Der Mensch steht im Mittelpunkt – das ist, seit den Tagen der Psychiatrie-Enquete,
eine viel beschworene Formel in der Sozial- und Gemeindepsychiatrie.
Tatsächlich stand aber seitdem der Ausbau von Institutionen der psychiatrischen und
psychosozialen Versorgung im Vordergrund. Der Mensch wurde dann entsprechend seiner
individuellen Bedarfe der mehr oder weniger passenden Institution zugeordnet und auf
Zeit dort platziert. Die für den Aufbau der Hilfeangebote notwendigen Gesetze und
Verordnungen hatten als Bezug ebenfalls eher einzelne Angebotsstrukturen und
Institutionen, weniger den konkreten Bedarf des betroffenen Menschen.
Stationäre Angebote standen im klinischen wie im außerklinischen Kontext für
psychisch Kranke und seelisch Behinderte lange Zeit im Vordergrund.
Tagesklinische/tagesstrukturelle und ambulante Angebote wurden eher als ergänzende,
in der Bedeutung untergeordnete Angebote betrachtet. Selbst der Betrieb der für die
Versorgung so wertvollen psychiatrischen Institutsambulanzen (PIAs) wurde in manchen
Ländern über lange Jahre verhindert. Lediglich der Sozialpsychiatrische Dienst mit
seinem aufsuchend-türöffnenden Charakter - und in manchen Bundesländern versehen mit
hoheitlichen Aufgaben - wurde überall in einem gewissen Umfang gefördert.
Wo besondere Angebote für zuführende (z. B. Soziotherapie), pflegerische (z. B.
ambulanter psychiatrischer Pflegedienst APP) oder rehabilitative Maßnahmen (z. B.
RPK-Einrichtungen) sowie in das KV-System integrierte Strukturen (z. B.
sozialpsychiatrische Schwerpunktpraxen oder Netzwerke nach dem Muster der
KSV-Psych-RL) rechtlich ermöglicht wurden, kämpfen die Erbringer der Leistung oft
bis heute mit heftigen Widerständen der jeweiligen Kostenträger, überbordender
Bürokratie und unzureichender Finanzierung.
Dennoch gibt es gute Gründe zu hoffen, dass der Mensch künftig mehr in den
Mittelpunkt rückt. Die Entwicklungen innerhalb des SGB V und des SGB IX, wie sie
bereits im Editorial zum Heft 6/2022 [1] skizziert
wurden, gehören dazu. Inzwischen, nach zwei Jahren mühevollen Verhandelns der
BTHG-Umsetzung, hat sich die Tür für eine personenzentrierte Versorgung im Bereich
des SGB IX weiter geöffnet. Auch bezüglich der Krankenbehandlung nach SGB V ergibt
sich eine unerwartete, wenngleich erhoffte Entwicklung: Nach den positiven
Erfahrungen mit Modellprojekten nach 64b SGB V wird in der 8. Empfehlung der
Regierungskommission vom September 2023 [2] nicht
nur der Wert der ambulanten, tagesklinischen und aufsuchenden Behandlung betont,
sondern die Notwendigkeit einer integrierten, bezüglich der Intensität stufenlos
ineinander überführbaren, Behandlungsstruktur erkannt. Realisiert werden könnte dies
im Rahmen eines einrichtungsspezifischen Globalbudgets mit Kontrahierungszwang. Eine
entsprechende Gesetzesinitiative wurde beim DGPPN-Kongress im November 2023 von den
Autor*innen der Empfehlung als kurzfristig umsetzbar benannt. Vom Grundsatz her
öffnen sich auch die Krankenkassen [3] und
Klinikträger [4] mit entsprechenden
Veröffentlichungen aus 2023 einer solchen Idee - wenngleich mit recht
unterschiedlichen Konkretisierungsvorstellungen.
Was bedeuten diese (neuen) Möglichkeiten nun für die betroffenen psychisch kranken
und seelisch behinderten Menschen?
Ich will das am Fallbeispiel von Frau X. erläutern, einer schwer psychisch kranken
Frau mit herausforderndem Verhalten, die viele als „Systemsprengerin“ oder –
freundlicher - als „Systemprüferin“ bezeichnen würden. Viele von uns kennen
Patient*innen mit vergleichbarem Verlauf.
Ihr Behandlungs- und Betreuungsverlauf zeigt für die letzten Jahre ein schon heute
mögliches personenzentriertes Vorgehen auf, das mit den künftigen Möglichkeiten noch
konsequenter - und vor allem bürokratieärmer - gestaltet werden könnte.
Frau X. ist eine Patientin im vierten Lebensjahrzehnt mit den Diagnosen einer
schweren Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ mit rezidivierenden psychotischen
Episoden, phasenweisem Suchtmittelmissbrauch und chronischer Suizidalität. Bereits
bei der Erstbehandlung in der KJPP mit 15 Jahren wird über schwer herausforderndes
Verhalten mit Selbstverletzung berichtet, eine Symptomatik, die über die Jahre in
wechselnder Intensität immer wieder auftrat. Bei den häufig massiv eigenverletzenden
Handlungen (Intoxikation, Schnittverletzungen, Schlucken von Rasierklingen,
Batterien u.ä.), gelegentlich fremdaggressiven Vorgängen sowie hochriskantem
Verhalten im Straßenverkehr, kam es zu häufigen und langwährenden psychiatrischen
Klinikaufenthalten und zahllosen Notaufnahmen in somatischen Häusern. Stabile
Verhältnisse konnten über die Jahre auch in den unterschiedlichsten Einrichtungen
der Eingliederungshilfe nicht erreicht werden. Die eigene Kündigung aller
Unterstützungsmaßnahmen führte in die Wohnungslosigkeit, daran anschließende erneute
akute Suizidalität und zu erneuten Klinikaufnahmen. Gelegentliche positive Phasen,
in denen Frau X. ihre (vielfältig vorhandenen!) Ressourcen zur Gestaltung ihres
Lebensalltags nutzen konnte, wurden regelmäßig durch schwere Selbstverletzungen oder
fremdgefährdendes Verhalten beendet, letztlich verbunden mit einer immer höheren
Intensität der (stationären) Betreuungsleistung und Einschränkung der eigenen
Verantwortlichkeit. Zuletzt führte es zu einer Unterbringung in einer geschlossen
führbaren besonderen Wohnform der Eingliederungshilfe, ohne daraus resultierende
Besserung der Problemlage.
Versuch eines Neubeginns
Nach völliger Erschöpfung aller beteiligten Personen und Institutionen wurde, nach
intensiver multiprofessioneller und transinstitutioneller Beratung und Einholen
eines Ethikvotums im Einverständnis mit Frau X. sowie der rechtlichen
Betreuungsperson ein grundlegender Kurswechsel vollzogen. Die von Frau X immer
eingeforderte Eigenverantwortlichkeit wurde gestärkt, Frau X. aus dem
geschlossen-stationären in ein Setting des ambulant betreuten Wohnens, in einer
neuen Umgebung und Region ohne die „verbrannte Erde“ der bisherigen
Notfallstrukturen, entlassen.
Vereinbart wurde mit ihr eine feste, vertraute, ärztliche Ansprechpartnerin, egal
ob
die Behandlung gerade in der PIA, Tagesklinik, in stationsäquivalenter Behandlung
(StäB) oder stationär stattfand. In Krisen (z. B. Selbstverletzung,
fremdgefährdendes Verhalten) erfolgte eine maximal 24-stündige Notaufnahme in der
Psychiatrie, mit Vitalkontrolle bei selbstschädigendem Verhalten, keine invasiven
Maßnahmen (entsprechend Krisenvereinbarung), verbunden ggf. mit anschließender StäB
über mehrere Tage in der eigenen Wohnung. Im direkten weiteren Verlauf wurde ggf.
per Verordnung unsere Ergotherapiepraxis sowie der ambulante psychiatrische
Pflegedienst einbezogen. Außerhalb von Krisen fand ein wöchentlicher PIA-Kontakt
statt, phasenweise sogar täglich zur Sicherung einer somatisch notwendigen
Spezialmedikation. Eine flexible Intensität der ABW-Betreuung mit bis zu zwei
Stunden täglich, ein nach eigenem Bedarf gesteuertes Angebot der Tagesstruktur und
nächtliche Rufbereitschaft bildeten die Basisversorgung der sozialen Rehabilitation.
Im Hilfesystem liefen begleitend eine zunächst 14-tätige Fallabstimmung im höchsten
Entscheidungsgremium von Klinik und Gemeindepsychiatrie, oft taggleiche
Abstimmungsprozesse auf Ebene der Chefärztin und ABW-Leitung, verschränkte
Dokumentation sowie bei Bedarf Fallsupervision in den Teams. Die rechtliche
Betreuung wurde eng eingebunden.
In der Folge kam es bei der Patientin / Klientin zu einem Rückgang der Suizidimpulse
und Selbstschädigung, einem zunehmenden Zugang zu eigener Kreativität und mehr
Übernahme von Alltagsverantwortung was eine deutlich verbesserte soziale Teilhabe
zur Folge hatte. Eine medikamentöse Umstellung konnte gemeinsam abgesprochen werden,
Krisen sind nach o.g. Muster handhabbar. Durch massiven Rückgang der stationären
Behandlungstage in psychiatrischen oder somatischen Kliniken und eine im Verlauf
geringere Betreuungsintensität in der sozialen Rehabilitation sank auch der
finanzielle Gesamtaufwand für die Kostenträger deutlich.
Was braucht es also für den Einzelfall?
Entscheidend für diesen Verlauf war u.E. die bedarfsgerechte, taggleiche
Bereitstellung der notwendigen Behandlungs- und Rehabilitationselemente in hoher,
verbindlicher Abstimmung durch alle beteiligten
Therapeut*innen/Betreuungspersonen/rechtliche Betreuung. Hinzu kam die Überbrückung
organisatorischer Grenzen und die gebotene Verbindung von
psychiatrisch-psychotherapeutischen, spezialtherapeutischen, pflegerischen sowie
pädagogisch-psychosozialen Behandlungs-und Betreuungskonzepten der beteiligen
Personen und Institutionen für diesen Einzelfall.
Wenn in dieser abgestimmten Form mit den vorhandenen Ressourcen
patient*innenzentriert „gespielt“ wird, scheint eine personenzentrierte
psychiatrische Komplexbehandlung auch der schwer psychisch Kranken mit
herausfordernden, ggf. fremdgefährdenden Verhaltensweisen möglich – und kann im
Einzelfall evtl. die häufig alternativ drohende Entwicklung hin zu einer
gerichtlichen Zuweisung in die Forensik helfen zu vermeiden.
Ein Vorgehen wie im Fallbespiel wird nicht immer und bei allen Personen in dieser
engen Abstimmung möglich sein. Und wir können auch nicht sicher sein, dass die
Behandlungserfolge bei dieser Patientin nun über Jahre stabil bleiben werden. Aber
wir können entsprechendes Handeln einüben und entwickeln, denn die Strukturen sind
schon da und werden, bei entsprechender politischer Vernunft – für diesen Ansatz
hilfreich – weiter entwickelt.
Für die in der Sozialen Psychiatrie Tätigen erfordert dies die Bereitschaft, die
rechtlich vorhandenen Möglichkeiten und Spielräume aus SGB IX und SGB V vor Ort
durch- und umzusetzen, sich mit den anderen Beteiligten am Versorgungssystem und den
Betroffenen zu verbünden und gemeinsam neue Wege zu gehen, therapeutisch kreativ und
mit administrativer Phantasie.
Die wissenschaftlich aktiven Kolleg*innen sind aufgerufen, diese Prozesse forschend
zu begleiten und damit wichtige Erkenntnisse für das spezifische deutsche
Versorgungssystem zu generieren und zu dessen Fortentwicklung beizutragen.
Der Zeitpunkt für einen solchen Aufbruch in der sozialen Psychiatrie scheint aktuell
so günstig wie lange nicht.