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DOI: 10.1055/a-2252-4020
„Was braucht es für den Einzelfall?“
“What Do We Need for the Individual Case?”Authors
Der Mensch steht im Mittelpunkt – das ist, seit den Tagen der Psychiatrie-Enquete, eine viel beschworene Formel in der Sozial- und Gemeindepsychiatrie.
Tatsächlich stand aber seitdem der Ausbau von Institutionen der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung im Vordergrund. Der Mensch wurde dann entsprechend seiner individuellen Bedarfe der mehr oder weniger passenden Institution zugeordnet und auf Zeit dort platziert. Die für den Aufbau der Hilfeangebote notwendigen Gesetze und Verordnungen hatten als Bezug ebenfalls eher einzelne Angebotsstrukturen und Institutionen, weniger den konkreten Bedarf des betroffenen Menschen.
Stationäre Angebote standen im klinischen wie im außerklinischen Kontext für psychisch Kranke und seelisch Behinderte lange Zeit im Vordergrund. Tagesklinische/tagesstrukturelle und ambulante Angebote wurden eher als ergänzende, in der Bedeutung untergeordnete Angebote betrachtet. Selbst der Betrieb der für die Versorgung so wertvollen psychiatrischen Institutsambulanzen (PIAs) wurde in manchen Ländern über lange Jahre verhindert. Lediglich der Sozialpsychiatrische Dienst mit seinem aufsuchend-türöffnenden Charakter - und in manchen Bundesländern versehen mit hoheitlichen Aufgaben - wurde überall in einem gewissen Umfang gefördert.
Wo besondere Angebote für zuführende (z. B. Soziotherapie), pflegerische (z. B. ambulanter psychiatrischer Pflegedienst APP) oder rehabilitative Maßnahmen (z. B. RPK-Einrichtungen) sowie in das KV-System integrierte Strukturen (z. B. sozialpsychiatrische Schwerpunktpraxen oder Netzwerke nach dem Muster der KSV-Psych-RL) rechtlich ermöglicht wurden, kämpfen die Erbringer der Leistung oft bis heute mit heftigen Widerständen der jeweiligen Kostenträger, überbordender Bürokratie und unzureichender Finanzierung.
Dennoch gibt es gute Gründe zu hoffen, dass der Mensch künftig mehr in den Mittelpunkt rückt. Die Entwicklungen innerhalb des SGB V und des SGB IX, wie sie bereits im Editorial zum Heft 6/2022 [1] skizziert wurden, gehören dazu. Inzwischen, nach zwei Jahren mühevollen Verhandelns der BTHG-Umsetzung, hat sich die Tür für eine personenzentrierte Versorgung im Bereich des SGB IX weiter geöffnet. Auch bezüglich der Krankenbehandlung nach SGB V ergibt sich eine unerwartete, wenngleich erhoffte Entwicklung: Nach den positiven Erfahrungen mit Modellprojekten nach 64b SGB V wird in der 8. Empfehlung der Regierungskommission vom September 2023 [2] nicht nur der Wert der ambulanten, tagesklinischen und aufsuchenden Behandlung betont, sondern die Notwendigkeit einer integrierten, bezüglich der Intensität stufenlos ineinander überführbaren, Behandlungsstruktur erkannt. Realisiert werden könnte dies im Rahmen eines einrichtungsspezifischen Globalbudgets mit Kontrahierungszwang. Eine entsprechende Gesetzesinitiative wurde beim DGPPN-Kongress im November 2023 von den Autor*innen der Empfehlung als kurzfristig umsetzbar benannt. Vom Grundsatz her öffnen sich auch die Krankenkassen [3] und Klinikträger [4] mit entsprechenden Veröffentlichungen aus 2023 einer solchen Idee - wenngleich mit recht unterschiedlichen Konkretisierungsvorstellungen.
Was bedeuten diese (neuen) Möglichkeiten nun für die betroffenen psychisch kranken und seelisch behinderten Menschen?
Ich will das am Fallbeispiel von Frau X. erläutern, einer schwer psychisch kranken Frau mit herausforderndem Verhalten, die viele als „Systemsprengerin“ oder – freundlicher - als „Systemprüferin“ bezeichnen würden. Viele von uns kennen Patient*innen mit vergleichbarem Verlauf.
Ihr Behandlungs- und Betreuungsverlauf zeigt für die letzten Jahre ein schon heute mögliches personenzentriertes Vorgehen auf, das mit den künftigen Möglichkeiten noch konsequenter - und vor allem bürokratieärmer - gestaltet werden könnte.
Frau X. ist eine Patientin im vierten Lebensjahrzehnt mit den Diagnosen einer schweren Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ mit rezidivierenden psychotischen Episoden, phasenweisem Suchtmittelmissbrauch und chronischer Suizidalität. Bereits bei der Erstbehandlung in der KJPP mit 15 Jahren wird über schwer herausforderndes Verhalten mit Selbstverletzung berichtet, eine Symptomatik, die über die Jahre in wechselnder Intensität immer wieder auftrat. Bei den häufig massiv eigenverletzenden Handlungen (Intoxikation, Schnittverletzungen, Schlucken von Rasierklingen, Batterien u.ä.), gelegentlich fremdaggressiven Vorgängen sowie hochriskantem Verhalten im Straßenverkehr, kam es zu häufigen und langwährenden psychiatrischen Klinikaufenthalten und zahllosen Notaufnahmen in somatischen Häusern. Stabile Verhältnisse konnten über die Jahre auch in den unterschiedlichsten Einrichtungen der Eingliederungshilfe nicht erreicht werden. Die eigene Kündigung aller Unterstützungsmaßnahmen führte in die Wohnungslosigkeit, daran anschließende erneute akute Suizidalität und zu erneuten Klinikaufnahmen. Gelegentliche positive Phasen, in denen Frau X. ihre (vielfältig vorhandenen!) Ressourcen zur Gestaltung ihres Lebensalltags nutzen konnte, wurden regelmäßig durch schwere Selbstverletzungen oder fremdgefährdendes Verhalten beendet, letztlich verbunden mit einer immer höheren Intensität der (stationären) Betreuungsleistung und Einschränkung der eigenen Verantwortlichkeit. Zuletzt führte es zu einer Unterbringung in einer geschlossen führbaren besonderen Wohnform der Eingliederungshilfe, ohne daraus resultierende Besserung der Problemlage.
Versuch eines Neubeginns
Nach völliger Erschöpfung aller beteiligten Personen und Institutionen wurde, nach intensiver multiprofessioneller und transinstitutioneller Beratung und Einholen eines Ethikvotums im Einverständnis mit Frau X. sowie der rechtlichen Betreuungsperson ein grundlegender Kurswechsel vollzogen. Die von Frau X immer eingeforderte Eigenverantwortlichkeit wurde gestärkt, Frau X. aus dem geschlossen-stationären in ein Setting des ambulant betreuten Wohnens, in einer neuen Umgebung und Region ohne die „verbrannte Erde“ der bisherigen Notfallstrukturen, entlassen.
Vereinbart wurde mit ihr eine feste, vertraute, ärztliche Ansprechpartnerin, egal ob die Behandlung gerade in der PIA, Tagesklinik, in stationsäquivalenter Behandlung (StäB) oder stationär stattfand. In Krisen (z. B. Selbstverletzung, fremdgefährdendes Verhalten) erfolgte eine maximal 24-stündige Notaufnahme in der Psychiatrie, mit Vitalkontrolle bei selbstschädigendem Verhalten, keine invasiven Maßnahmen (entsprechend Krisenvereinbarung), verbunden ggf. mit anschließender StäB über mehrere Tage in der eigenen Wohnung. Im direkten weiteren Verlauf wurde ggf. per Verordnung unsere Ergotherapiepraxis sowie der ambulante psychiatrische Pflegedienst einbezogen. Außerhalb von Krisen fand ein wöchentlicher PIA-Kontakt statt, phasenweise sogar täglich zur Sicherung einer somatisch notwendigen Spezialmedikation. Eine flexible Intensität der ABW-Betreuung mit bis zu zwei Stunden täglich, ein nach eigenem Bedarf gesteuertes Angebot der Tagesstruktur und nächtliche Rufbereitschaft bildeten die Basisversorgung der sozialen Rehabilitation. Im Hilfesystem liefen begleitend eine zunächst 14-tätige Fallabstimmung im höchsten Entscheidungsgremium von Klinik und Gemeindepsychiatrie, oft taggleiche Abstimmungsprozesse auf Ebene der Chefärztin und ABW-Leitung, verschränkte Dokumentation sowie bei Bedarf Fallsupervision in den Teams. Die rechtliche Betreuung wurde eng eingebunden.
In der Folge kam es bei der Patientin / Klientin zu einem Rückgang der Suizidimpulse und Selbstschädigung, einem zunehmenden Zugang zu eigener Kreativität und mehr Übernahme von Alltagsverantwortung was eine deutlich verbesserte soziale Teilhabe zur Folge hatte. Eine medikamentöse Umstellung konnte gemeinsam abgesprochen werden, Krisen sind nach o.g. Muster handhabbar. Durch massiven Rückgang der stationären Behandlungstage in psychiatrischen oder somatischen Kliniken und eine im Verlauf geringere Betreuungsintensität in der sozialen Rehabilitation sank auch der finanzielle Gesamtaufwand für die Kostenträger deutlich.
Was braucht es also für den Einzelfall?
Entscheidend für diesen Verlauf war u.E. die bedarfsgerechte, taggleiche Bereitstellung der notwendigen Behandlungs- und Rehabilitationselemente in hoher, verbindlicher Abstimmung durch alle beteiligten Therapeut*innen/Betreuungspersonen/rechtliche Betreuung. Hinzu kam die Überbrückung organisatorischer Grenzen und die gebotene Verbindung von psychiatrisch-psychotherapeutischen, spezialtherapeutischen, pflegerischen sowie pädagogisch-psychosozialen Behandlungs-und Betreuungskonzepten der beteiligen Personen und Institutionen für diesen Einzelfall.
Wenn in dieser abgestimmten Form mit den vorhandenen Ressourcen patient*innenzentriert „gespielt“ wird, scheint eine personenzentrierte psychiatrische Komplexbehandlung auch der schwer psychisch Kranken mit herausfordernden, ggf. fremdgefährdenden Verhaltensweisen möglich – und kann im Einzelfall evtl. die häufig alternativ drohende Entwicklung hin zu einer gerichtlichen Zuweisung in die Forensik helfen zu vermeiden.
Ein Vorgehen wie im Fallbespiel wird nicht immer und bei allen Personen in dieser engen Abstimmung möglich sein. Und wir können auch nicht sicher sein, dass die Behandlungserfolge bei dieser Patientin nun über Jahre stabil bleiben werden. Aber wir können entsprechendes Handeln einüben und entwickeln, denn die Strukturen sind schon da und werden, bei entsprechender politischer Vernunft – für diesen Ansatz hilfreich – weiter entwickelt.
Für die in der Sozialen Psychiatrie Tätigen erfordert dies die Bereitschaft, die rechtlich vorhandenen Möglichkeiten und Spielräume aus SGB IX und SGB V vor Ort durch- und umzusetzen, sich mit den anderen Beteiligten am Versorgungssystem und den Betroffenen zu verbünden und gemeinsam neue Wege zu gehen, therapeutisch kreativ und mit administrativer Phantasie.
Die wissenschaftlich aktiven Kolleg*innen sind aufgerufen, diese Prozesse forschend zu begleiten und damit wichtige Erkenntnisse für das spezifische deutsche Versorgungssystem zu generieren und zu dessen Fortentwicklung beizutragen.
Der Zeitpunkt für einen solchen Aufbruch in der sozialen Psychiatrie scheint aktuell so günstig wie lange nicht.
Interessenkonflikt
Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
- 1 Längle G. StäB und die Vision der patientenzentrierten Versorgung. Psychiat Prax 2022; 49: 290-292
- 2 Krankenhauskommission: Achte Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung: Psychiatrie, Psychosomatik und Kinder- und Jugendpsychiatrie („Psych-Fächer“): Reform und Weiterentwicklung der Krankenhausversorgung. Online: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/K/Krankenhausreform/BMG_Stellungnahme_8_Psych-Faecher.pdf Stand: 13.11.2023
- 3 Lehmann G, Schmedders M, Garre P. Weiterentwicklung der psychiatrischen Krankenhausversorgung in Deutschland Positionen der Gesetzlichen Krankenkassen. KU Gesundheitsmangement 2023; 9: 44-46
- 4 Belling R. Die Transformation der psychiatrischen Versorgungslandschaft in den 2020-er Jahren. KU Gesundheitsmanagement 2023; 9: 38-40
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Publication History
Article published online:
15 April 2024
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Germany
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Literatur
- 1 Längle G. StäB und die Vision der patientenzentrierten Versorgung. Psychiat Prax 2022; 49: 290-292
- 2 Krankenhauskommission: Achte Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung: Psychiatrie, Psychosomatik und Kinder- und Jugendpsychiatrie („Psych-Fächer“): Reform und Weiterentwicklung der Krankenhausversorgung. Online: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/K/Krankenhausreform/BMG_Stellungnahme_8_Psych-Faecher.pdf Stand: 13.11.2023
- 3 Lehmann G, Schmedders M, Garre P. Weiterentwicklung der psychiatrischen Krankenhausversorgung in Deutschland Positionen der Gesetzlichen Krankenkassen. KU Gesundheitsmangement 2023; 9: 44-46
- 4 Belling R. Die Transformation der psychiatrischen Versorgungslandschaft in den 2020-er Jahren. KU Gesundheitsmanagement 2023; 9: 38-40

