätze sind zu kurz gesprungen, wie auch ein kürzlich von der DGPPN veröffentlichtes Positionspapier[4] nahelegt. In diesem Papier wird gefordert, die psychiatrische Versorgung zukünftig durch ein gestuftes und sektorübergreifendes Versorgungssystem sicherzustellen, welches auf einer regionalen Versorgungsverpflichtung aller Leistungserbringer – auch solcher im kassenärztlichen Bereich und außerhalb des SGB V – fußt.

Auf die Eingangsfrage zurückkommend ist Ambulantisierung nicht die Lösung für die Krise, aber ambulante und aufsuchende Leistungen des Krankenhauses sind ein wichtiger Aspekt der notwendigen Flexibilisierung der Behandlung durch das Krankenhaus, als Teil eines regional orientierten sektorübergreifenden Versorgungskonzepts. Ein solches Versorgungskonzept wird effizienter sein, als das gegenwärtig stark segmentierte, und dadurch auch die Folgen des fortschreitenden Mangels an Fachkräften etwas lindern. Dennoch werden in Zukunft aktive Priorisierung und vielleicht auch eine Rationierung von Gesundheitsleistungen zugunsten besonders schwer und chronisch kranker Menschen mit einer psychiatrischen Erkrankung notwendig werden, die diese Leistung nicht lautstark einfordern können.


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Autor

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Thomas Pollmächer

Interessenkonflikt

Der Autor ist Mitglied und war viele Jahre lang Vorsitzender der Bundesdirektorenkonferenz. Aktuell ist er Vorstandsmitglied der DGPPN. Er vertritt hier allerdings seine persönliche Position.

1 https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/service_1/publikationen/20230718_Positionspapier_PsychiatrischeKrankenhausversorgung_barrierefrei.pdf


2 https://dserver.bundestag.de/btd/07/042/0704200.pdf


3 https://innovationsfonds.g-ba.de/downloads/beschluss-dokumente/406/2023-04-05_RECOVER.pdf


4 https://dgppn.de/schwerpunkte/versorgung/versorgungsmodell-pdf.html


  • Literatur

  • 1 Cohrs S, Pehlke JR, Jordan W. et al. Dramatische Veränderungen der Altersstruktur bei Fachärzten im Bereich psychischer Gesundheit. Nervenarzt 2022; 93: 695-705
  • 2 Längle G, Raschmann S, Holzke M. Stationsäquivalente Behandlung: Rechtliche und organisatorische Rahmenbedingungen. Nervenheilkunde 2020; 39: 704-710
  • 3 Spießl H, Zink M, Zwanger P. Die (nahe) Zukunft der psychiatrischen Kliniken in Deutschland. Psychiat Prax. 51. 63-65

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Thomas Pollmächer
Zentrum für psychische Gesundheit
Klinikum Ingolstadt
Krumenauerstraße 25
85049 Ingolstadt, Deutschland

Publication History

Article published online:
12 September 2024

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Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Cohrs S, Pehlke JR, Jordan W. et al. Dramatische Veränderungen der Altersstruktur bei Fachärzten im Bereich psychischer Gesundheit. Nervenarzt 2022; 93: 695-705
  • 2 Längle G, Raschmann S, Holzke M. Stationsäquivalente Behandlung: Rechtliche und organisatorische Rahmenbedingungen. Nervenheilkunde 2020; 39: 704-710
  • 3 Spießl H, Zink M, Zwanger P. Die (nahe) Zukunft der psychiatrischen Kliniken in Deutschland. Psychiat Prax. 51. 63-65

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Thomas Pollmächer