Psychiatr Prax 2024; 51(04): 175-177
DOI: 10.1055/a-2266-6881
Editorial

Ambulantisierung der Krankenhauspsychiatrie – es ist an der Zeit

Outpatientization of Hospital Psychiatry – The Time has Come
Martin Driessen
 

Die Deutsche Krankenhauspsychiatrie ist unzweifelhaft noch durch die stationäre Behandlung dominiert. Besonders fällt dies im Vergleich zu fast allen anderen Ländern der EU auf: nach den Daten von Eurostat [1] verfügt Deutschland über 128 psychiatrische Betten pro 100.000 Einwohner und liegt damit weit über dem Durchschnitt (73/100.000) und an der zweithöchsten Stelle des EU-Rankings. Selbst wenn man einige methodische Unschärfen in Rechnung stellt, muss man diesen Befund wohl als Faktum betrachten.


#
Zoom Image
Martin Driessen

Nun ist die stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung nicht per se zu kritisieren, wir benötigen sie für viele Patienten unzweifelhaft, sehr wahrscheinlich auch künftig für mehr als die Hälfte der heute stationär Behandelten. Tageskliniken machen zudem einen nicht unerheblichen Anteil an der Krankenhausversorgung aus, in NRW wird deren Anteil bezogen auf alle voll- und teilstationären Plätze derzeit auf etwa 16% geschätzt [2].

Zielgruppe

Dennoch muss man sich fragen, warum nicht deutlich mehr Kranke, für die ein alternatives, d. h. ambulantes Behandlungssetting infrage kommt, in einem solchen behandelt werden. Dabei sind nicht diejenigen psychisch Kranken gemeint, die bereits heute im ambulanten Setting durch niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten regelbehandelt werden (und leider häufig lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen). Es geht auch nicht um diejenigen psychisch Kranken, die bereits heute in Psychiatrischen Institutsambulanzen versorgt werden und dabei immerhin interprofessionell und etwas intensiver behandelt werden können. Im Folgenden geht es um die bisher (teil)stationär behandelten psychiatrisch-psychotherapeutischen Krankenhauspatienten.


#

Warum mehr Ambulantisierung?

Im Fünften Sozialgesetzbuch (SGB V) gilt die Maßgabe „ambulant vor stationär“ schon sehr lange, und § 39, 1 SGB V beschreibt explizit: „Die Krankenhausbehandlung wird vollstationär, stationsäquivalent, tagesstationär, teilstationär, vor- und nachstationär sowie ambulant erbracht…“. Diese Leitsätze haben aber nicht zu grundsätzlichen Veränderungen der psychiatrischen Krankenhauslandschaft geführt hat.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung im Gesundheitswesen hat bereits 2018 empfohlen, intensiv-ambulante Angebote u. a. in Psychiatrischen Institutsambulanzen (gemäß §118 SGB V) aufzubauen, um die „große Lücke“ zwischen ambulanter fachärztlicher und psychotherapeutischer Regelbehandlung einerseits und (teil)stationärer Behandlung andererseits zu schließen ([3], S. 745–746; 748).

Bei solchen Überlegungen hat die Patientenperspektive selbstverständlich eine große Bedeutung. Überraschenderweise existiert hierzu wenig gesichertes Wissen, wie Schneeberger und Kollegen kürzlich in einer Meta-Analyse berichteten [4]. Es scheint sich aber abzuzeichnen, dass einige Patientengruppen ein ambulantes Behandlungssetting präferieren und alle in die Entscheidung über das Behandlungssetting einbezogen werden möchten.


#

Ausgestaltung und Abgrenzung zu anderen Modellen

Die Frage ist nun, wie genau ein solches intensiv-ambulantes Behandlungsangebot aussehen kann, um tatsächlich (teil)stationäre Behandlung effektiv und effizient vermeiden zu können. Dabei ist zunächst die Frage, welche Einrichtungen geeignet sind, ein solches Angebot zu realisieren. Die Antwort fällt im Deutschen Versorgungssystem eindeutig aus: Es sind die Psychiatrischen Institutsambulanzen (§ 118 SGB V), da sie bereits in allen Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie existieren und somit bereits ein flächendeckendes Versorgungsnetz besteht. Der Arbeitskreis Psychiatrischer Institutsambulanzen hat bereits 2020 im Namen der drei wesentlichen Klinikfachverbände ein Rahmenkonzept für eine Ambulante Intensivbehandlung (AMBI) veröffentlicht und ging dabei davon aus, dass die Patienten während einer Behandlungsepisode einen Behandlungsbedarf an mindestens drei Tagen pro Woche aufweisen [5]. Zahlreiche weitere Aspekte der Behandlung, ihrer Organisation und Finanzierung sind dort dezidiert beschrieben. Zudem bietet das Modell auch die Möglichkeit einer sektorübergreifenden Versorgung mit niedergelassenen Fachärzten.

Immer wieder wird in diesem Zusammenhang die Abgrenzung zur stationsäquivalenten Behandlung (StäB) diskutiert. Zwei Punkte sind hier entscheidend: Zum einen stellt StäB definitionsgemäß eine stationäre Krankenhausbehandlung dar, zum anderen sind die außerordentlich rigiden Vorgaben (z. B. persönliche Kontakte an 7 Tagen pro Woche) mit einer bedarfsangepassten, flexiblen ambulanten Intensivbehandlung nicht vereinbar. Interessant ist der gemeinsame Bericht der Deutschen Krankenhausgesellschaft und des GKV-Spitzenverbands über StäB vom 23.12.2021 [6]. Die separate Schlussbewertung des GKV-Spitzenverbandes geht noch einen Schritt weiter. Hier heißt es: „Die Regelungen zur StäB sind zu streichen und durch eine intensivierte Versorgung in den Psychiatrischen Institutsambulanzen zu ersetzen.“ (Seite 40).

Auch das Modell der Koordinierten und Strukturierten Versorgung (KSV) gemäß § 92 Absatz 6b SGB V kann eine Ambulante Intensivbehandlung durch das Krankenhaus nicht ersetzen. Zwar soll hiermit eine berufsgruppenübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung insbesondere für schwer psychisch erkrankte Versicherte mit einem komplexen psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsbedarf geschaffen werden [7], aber die Zielgruppe sind überwiegend ambulante und nicht krankenhausbedürftige psychisch Kranke. Auch wenn das Modell grundsätzlich zu einer Verbesserung der Versorgung führen kann, sind die Vorgaben derart gestaltet, dass eine flächendeckende Realisierung einer Reduktion von (teil)stationären Behandlungssettings in absehbarer Zeit kaum zu erwarten ist.


#

Bereits existierende Modelle und wesentliche Ergebnisse

Mittlerweile existieren im psychiatrischen Bereich eine ganze Reihe von Modellprojekten nach §64 SGB V, die z.T. auch wissenschaftlich evaluiert wurden. Das bekannteste ist sicher das sogenannte Regionalbudget [8]. Ein guter Überblick wurde kürzlich von Neumann et al. in einer Metaanalyse veröffentlicht [9]. Die Mehrzahl dieser Modellprojekte führen demnach, soweit sie Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie betreffen und sektorübergreifend angelegt sind, zu einem sehr klaren Ergebnis: Es kommt zu einem Abbau stationärer, zu einem Aufbau teilstationärer und zu einem Aufbau ambulanter Behandlungen in den meisten Modellregionen. Bemerkenswerterweise weisen die Evaluationsergebnisse auch darauf hin, dass Behandlungsergebnisse mindestens gleich gut blieben. In einem eigenen ambulant-intensiven Projekt der Integrierten Versorgung bei depressiv Erkrankten (§145a SGB V) konnten wir in einer nicht randomisierten Kontrollgruppenstudie (und daher vorläufig) zeigen, dass die Behandlungsergebnisse einer sechswöchigen ambulanten Intensivbehandlung der stationären Therapie nicht unterlegen waren [10]. Das Hamburger Recover-Projekt wird vom Innovationsfond gefördert und verfolgt eine gesteuerte und koordinierte Versorgung auch schwer erkrankter Patienten [11]. In diesem Projekt werden die Betroffenen bedarfsangepasst deutlich häufiger ambulant als stationär behandelt, erste Ergebnisse scheinen ebenfalls ermutigend.


#

Finanzierungsmodelle

Im sogenannte Regionalbudget und anderen Modellprojekten nach §64b SGB V sind Regelungen getroffen worden, die eine ambulant-intensive statt (teil)stationärer Behandlung ermöglichen. Allerdings bedarf es einer Möglichkeit in der Regelversorgung, um tatsächlich eine flächendeckende Umstrukturierung der Krankenhausversorgung zu ermöglichen. Während die Finanzierung der (teil)stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung in Deutschland grundsätzlich bundeseinheitlich geregelt ist, ist sie für die Psychiatrischen Institutsambulanzen auf Landesebene geregelt. Da sehr unterschiedliche Modelle existieren, lässt sich eine intensiv-ambulante bedarfsangepasste Behandlung derzeit allenfalls – und auch dort nur mit Einschränkungen - abbilden, wo das sogenannte Bayerische Vergütungsmodell eingeführt wurde und auskömmlich finanziert ist. Möglicherweise eröffnet sich ein neuer Weg durch die Erleichterung der Einführung von Regionalbudgets, die Regierungskommission [12] empfiehlt einen Kontrahierungszwang, wenn die Krankenhäuser bereits mit einigen Krankenkassen einen Vertrag geschlossen haben und 25% der Versicherten einer Region eingeschlossen wurden.


#

Zusammenfassend

bleibt zu hoffen, dass die wissenschaftlichen Ergebnisse, die zunehmenden Stimmen aus der Fachpolitik und die Stimmen der Betroffenen dazu führen, auch in Deutschland mehr Ambulantisierung der Krankenhauspsychiatrie im Sinne einer ambulant-intensiven Behandlung zu realisieren, oder mit den Worten von A. Deister: „Wir wollen keine anderen Patienten behandeln – wir wollen unsere Patienten anders behandeln.“ ([8], S. 216).


#
#

Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Univ.-Prof. Dr. Martin Driessen
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Evangelisches Klinikum Bethel gGmbH
Universitätsklinikum OWL der Universität Bielefeld
Remterweg 69–71
D-33617 Bielefeld

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
08. Mai 2024

© 2024. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


Zoom Image
Martin Driessen