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DOI: 10.1055/a-2320-7685
Krankenhauspsychiatrie in der Krise – ist konsequente Ambulantisierung die Lösung? – Pro
Pro
Deutschland hat traditionell viele Krankenhausbetten: Mit einer Bettenzahl von 776 Betten je 100.000 Einwohner im Jahr 2021liegt Deutschland nach wie vor weit über dem internationalen und europäischen Durchschnitt [1] – und dies umfasst insbesondere auch psychiatrische Kliniken. Bemühungen, diese hohe Zahl an Krankenhausbetten zu reduzieren, sind mit vielfältigen Widerständen konfrontiert: Örtliche Bevölkerung, Beschäftigte, Träger von Kliniken, Lokalpolitiker sowie andere Stakeholder vermögen für Krankenhausbetten zu „kämpfen“. Die letzte große Krankenhausreform haben wir im Spannungsfeld zwischen Ländern und Bund zerrieben gesehen.
Zugleich erleben wir eine Krise nicht nur der Krankenhauspsychiatrie, sondern der Gesundheitsversorgung insgesamt. Jeder, der aktuell versucht hat, einen Facharzttermin oder eine Krankenhausbehandlung für sich oder einen Angehörigen zu organisieren, kann davon ein Lied singen: Monatelange Wartezeiten selbst für Privatversicherte, personell unterbesetzte, überfüllte Notaufnahmen, eine Vielzahl von geschlossenen Betten in Kliniken und eine gefühlte Abwärtsspirale der Krankenversorgung vielerorts, nach dem Motto: „Ich will doch nicht der Letzte sein, der hier das Licht ausschaltet“. Die beiden Diskutanten haben die 60 auch schon überschritten, und absehbar wird in 10 Jahren ein großer Teil der heute im Krankenhaus Tätigen dann nicht mehr erwerbstätig sein, mit unklarer Perspektive auf Nachfolge durch den zahlenmäßig in jedem Fall zunehmend geringeren Nachwuchs.
Aus dieser Gemengelage gibt es zwei Argumentationslinien, warum die konsequente Ambulantisierung gerade im Bereich Psychiatrie und Psychotherapie sinnvoll und notwendig ist: Zum einen werden wir die gewohnten Krankenhausstrukturen längerfristig nicht aufrechterhalten. Zum zweiten verbessert sich aber durch Ambulantisierung die Qualität der Versorgung.
Eine psychiatrische Station mit 20 Betten zu betreiben, braucht 20 Pflegekräfte oder mehr für den Einsatz rund um die Uhr und insgesamt über 30 Vollkräfte Personal, durch die PPP-RL genau festgelegt auf bestimmte Berufsgruppen und Beschäftigungsquoten. Tageskliniken, stationsäquivalente Behandlungen oder Ambulanzen kommen naturgemäß mit geringeren Personalzahlen aus oder sie sind im Personaleinsatz flexibler: Eine nicht besetzte Pflegestelle kann dann ohne Qualitätsverlust ggf. auch z. B. von einer Ergotherapeutin ausgefüllt werden, da Tätigkeitsbereiche außerhalb der stationären Versorgung in relevantem Maße überlappen. Der Einsatz von Personal wird also effektiver, wenn ambulantisiert wird. Mit der raren Ressource Personal wird dann pfleglicher umgegangen [2].
Zum anderen ist es so, dass Patientinnen und Patienten eine Versorgung im häuslichen Umfeld der stationären Versorgung vorziehen – zumindest in der Regel. Die Ergebnisse des Innofondprojekts AkTiV belegen, dass stationsäquivalente Behandlung (StäB) genauso wirksam und besser akzeptiert ist als vollstationäre Behandlung im Krankenhaus [3]. Ähnliche Befunde gibt es aus der Vielzahl von Modellprojekten im Rahmen des §64b SGB V: Zuhause-Behandlung wird präferiert [4]. Wer von uns würde, wenn er die Wahl hat, im vertrauten Umfeld zuhause zu verbleiben oder ins Krankenhaus zu gehen, nicht in der Regel daheimbleiben, wenn die Versorgung vergleichbar ist? Als der Erstautor dieses Artikels vor vielen Jahren die Leitung eines Sozialpsychiatrischen Dienstes übernommen hatte, welcher am Gesundheitsamt angesiedelt und Teil der Pflichtversorgung war, hat er selbst erlebt, welche Konstellationen und Bedarfe gut zu Hause zu betreuen waren, ohne dass Menschen in die Klinik kommen mussten. Klinikpsychiater und -psychiaterinnen haben hier oft einen auf ihren Funktionsbereich eingeengten Blick und sehen Behandlungsnotwendigkeiten und Behandlungsverfahren sehr stark auf die Klinik fokussiert. Tatsächlich ist es aber so, dass die Lebenswelt der Menschen außerhalb der Klinik liegt und dass die Behandlung im Sinne des unmittelbaren Transfers von Therapieinhalten und -ergebnissen in den eigenen Sozial- und Lebensraum besser und nachhaltiger gelingt, wenn die Menschen tatsächlich zu Hause behandelt werden. Ganz eindrücklich ist dies aus dem Bereich der stationsäquivalenten Behandlung von Eltern, insbesondere Müttern mit jungen Kindern bekannt, die, wenn das soziale Netz ausreichend gut ist, es regelhaft vorziehen für die Behandlung zuhause zu bleiben, und dieses Setting auch klar spezialisierten Mutter-Kind-Einheiten gegenüber bevorzugen [5].
Ambulant zu behandeln – und dazu zählen wir hier alle Formen, bei denen Patienten und Patientinnen zuhause behandelt werden (also auch StäB und intensive aufsuchende ambulante Behandlung) - bedeutet also einen pfleglicheren, auf die jeweilige Behandlung zielgenauer abgestimmten Umgang mit der Ressource Mitarbeitende. Auch andere Ressourcen werden besser eingesetzt. Der Investitionsstau von Gebäuden ist dann weniger drängend. Durch die Digitalisierung wird der Prozess organisatorisch unterstützt. Darüber hinaus werden insbesondere ältere Menschen, die in ihrer Mobilität und in der inneren Flexibilität, sich auf neue Umgebungen einzustellen eingeschränkt sind, in einer alternden Gesellschaft durch aufsuchende Hilfe besser betreut. Zum anderen verbessert sich die Qualität der Versorgung, da im persönlichen Lebensumfeld den individuellen Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen und ihrer Angehörigen oft besser entsprochen werden kann. Überbelegung und daraus resultierender Stress für alle Beteiligten sowie sich daraus ergebende Notwendigkeiten, Zwang und Gewalt einzusetzen werden geringer. Ist es vielleicht sogar unter menschenrechtlichen Aspekten geboten, ambulante Behandlung dann bevorzugt anzubieten, wenn das möglich ist? Die Behandlungsqualität wird in der Regel keinesfalls schlechter.
Gibt es also im Kontext dieser Diskussion auch Grenzen der Ambulantisierung? Die gibt es ohne Zweifel: Es gibt Gefahrensituationen (akute Suizidalität, Desorientierung), es gibt somatische Begleiterscheinungen (Intoxikationen, instabile körperliche Erkrankung), es gibt häusliche Konstellationen (häusliche Gewalt bei Frauen), die stationäre Behandlung zumindest für kurze Zeiträume nahelegen [2]. Es gibt auch Therapiekonzepte und Therapiedichten (z. B. intensive verhaltenstherapeutische Spezialprogramme), die dafürsprechen, insbesondere zu Beginn der Therapie oder in bestimmten Intervallen stationär oder zumindest teilstationär zu behandeln. Es wäre also vermessen zu behaupten, dass wir die stationäre Psychiatrie komplett abschaffen könnten und nur noch ambulant behandeln. Wir können aber mit Sicherheit einen relevanten Anteil der Betten in Deutschland reduzieren und damit auf eine Bettenmessziffer kommen, die 20 – 30% unter der liegen könnte, die wir heute haben. Für das Personal, das momentan in der stationären Versorgung gebunden ist, würden variationsreiche Einsatzmöglichkeiten in unterschiedlichen Behandlungssettings und dadurch attraktivere und interessantere Arbeitsplätze entstehen. Die wachsende Zahl von Modellvorhaben nach §64b SGB V, die gerade deutschlandweit entsteht, mit ihren flexibel settingübergreifend und personenzentriert organisierten Behandlungsansätzen ist hierfür ein gutes Beispiel [6].
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Literatur
- 1 OECD. Healthcare Resources: Hospital beds by function of healthcare. Im Internet https://stats.oecd.org/index.aspx?queryid=30183; Stand: 03.05.2024
- 2 Lang A, Klocke L, Menzel S. et al. Wann funktioniert StäB (nicht)? Eine qualitative, multiperspektivische Erhebung zu Faktoren, die den Erfolg einer stationsäquivalenten Behandlung (StäB) beeinträchtigen können. Psychiatr Prax 2024; Online ahead of print
- 3 Längle G, Raschmann S, Heinsch A. et al. Stößt die Behandlung zu Hause auf größere Zufriedenheit? Ergebnisse zur Zufriedenheit der an der Behandlung beteiligten Personengruppen im Rahmen der multizentrischen AKtiV-Studie. Psychiatr Prax 2024; 51: 202-208
- 4 Schwarz J, Ignatyev Y, Baum F. et al. Settingübergreifende Behandlung in der Psychiatrie: Umsetzung spezifischer Versorgungsmerkmale an Kliniken der Modell- und Regelversorgung (PsychCare-Studie). Nervenarzt 2022; 93: 476-482
- 5 Boyens J, Hamann J, Ketisch E. et al. Vom Reißbrett in die Praxis – Wie funktioniert stationsäquivalente Behandlung in München?. Psychiatr Prax 2021; 48: 269-272
- 6 Deister A, Michels R. Vom Modell zur Regionalen Regelversorgung Langfristige Effekte eines Regionalen Budgets. Psychiatr Prax 2022; 49: 237-247
Publication History
Article published online:
12 September 2024
© 2024. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart,
Germany
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Literatur
- 1 OECD. Healthcare Resources: Hospital beds by function of healthcare. Im Internet https://stats.oecd.org/index.aspx?queryid=30183; Stand: 03.05.2024
- 2 Lang A, Klocke L, Menzel S. et al. Wann funktioniert StäB (nicht)? Eine qualitative, multiperspektivische Erhebung zu Faktoren, die den Erfolg einer stationsäquivalenten Behandlung (StäB) beeinträchtigen können. Psychiatr Prax 2024; Online ahead of print
- 3 Längle G, Raschmann S, Heinsch A. et al. Stößt die Behandlung zu Hause auf größere Zufriedenheit? Ergebnisse zur Zufriedenheit der an der Behandlung beteiligten Personengruppen im Rahmen der multizentrischen AKtiV-Studie. Psychiatr Prax 2024; 51: 202-208
- 4 Schwarz J, Ignatyev Y, Baum F. et al. Settingübergreifende Behandlung in der Psychiatrie: Umsetzung spezifischer Versorgungsmerkmale an Kliniken der Modell- und Regelversorgung (PsychCare-Studie). Nervenarzt 2022; 93: 476-482
- 5 Boyens J, Hamann J, Ketisch E. et al. Vom Reißbrett in die Praxis – Wie funktioniert stationsäquivalente Behandlung in München?. Psychiatr Prax 2021; 48: 269-272
- 6 Deister A, Michels R. Vom Modell zur Regionalen Regelversorgung Langfristige Effekte eines Regionalen Budgets. Psychiatr Prax 2022; 49: 237-247



