Transversale Reduktionsdefekte
Klassifikation
Die Entwicklungsstörungen einzelner Extremitätenabschnitte können systematisch nach
Swanson klassifiziert werden, wobei mittlerweile auch komplexere Klassifikationen
vorgeschlagen wurden [1 ]
[2 ]
[3 ].
Unter dem Begriff Peromelie werden transversale Reduktionsdefekte im Bereich der Gliedmaßen, insbesondere der oberen Extremität zusammengefasst [4 ]. Die obere Extremität ist hierbei nur unvollständig angelegt, wobei die Höhe des
Defekts variieren kann, und beispielsweise die Hand, den Unterarm oder den ganzen
Arm betreffen kann, wobei letzteres als Amelie bezeichnet wird ([Abb. 1 ]).
Abb. 1 Terminale transversale Reduktionsdefekte, Daten nach Girsch et al. [4 ].
Prävalenz
Im europäischen Fehlbildungsregister EUROCAT (European network of population-based
registries for the epidemiological surveillance of congenital anomalies) ist für die
Jahre 2011–2021 die Prävalenz aller transversaler Reduktionsdefekte insgesamt mit
0,41–0,99 pro 10 000 Geburten dokumentiert ([Tab. 1 ]).
Tab. 1
Prävalenz transversaler Reduktionsdefekte der Extremitäten pro 10 000 Geburten im
Zeitraum 2001–2021 (ohne genetische Anomalien), Daten aus EUROCAT (https://eu-rd-platform.jrc.ec.europa.eu/eurocat/eurocat-data_en ).
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
2018
2019
2020
2021
Alle Fälle
0,64
0,48
0,58
0,41
0,54
0,64
0,46
0,47
0,64
0,41
0,99
Lebend- und Totgeburten ≥ 20 SSW
0,37
0,26
0,37
0,18
0,36
0,35
0,23
0,22
0,34
0,16
0,54
Schwangerschaftsabbrüche
0,27
0,22
0,21
0,23
0,19
0,29
0,24
0,25
0,3
0,25
0,45
Sucht man nach Häufigkeitsangaben zur Amelie im Speziellen, lassen sich Prävalenzen
von 0,14–0,24 pro 10 000 und für Lebendgeburten von 0,063 pro 10 000 finden [5 ]
[6 ]. Es handelt sich also durchwegs um seltene Fehlbildungen.
Ätiologie
Embryologisch formieren sich die Extremitätenknospen der oberen Gliedmaßen ungefähr
in der 4. Schwangerschaftswoche und entwickeln sich von proximal nach distal [7 ]. Die Extremitätenknospe enthält mesodermale Zellen, welche sich später zu Muskeln,
Nerven, Blutgefäßen und Knochen differenzieren. Die paarigen primordialen Extremitätenknospen
münden in eine ektodermale Verdichtung, die apikale ektodermale Randleiste (AER).
Die AER setzt die Verlängerung der Extremitätenknospen in proximodistaler Richtung
fort, indem kontinuierlich Fibroblasten-Wachstumsfaktoren (FGF) produziert werden,
wobei eine Vielzahl weiterer Gene in die Extremitätenentwicklung involviert sind [8 ]
[9 ]. Gegen Ende der 8. SSW ist die gesamte obere Extremität geformt und enthält alle
relevanten anatomischen Strukturen wie Knorpel, Gelenke und Weichteile [10 ] ([Abb. 2 ]).
Abb. 2 Entwicklung der Extremitäten in der a) 5. b) 6. und c) 8. SSW, Daten nach [10 ].
Die Ursache der Peromelie ist bislang nicht vollständig geklärt. Es wird aber angenommen,
dass eine Hypoperfusion zur Disruption der Entwicklung der AER führt [11 ]. Dies kann auf vasookklusive Ereignisse und vaskuläre Ursachen wie Thrombosen, Vasospasmen
und Embolien zurückzuführen sein [12 ]
[13 ]
[14 ]. Andere Ätiologien umfassen mütterliche Thrombophilien [15 ], Alpha-Thalassämien [16 ] oder Kokain-Abusus [17 ].
Eine weitere seltene Ursache für Reduktionsdefekte können Amnionstränge („Amnion-Band-Sequenz“)
sein, die einen ursprünglich normal angelegten Körperteil (z. B. Unterarm, Hand oder
Fuß) mechanisch abschnüren und so zu einer Amputation führen [18 ]. Sekundäre Amputationen im Zusammenhang mit Amnionsträngen können nachgeburtlich
üblicherweise gut von den primären Ursachen unterschieden werden.
Sonografische Darstellbarkeit der Extremitäten
Mithilfe von hochauflösenden Ultraschallgeräten und transvaginalen Ultraschallsonden
kann die Entwicklung der Extremitäten bereits in der Frühschwangerschaft verfolgt
und dokumentiert werden. In der frühen fünften Woche der Embryogenese sind die Knospen
der oberen und unteren Gliedmaßen als Ausstülpungen aus der ventrolateralen Körperwand
zu erkennen. Das Wachstum der Extremitätenknospen setzt sich zwischen der fünften
und achten Woche fort, bis die Extremitäten ihre endgültige Form annehmen [10 ].
Die fetalen Extremitäten lassen sich im ersten Trimenon, vor allem mittels transvaginaler
Sonografie, besonders gut darstellen, wobei die 3-dimensionale Darstellung das Vorhandensein
aller 4 Extremitäten auf einem Bild ermöglicht ([Abb. 3 ]).
Abb. 3 Transvaginale 3D-Darstellung des gesamten Fetus mit a.) 10 + 3 SSW und b.) 12 + 2 SSW.
Im Rahmen des formalen differenzierten Ersttrimester-Screenings zwischen 11 + 0 und
13 + 6 SSW können die Extremitäten in der Regel sehr gut auf Vollständigkeit beurteilt
werden, da die Arme und Beine der Feten durch die häufig vorhandene leichte Flexion
der proximalen und die Extension der distalen Gelenke sonografisch gut dargestellt
werden können und das Vorliegen von 3 Segmenten an jeder Extremität dokumentiert werden
kann und soll [19 ]
[20 ]. Des Weiteren sind die Hände meist geöffnet, sodass teilweise sogar die Form und
Anzahl der Finger untersucht werden kann, was für Screening-Zwecke allerdings nicht
erforderlich ist. Selbst bei suboptimalen Schallbedingungen ist aber die Überprüfung
auf Vorhandensein der 3 Segmente der oberen Extremitäten im ersten und frühen zweiten
Trimenon zumeist ausreichend möglich ([Abb. 4 ]).
Abb. 4 Darstellung einer fetalen oberen Extremität mit a) 11 + 6 SSW b) 13 + 5 SSW und c) 16 + 6 SSW bei etwas eingeschränkten Sichtverhältnissen. In Bild c) ist schallwinkelbedingt nur ein Unterarmknochen sichtbar – idealerweise sollten jedoch
beide Knochen dargestellt werden, wie in Bild a) und b) . Wenn dies nicht möglich ist, sollten zusätzliche Ebenen dokumentiert werden, auf
denen das Vorhandensein beider Knochen nachvollzogen werden kann.
Auf diese Weise sind vor allem terminale transversale Reduktionsdefekte, wie die verschiedenen
Formen der Peromelie, bereits im ersten oder frühen zweiten Schwangerschaftsdrittel
gut erkennbar ([Abb. 5 ]).
Abb. 5 Peromelie des linken Unterarms mit 13 + 5 SSW in a.) 2-dimensionaler und b.) 3-dimensionaler Ultraschalldarstellung. Der Oberarmknochen ist vollständig angelegt,
während Elle und Speiche nur rudimentär angelegt sind. Die gelben Sterne zeigen jeweils
die Lokalisation der transversalen Reduktion (Quelle: Prof. Oliver Kagan, Universitätsfrauenklinik
Tübingen).
Auch im Rahmen der Feindiagnostik im zweiten Schwangerschaftsdrittel können die Extremitäten
üblicherweise ausreichend gut dargestellt werden, sodass Reduktionsdefekte, vor allem
wenn sie große Teile der Arme oder der Beine betreffen, erkannt werden können.
Detektionsraten transversaler Reduktionsdefekte der oberen Extremitäten
Wenn Fehlbildungen der Extremitäten gemeinsam mit weiteren schwerwiegenden körperlichen
und genetischen Anomalien auftreten, kann dies häufig bereits im Rahmen von Routineuntersuchungen
vorgeburtlich erkannt werden [21 ]. Reduktionsdefekte der Extremitäten ohne Begleiterkrankungen werden im Rahmen von
Routine-Ultraschalluntersuchungen deutlich seltener erkannt, da häufiger kleinere
Defekte oder einzelne überzählige oder fehlende Finger und Zehen vorhanden sind. Je
nach lokalen Gegebenheiten der teilnehmenden Registerregionen werden laut Daten des
EUROCAT-Registers Reduktionsdefekte nur in etwas mehr als der Hälfte vorgeburtlich
entdeckt, wobei Regionen mit organisiertem Screening 80–90 % erreichen ([Abb. 6 ] ).
Abb. 6 Pränatale Detektionsraten von Reduktionsdefekten der Gliedmaßen (ohne genetische
Anomalien) der verschiedenen Registerregionen des Europäischen Fehlbildungsregisters
EUROCAT im Zeitraum von 2017–2021.
In Studien mit systematischen Screeningprotokollen werden die Detektionsraten transversaler
Reduktionsdefekte im Sinne des kompletten Fehlens von Hand, Arm, Bein oder Fuß mit
100 % angegeben, wobei 75 % der Fälle bereits im ersten Trimenon und 25 % im zweiten
Trimenon erkannt wurden [22 ]
[23 ]
[24 ].
Qualitätsvorgaben für sonografische Screening-Untersuchungen, die Extremitäten betreffend
Empfehlungen und Leitlinien zu den Inhalten, Abläufen und zur Dokumentation sonografischer
Screening-Untersuchungen in der Schwangerschaft wurden von nationalen und internationalen
Fachgesellschaften publiziert [25 ]
[26 ]
[27 ]. So hat auch die DEGUM in diesem Journal zuletzt in den Jahren 2012 und 2016 aktualisierte
Qualitätsanforderungen zur Durchführung der weiterführenden differenzierten pränatalen
Ultraschalluntersuchungen im ersten und zweiten Schwangerschaftsdrittel publiziert
[19 ]
[28 ].
Kürzlich wurde die AWMF-S2e-Leitlinie (085-002) zur „Ersttrimester-Diagnostik und
-Therapie @ 11–13 + 6 Schwangerschaftswochen“ fertiggestellt, die in einer der kommenden
Ausgaben dieses Journals als Kurzfassung veröffentlicht werden wird (https://register.awmf.org/assets/guidelines/085-002l_S2e_Ersttrimester-Diagnostik-Therapie@11-13_6_Schwangerschaftswochen_2024-01_1.pdf ), [20 ].
In der DEGUM-Empfehlung wie auch der AWMF-Leitlinie wird die sonografische Darstellung
der Arme ([Abb. 7 ]) und Beine im Rahmen der Ersttrimester-Sonografie obligatorisch und die Darstellung der Hände und Füße optional gefordert ([Tab. 2 ]) [19 ]
[20 ]. Eine detaillierte Darstellung der Finger und Zehen selbst wird aber nicht gefordert.
Abb. 7 Extremitätendarstellung zum Zeitpunkt des Ersttrimester-Screenings in der 13.+ 0
SSW. In Bild a) sind Details der Hand und des Unterarms sichtbar, in Bild b) sind beide oberen Extremitäten sichtbar.
Tab. 2
Sonografische Standardeinstellungen der fetalen Anatomie- und der optionalen Parameter
im Rahmen des differenzierten Ersttrimester-Screenings zwischen 11 + 0–13 + 6 SSW
[19 ].
Standardparameter
optionale Parameter
Schädel/Gehirn
Kalotte, Falx cerebri, Plexus choroidei
Intrakranielle Transparenz (IT),
Hirnstamm
Gesicht
Profil
Augen, Kiefer, Lippen
Nacken
Nackentransparenz (NT)[1 ]
Nasenbein (NB)[1 ]
Wirbelsäule
Kontur
Herz/Thorax
Lage, Kontur
Vierkammerblick
Lungen
Ausflusstrakte in Farbe
Drei-Gefäß-Trachea-Blick
Trikuspidalklappen-Fluss (TR)[1 ]
Abdomen
Magen
Bauchwand
Zwerchfell
Ductus-venosus-Fluss (DV)[1 ]
NS-Arterien bds. der Harnblase
Extremitäten
Arme und Beine
Hände und Füße
(Femur, Tibia, Fibula, Humerus,
Radius, Ulna)
Urogenitaltrakt
Harnblase
Nieren
Plazenta
Chorionizität, Amnionizität (Mehrlinge), Struktur
Lage,
Ansatz der Nabelschnur
Aa. uterinae[1 ]
Die Feindiagnostik (alternativ auch Organscreening, Fehlbildungsscreening, Detail-Ultraschall
oder Zweittrimester-Screening genannt) bezweckt im Zeitraum zwischen der 18. und der
22. SSW den weitgehenden Ausschluss oder den Nachweis von im Ultraschall erkennbaren
Auffälligkeiten, die auf eine angeborene Erkrankung oder Entwicklungsstörung des Fetus
hinweisen [28 ]. Dazu werden die im Ultraschall darstellbaren Körperstrukturen (= die Sonoanatomie)
des Fetus systematisch untersucht. Um eine entsprechende Qualität zu gewährleisten,
wurden auch hierfür Leitlinien und Empfehlungen publiziert, in denen festgehalten
ist, unter welchen Rahmenbedingungen diese Untersuchungen durchgeführt werden sollen,
was dabei dokumentiert werden muss und wie Schwangere aufzuklären sind [25 ]
[26 ]
[28 ]
[29 ]
[30 ].
Für Österreich wurden im Jahr 2009 von der österreichischen Gesellschaft für Ultraschall
in der Medizin (ÖGUM), der österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe
(OEGGG) und der österreichischen Gesellschaft für Prä- und Perinatale Medizin (ÖGPPM)
Kriterien publiziert, in welchen die bei einem Organscreening zu untersuchenden Parameter
aufgelistet sind [30 ]. Diese decken sich mit den Empfehlungen der DEGUM, welche in diesem Journal publiziert
wurden, wie auch der ISUOG [25 ]
[26 ]
[28 ].
In allen genannten Empfehlungen ist die Untersuchung der fetalen Arme und Beine mit
den langen Röhrenknochen sowie der Hände und Füße obligat gefordert. Die differenzierte Darstellung der Finger und Zehen wird dabei aber nicht
als erforderlich angesehen ([Tab. 3 ]).
Tab. 3
Im Rahmen eines Organscreenings zu überprüfende Ultraschallparameter nach DEGUM und
ÖGUM [28 ]
[30 ].
Kopf
Kontur: Außenkontur (Schädelknochen) in Höhe des Planum frontooccipitale
Innenstrukturen: Hirnseitenventrikel, Plexus choroidei, Cavum septi pellucidi, Kontur
des Cerebellums, Cisterna magna
Gesicht: Profil mit Nasenbein, Orbitae (optional Linsen), Aufsicht Lippen/Nase
Nacken/Hals
Kontur
Wirbelsäule
sagittaler Längsschnitt + Hautkontur über der Wirbelsäule, ggf. ergänzende Transversalschnitte
Thorax
Lungen: Struktur
Herz: Herzfrequenz und -rhythmus, qualitative Einschätzung von Größe, Form und Position
des Herzens, Vierkammerblick, links- und rechtsventrikulärer Ausflusstrakt
Zwerchfell: Kuppelkontur im Sagittalschnitt
Abdomen
Bauchwand: Nabelschnur-Insertion
Leber: Lage und Struktur
Magen: Lage und Größe
Darm: Echogenität, Dilatation
Urogenitaltrakt
Nieren: Lage und Struktur, Nierenbecken
Harnblase: Lage und Form
Extremitäten
Arme und Beine, Hände und Füße (ohne differenzierte Darstellung der Finger und Zehen),
Nachweis der langen Extremitätenknochen: Femur, Tibia, Fibula, Humerus, Radius, Ulna
Eine exakte Befund- und ausreichende Bilddokumentation sind wichtig für die weitere
Betreuung der Schwangerschaft. Sie sind Grundlage für die Qualitätssicherung und -kontrolle
und dienen als Leistungsnachweis wie auch zur forensischen Absicherung des Untersuchers.
Von der DEGUM wurde festgelegt, welche Strukturen bildlich zu dokumentieren sind [28 ] ([Tab. 4 ]).
Tab. 4
im Rahmen des Organscreenings bildlich zu dokumentierende Ultraschallparameter nach
DEGUM und ÖGUM [28 ]
[30 ].
1. Schädel im Planum frontooccipitale
2. Cerebellum
3. Gesichtsprofil mit Nasenbein
4. Orbitae
5. Aufsicht Lippen/Nase
6. Wirbelsäule mit Hautkontur im Sagittalschnitt
7. Herz: 4-Kammerblick
8. Herz: Linksventrikulärer Ausflusstrakt
9. Herz: Rechtsventrikulärer Ausflusstrakt
10. Zwerchfell im Sagittal- oder Frontalschnitt
11. Abdomenquerschnitt (Biometrie-Ebene) mit Magen
12. Fetaler Nabelschnuransatz
13. Nieren beidseits
14. Harnblase
15. Femur und Humerus
16. Tibia und Fibula
17. Radius und Ulna
18. Hände und Füße
19. Plazentasitz
Aktuelle rechtliche Betrachtungsweisen (in erster Linie bezogen auf die österreichische
Judikatur)
Für Aufregung in der Kollegenschaft hat weniger die grundsätzliche Zuerkennung von
Schadenersatz gesorgt, sondern der Umstand, dass nicht bloß der entsprechende Mehraufwand
durch die Behinderung des betroffenen Kindes zugesprochen worden war, sondern die
gesamten Unterhaltskosten des Kindes. Die betroffene Kindesmutter hatte argumentiert,
dass sie bei entsprechender vorgeburtlicher Erkennung in jedem Fall einen Schwangerschaftsabbruch
hätte durchführen lassen und hierfür auch eine Behandlung im Ausland in Kauf genommen
hätte. Der OGH folgte dieser Argumentation und folgerte, dass im Falle des Schwangerschaftsabbruchs
kein Kind vorhanden gewesen wäre und daher auch keine Kosten angefallen wären. Da
nun aber durch die als mangelhaft bewerteten Untersuchungen des Frauenarztes der Schwangerschaftsabbruch
schuldhaft vereitelt worden war, stehe der Kindesmutter ein vollständiger Ersatz aller
Unterhaltskosten zu. Der Unterhaltsanspruch erlischt erst mit Eintritt der Selbsterhaltungsfähigkeit
des Kindes, womit dann auch die Ersatzpflicht hierfür endet.
Diese Rechtsbetrachtung ist keineswegs neu und schon in vergleichbaren „wrongful-birth“-Urteilen
zu finden. Die Rechtsprechung geht grundsätzlich davon aus, dass die Pränataldiagnostik
zur Ermittlung von Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des ungeborenen Kindes
dient und ihr Zweck in der Schwangerenbetreuung auch darin gesehen werden müsse, der
Mutter (den Eltern) im Fall einer erkennbar drohenden schwerwiegenden Behinderung
des Kindes die sachgerechte Entscheidung über einen gesetzlich zulässigen Schwangerschaftsabbruch
zu ermöglichen. Dass in einem solchen Fall die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch
auch wegen der erheblichen finanziellen Aufwendungen für ein behindertes Kind erfolgen
könne, sei „objektiv voraussehbar, sodass unter diesen Umständen auch die finanziellen Interessen
der Mutter (der Eltern) noch vom Schutzzweck des ärztlichen Behandlungsvertrags umfasst
seien “ (aus OGH 3 Ob 9/23 d). Es stehe daher fest, dass es bei pflichtgemäßer Diagnose
und Beratung nicht zur Geburt des Kindes und damit auch zu keiner Unterhaltsbelastung
der Kläger gekommen wäre. Schadenersatzrechtlich könne nur die Situation mit und ohne
Kind verglichen werden. Dies schließe eine Reduktion des Ersatzanspruchs auf den behinderungsbedingten
Unterhaltsmehraufwand aus; zu letzterem könnte man nämlich „nur durch einen Vergleich des behinderten Kindes mit einem – auf einer bloßen Fiktion
beruhenden – gesunden Kind kommen, und eine solche Betrachtungsweise wäre nicht nur
schadenersatzrechtlich verfehlt, sondern ein die Behinderung in den Vordergrund stellender
und insoweit gerade diskriminierender Ansatz “ (aus OGH 3 Ob 9/23 d).
Aufgrund dieser Kausalitätsüberlegungen sei „der Zuspruch des gesamten Unterhaltsaufwands also nicht bloß konsequent, sondern
sogar zwingend: Ansatzpunkt für eine Haftung ist in den „wrongful-birth“-Fällen ja
das Nichterkennen der Behinderung des Fötus bzw. das Unterbleiben einer entsprechenden
Aufklärung der Eltern und nicht etwa die Verursachung der Behinderung. Durch das ärztliche
Verhalten wird nicht die Geburt eines gesunden Kindes verhindert, vielmehr beschränken
sich die elterlichen Alternativen im Fall einer diagnostizierten und aufgeklärten
fetalen Behinderung – abgesehen vom hier nicht vorliegenden Fall eines noch im Mutterleib
behandelbaren Leidens – darauf, das behinderte Kind entweder auf die Welt zu bringen
oder die Schwangerschaft abbrechen zu lassen. Durch das rechtswidrige und schuldhafte
Verhalten des Arztes war es den Eltern allerdings nicht möglich, ihre Entscheidung
im Sinn der zweiten Alternative zu treffen“ (aus OGH 3 Ob 9/23 d).
Es gehe im vorliegenden Zusammenhang in der Argumentation des OGH „auch weder um ein „Recht der Eltern auf ein gesundes Kind“ noch darum, behinderten
Menschen „das Lebensrecht abzusprechen“. Vielmehr ist das Recht der Eltern betroffen,
autonom darüber entscheiden zu können, ob sie erstens überhaupt ein Kind wollen, und
zweitens, ob sie angesichts ihrer gesamten Lebenssituation bereit sind und sich in
der Lage sehen, ein behindertes Kind entsprechend seinen Bedürfnissen aufzuziehen“ (aus OGH 3 Ob 9/23 d).
Der OGH schließt auch den folgenden Satz in die Urteilsbegründung ein: „Sonderrechtliche Lösungen für einen spezifischen, besonders gesellschaftspolitisch
besetzten Rechtsbereich – wie dem vorliegenden – müssen dem Gesetzgeber vorbehalten
bleiben. Zu einer besonderen rechtlichen Behandlung der hier zu lösenden Rechtsfragen
konnte sich der Gesetzgeber bisher nicht entschließen“ (aus OGH 3 Ob 9/23 d). Ob also mit entsprechendem politischen Willen eine Änderung
an der derzeitigen Rechtslage erreicht werden kann, bleibt abzuwarten.
Konsequenzen für Ärztinnen und Ärzte, die Ultraschalluntersuchungen bei Schwangeren
durchführen
In Anbetracht der medial sehr prominent aufbereiteten Urteile und der hohen Schadenersatzleistungen
werden betroffene Eltern zunehmend hinterfragen, ob eine angeborene Fehlbildung ihres
Kindes nicht doch schon vorgeburtlich erkennbar gewesen wäre und ihnen über den Rechtsweg
eine finanzielle Abgeltung ermöglicht werden könnte. Der Trend dazu ist – zumindest
in Österreich – bereits spürbar und dem Autor sind mehrere derartige Klagen bekannt.
Diese sind zwar häufig unbegründet und werden letztlich abgewiesen, sind aber trotzdem
mehr als unangenehm für die betroffenen Ärztinnen und Ärzte. Einige Klagen sind jedoch
aus gutachterlicher Sicht durchaus nachvollziehbar, da die durchgeführte Untersuchung
die oben angeführten, hohen fachlichen Voraussetzungen (entsprechend Stufe II) nicht
erfüllten und auch die sonstigen Qualitätskriterien eines formalen Organscreenings
außer Acht ließen. Teilweise offenbarten sich deutliche Sorgfaltsmängel und ein sorgloser
Umgang mit der Dokumentation und Aufklärung. Dabei wurden die Feten entweder nicht
leitlinienkonform systematisch und vollständig untersucht bzw. lagen keine Bilddokumente
und keine schriftlichen Befunde vor oder es bestand kein entsprechender Befähigungsnachweis
des/der Durchführenden. Gerichte sind wesentlich von medizinischen Fachgutachtern
abhängig, deren Aufgabe es ist, zu beurteilen, ob eine angeborene Fehlbildung überhaupt
pränatal erkennbar gewesen wäre, ob die Untersuchungen mit der gebotenen Sorgfalt
und entsprechend den vorliegenden Standards erfolgt sind und ob sich eine medizinische
Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch ergeben hätte. Um dies zu beurteilen,
ist allerdings eine lückenlose ärztliche Dokumentation als Beurteilungsgrundlage unbedingt
notwendig. Kein Gutachter kann ein für die Untersucher entlastendes Gutachten verfassen,
wenn keine Bilder oder sonstigen Dokumente vorliegen, welche die Vollständigkeit und
technisch adäquate Durchführung der Untersuchung nachweisen. Gerade die Bildarchivierung
sollte in Zeiten der Digitalisierung keine technische oder finanzielle Herausforderung
mehr sein.
Wie im obigen Abschnitt erwähnt, ist die Rechtslage eindeutig. Wer die geforderten
formalen Kriterien nicht erfüllen kann, soll keine differenzierten Screening-Untersuchungen
anbieten. Wer immer Ultraschall durchführt und vorgibt, die Anatomie des Fetus zu
beurteilen, wird rechtlich für die Vollständigkeit und lege-artis-Durchführung der
Untersuchung haftbar gemacht werden. Die Zeiten, in denen manche Ärzte aus kommerziellen
Überlegungen spitzfindige Formulierungen wie „Organcheck“ oder „Organschall“ als Abgrenzung
zum differenzierten Organscreening verwendet und unzulängliche Untersuchungen durchgeführt
haben, sind wohl vorbei. Können die erforderlichen Standards nicht erbracht werden,
muss die Schwangere an Untersucher zugewiesen werden, die den Standard erfüllen können
[28 ]
[29 ]
[31 ]
[32 ]. Das 3-Stufen-Konzept der ÖGUM-DEGUM-SGUM trägt diesen Qualitätsunterschieden Rechnung.
Natürlich besteht auch bei sorgfältigster Durchführung einer Untersuchung – selbst
für entsprechend ausgebildete und qualifizierte Untersucherinnen und Untersucher –
ein Risiko für das Nichterkennen. Darüber muss auch gesondert und schriftlich aufgeklärt
werden [28 ]. Um ein Übersehen fehlender Extremitäten(-teile) zu vermeiden, ist es zwingend notwendig,
beide Seiten sorgfältig zu untersuchen. Hilfreich kann eine Querschnittseinstellung
sein, um beide Arme oder Beine in eine Schnittebene zu bringen ([Abb. 7b ]) – oder auch ein Videoclip mit Schwenk von einer zur anderen Seite, um so nachzuweisen,
dass zum Zeitpunkt der Untersuchung beide oberen und unteren Extremitäten vorhanden
waren. Gerade im ersten Schwangerschaftsdrittel kann auch eine 3D-Darstellung das
Vorhandensein der vollständigen 4 Extremitäten auf einem Bild nachweisen. Insgesamt
ist es essenziell, systematisch vorzugehen und entsprechende Checklisten abzuarbeiten,
um auch an langen Arbeitstagen mit vielen hintereinander stattfindenden Untersuchungen
keine Fehler zu begehen. Hilfreich ist die regelmäßige Durchsicht aller gespeicherter
Bilder vor Abschluss der Untersuchung, das (schriftliche) Abhaken von bereits gesehenen
Strukturen oder das Beiziehen einer Hilfsperson, welche auf Vollständigkeit der Untersuchung
achtet. Moderne Ultraschallgeräte bieten die Möglichkeit, dies direkt am Gerät durchzuführen
oder bereits semiautomatisiert zu erstellen. Erst wenn alle zu prüfenden Strukturen
sicher und eindeutig gesehen und dokumentiert wurden, darf eine Screening-Untersuchung
als abgeschlossen gelten. Notfalls muss die Schwangere zu einem späteren Zeitpunkt
wiederbestellt werden.
Fazit:
Transversale Reduktionsdefekte der oberen Extremitäten sind selten.
Das Vorhandensein von Armen, Beinen, Händen und Füßen ist im Rahmen differenzierter
systematischer Untersuchungen im ersten und zweiten Schwangerschaftsdrittel zu dokumentieren.
Ein komplettes Fehlen von Armen, Beinen, Händen oder Füßen ist durch sorgfältige Screening-Untersuchungen
praktisch immer erkennbar. Die detaillierte Untersuchung von Fingern oder Zehen wird
hingegen nicht gefordert, weshalb ein Übersehen von Finger- oder Zehen-Anomalien (z. B.
Polydaktylie oder Fehlen einzelner Finger) nicht als sorgfaltswidrig angesehen werden
kann.
Ärztinnen und Ärzte, die Screening-Untersuchungen durchführen, unterliegen einem hohen
haftungsrechtlichen Druck. Um diesem Druck zu begegnen und den Erfordernissen gerecht
zu werden, müssen zusammengefasst die folgenden Punkte beachtet werden:
Hohes Niveau der Ultraschalluntersuchungen, ständige Weiterbildung, Rezertifizierung
von Qualifikationsnachweisen entsprechend der DEGUM-Stufe II, Update der eigenen Geräte
und Dokumentation
Leitlinienkonforme Untersuchungen mit exakter Fotodokumentation aller im Ersttrimester-
und im Organscreening geforderten anatomischen Strukturen.
Aufklärung der Schwangeren über Möglichkeiten und Grenzen der angewandten Untersuchungsmethode,
ebenso über allfällige, während einer Untersuchung gesehene Verdachtsmomente, die
eine Wiederholung der Untersuchung oder eine Weiterüberweisung nötig machen.
Disclaimer: der Autor ist als allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger
tätig, war aber in das geschilderte Verfahren in keiner Weise involviert.