Schlüsselwörter
ambulante Operation - Tageschirurgie - ambulantes Operieren - Lebensalter - Adenotomie
- Tonsillotomie
Keywords
outpatient surgery - day-case-surgery - ambulatory surgery - age - adenoidectomy -
tonsillotomy
Einleitung
Mit dem trilateralen Vertrag zum ambulanten Operieren zwischen der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Spitzenverband Bund
der Gesetzlichen Krankenversicherungen (https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/krankenversicherung_1/amb_stat_vers/ambulantes_operieren/aop_vertrag_2022_12_21/AOP-Vertrag_21.12.2022.pdf oder: https://www.dkgev.de/themen/finanzierung-leistungskataloge/ambulante-verguetung/ambulantes-operieren-115b-sgb-v/) wurde zum 01.01.2023 ein Katalog von sogenannten Kontextfaktoren eingeführt. Treffen
benannte Kontextfaktoren auf einen Patienten zu, so kann dieser Fall, auch wenn der
Eingriff im AOP-Katalog als ambulant durchzuführen genannt ist, als stationäre Leistung
erbracht werden. Diese Regelung soll eine medizinisch sinnvolle und verantwortungsvolle
Erbringung eines solchen Eingriffs ermöglichen. Ein Fall mit Kontextfaktoren kann
jedoch auch, je nach Einschätzung des erbringenden Arztes, ambulant vorgenommen werden.
Unter den Kontextfaktoren ist unter anderem benannt:
„Bis zur Vollendung des 1. Lebensjahres kann eine stationäre Durchführung einer
Leistung begründet sein.“
Diese Formulierung für sich bedeutet de facto, dass Kinder ab einem Jahr regelhaft
ambulant zu operieren sind.
Der AOP-Vertrag beinhaltet jedoch den sog. Arztvorbehalt in § 2 Abs. 2, wonach der
verantwortliche Arzt jeden individuellen Fall darauf hin prüfen muss, ob eine ambulante
Erbringung medizinisch sachgerecht durchgeführt werden kann.
Text im AOP-Vertrag:
„Der Arzt ist verpflichtet, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob Art und Schwere der
beabsichtigten Leistung unter Berücksichtigung des Gesundheitszustandes des Patienten
die ambulante Durchführung nach den Regeln der ärztlichen Kunst mit den zur Verfügung
stehenden Möglichkeiten erlauben. Zugleich muss sich der verantwortliche Arzt vergewissern
und dafür Sorge tragen, dass der Patient nach Entlassung aus der unmittelbaren Betreuung
des behandelnden Arztes auch im häuslichen Bereich sowohl ärztlich als gegebenenfalls
auch pflegerisch angemessen versorgt wird. Die Entscheidung ist zu dokumentieren.“
Mit dem Bezug auf die „Regeln der ärztlichen Kunst“ wird eine Bedingung eingeführt,
die keine fixierte Norm hat. Betrachtet man die Rechtsprechung im Rahmen von ärztlichen
Haftungsfragen, besteht regelhaft der Verweis auf den „fachärztlichen Standard“, der
sich in einer Synopse aus medizinischen Leitlinien, evtl. vorhandenen Richtlinien,
der wissenschaftlichen Datenlage, Lehrbuchwissen, Inhalten von Fortbildungen und etablierter
klinischer Praxis formt.
Das ärztliche Handeln nach dem AOP-Vertrag muss sich einerseits an die dort formulierten
Bedingungen halten, andererseits muss sich das Handeln auch stets an den Bedingungen
der „ärztlichen Kunst“ bzw. des „fachärztlichen Standards“ unter Haftungsaspekten
orientieren.
Als Entscheidungshilfe für die fallindividuelle Beantwortung der Frage, ob bei einem
Kind in Planung einer Adenotomie und/oder einer Tonsillotomie eine Altersgrenze mit
dem erreichten 1. Lebensjahr in diesem Spannungsfeld verantwortbar ist, sollen in
dieser Stellungnahme aktuelle Erkenntnisse aus Leitlinien und Literatur dargestellt
werden. Da ein wesentlicher Teil der HNO-ärztlichen Kinderoperationen als Adenotomien,
Tonsillotomien und Tonsillektomien geleistet wird, ist die Recherche auf diese Eingriffsarten
eingeschränkt.
Beschreibung der relevanten Eingriffe
Beschreibung der relevanten Eingriffe
Adenotomie
Entfernung der Adenoide/Rachenmandel durch unterschiedliche Verfahren (Cold-Steel-Kürettage,
Microdebrider, elektrisch-thermische Verfahren). Es gibt keine anatomische Kapsel
der Adenoide, sodass von einer weitgehenden, aber nicht kompletten Entfernung des
Adenoidgewebes ausgegangen werden muss. Trotzdem ist im angloamerikanischen Sprachraum
der Begriff „adenoidectomy“ dafür üblich.
Tonsillektomie
Komplette Entfernung der Gaumenmandeln inklusive der fibrösen Kapsel. Die Entfernung
kann durch einfache Dissektion (cold steel) oder durch elektrisch-thermische Verfahren
erfolgen. Der Begriff „extrakapsuläre Tonsillektomie“ ist hierfür üblich. Dieser Eingriff
ist im AOP-Katalog nicht gelistet. In Deutschland wird die Tonsillektomie stationär
durchgeführt
Tonsillotomie
Teilentfernung der Gaumenmandeln unter Belassung der fibrösen Kapsel. Die Ausmaße
der Teilentfernung können sehr unterschiedlich sein. Sie geht von einer partiellen
Entfernung nur der Tonsillenanteile, die über den vorderen und hinteren Gaumenbogen
hervorstehen, unter Belassung substanzieller Anteile der „Tonsillenwurzel“ bis hin
zu einer nahezu kompletten Entfernung des Tonsillengewebes unter Belassen der Kapsel
(„intrakapsuläre Tonsillektomie“). Nach klinischem Wissen steigt die Nachblutungsgefahr,
je mehr Tonsillengewebe entfernt wird, da die Gefäßkaliber zur Kapsel hin größer werden.
Medizinische Leitlinien
Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.
(AWMF) hat Leitlinien zu entzündlichen Erkrankungen der Tonsillen und zur Adenotomie
veröffentlicht.
Die deutsche AWMF-Leitlinie „Therapie entzündlicher Erkrankungen der Gaumenmandeln – Tonsillitis“ ist in der Novellierungsphase. Gültig ist derzeit die Version von 2015 (https://register.awmf.org/assets/guidelines/017-024l_S2k_Tonsillitis_Gaumenmandeln_2015-08-abgelaufen.pdf). Diese AWMF-Leitlinie nimmt zur Frage der ambulanten oder stationären Erbringung
von Tonsillektomie oder Tonsillotomie keine dezidierte Stellung. Insofern ist auch
keine Aussage zu einer Altersgrenze für die ambulante Erbringung getroffen.
Die deutsche AWMF-Leitlinie „Adenoide Vegetationen“ nimmt zur Frage der ambulanten oder stationären Durchführung einer Adenotomie Stellung
(https://register.awmf.org/assets/guidelines/017-021l_S2k_Adenoide-Vegetationen_2023-02.pdf). Es wird beschrieben, dass die Adenotomie typischerweise ambulant durchgeführt wird,
sofern keine medizinischen Kontraindikationen, die nicht näher ausgeführt werden,
vorliegen. Die Autoren nehmen Bezug auf die G-AEP-Kriterien, welche die allgemeine
Notwendigkeit einer stationären Versorgung in Deutschland beschreiben. Darin ist jedoch
keine Altersuntergrenze für Kinder ablesbar. Insofern ist auch aus dieser Publikation
keine Kommentierung zu einer unteren Altersgrenze für die ambulante Erbringung einer
Adenotomie zu entnehmen.
Französische Leitlinie
Die französische Wissenschaftliche Fachgesellschaft (SFORL & CFC) nimmt in einer RCP
(Recommandation pour la pratique clinique, Empfehlung für klinische Praxis) analog
zu einer deutschen Leitlinie Stellung.
Für die Nachbehandlung nach Tonsillektomie oder Tonsillotomie wird eine Beobachtung
in einem Aufwachraum mit Monitoring von Herzfrequenz, Blutdruck und Sauerstoffsättigung
gefordert, wobei die Zeitdauer nicht festgelegt wird. Bezüglich einer ambulanten Erbringung
sollen folgende Kriterien zunächst erfüllt sein: absehbar keine Risiken in den ersten
24 h, Sicherstellung einer hinreichenden häuslichen Pflege und Überwachung sowie Notfallstrukturen
für eine Wiederaufnahme des Kindes im Krankenhaus.
Bezüglich einer Altersgrenze wird auf Studien verwiesen, wonach mit jüngerem Alter
die Risiken steigen. Daraus wird formuliert, „dass es scheint, dass unter einem Alter
von 3 Jahren postoperative respiratorische Risiken verstärkt“ seien. „Eine ambulante
Operation unter diesem Alter müsse fallindividuell entschieden werden“ (S. 44/45 und
47).
Eine stationäre Erbringung sei in folgenden Situationen zu planen: Tonsillenhyperplasie
mit Obstruktion und Zeichen der Rechtsherzinsuffizienz, respiratorische Komorbiditäten,
wie z. B. Asthma, ein deutlich erhöhter BMI, absehbare perioperative respiratorische
Probleme, Gerinnungsstörungen, ASA-Klassifikation > 2, neurologische Erkrankungen
mit respiratorischem Risiko, zervikofaziale Anomalien oder Tumorbildungen. Im Weiteren
werden ausführliche soziale und strukturelle Bedingungen für eine ambulante Erbringung
referiert und gefordert (S. 44–46, Empfehlung #18, S. 50) [1].
UK-Leitlinie
Durch Kontakt zum Generalsekretär der European Society of Pediatric Otorhinolaryngology
(ESPO), Dr. Martin Bailey, konnten Aussagen über die spezielle Situation einer Altersgrenze
für die ambulante Adenotomie und Tonsillektomie im UK gewonnen werden. Hier hat sich
die British Association for paediatric Otolaryngology nach Aufforderung mit einer
aktuellen Stellungnahme geäußert.
Hiernach sollte eine Adenotomie oder Tonsillenchirurgie ab dem 3. Lebensjahr als möglicher
ambulanter Eingriff in Betracht gezogen werden. An spezialisierten Zentren mit pädiatrischen
Stationen und Intensivstation könnten auch Kinder ohne Komorbiditäten ab dem 2. Lebensjahr
als Tageschirurgie mit mehrstündig gestufter Überwachung geplant werden [2].
US-Leitlinie
In der US-amerikanischen Leitlinie zur Tonsillektomie bei Kindern in der letzten Version
aus dem Jahr 2019 wird zur Frage einer unteren Altersgrenze ambulanten Operierens
im Statement #12 empfohlen, dass sich der verantwortliche Arzt auf eine stationäre
Überwachung in der Folgenacht für Kinder jünger als 3 Jahre einstellen soll. Diese
Empfehlung wird mit Beobachtungsstudien und einer Risiko-Nutzen-Abwägung klassifiziert
[3]
[4].
AWMF-S1-Leitlinie „Obstruktive Schlafapnoe im Rahmen von Tonsillenchirurgie mit oder
ohne Adenotomie bei Kindern – perioperatives Management“
In diesem Zusammenhang sei auf diese AWMF-S1-Leitlinie der Wissenschaftlichen Fachgesellschaften
DGAI, DGHNO-KHC und DGSM verwiesen: S1-Leitlinie Obstruktive Schlafapnoe im Rahmen
von Tonsillenchirurgie mit oder ohne Adenotomie bei Kindern – perioperatives Management:
https://register.awmf.org/assets/guidelines/001-041l_S1_Obstruktive-Schlafapnoe-Tonsillenchirurgie-Adenotomie_Kinder-perioperatives-Management_2021-01.pdf.
Zu bemerken ist, dass Schnarchen und schlafbezogene Atemstörungen zu den wesentlichen
Anlässen und Indikationen für die Durchführung einer Adenotomie (AT) und einer Tonsillotomie
(TT) gehören und für solche Eingriffe anstehende Kinder häufig diese Beschwerden haben.
Ein erhöhtes perioperatives Risiko wird für Kleinkinder unter 3 Jahren unabhängig
vom Schnarchen gesehen. Stationäre Wiederaufnahmen nach ambulanten Operationen werden
zudem gehäuft im Alter unter 2 Jahren berichtet.
„3. Konsentierte Empfehlung (starker Konsens 8/8): Kinder zur Tonsillenchirurgie mit
oder ohne Adenotomie mit gesicherter oder vermuteter OSA und gleichzeitigem Vorliegen
von relevanten Komorbiditäten/Risikofaktoren ([Tab. 1]) sollen stationär in einer Klinik mit den Fachbereichen Anästhesiologie, Hals-Nasen-Ohrenheilkunde,
Kinder- und Jugendmedizin und Intensivmedizin behandelt werden.“
Tab. 1
Risikofaktoren und Strukturanforderungen in der Frage einer ambulanten Durchführung
einer Adenotomie und/oder Tonsillotomie im Kindesalter (Beispiele, nicht abschließende
Auflistung).
schlafbezogene Atemstörung
|
Untergewicht/Übergewicht
|
chronische Lungenerkrankungen
|
Chiari-2-Malformation
|
Herzfehler
|
Rechtsherzinsuffizienz bei OSA
|
kraniofaziale Fehlbildungen
|
Mukopolysaccharidosen
|
muskuloskelettale Erkrankungen
|
Prader-Willi-Syndrom
|
Sichelzellanämie
|
absehbar „schwieriger Atemweg“
|
Frühgeburtlichkeit
|
zentrale Atemantriebsstörung
|
kürzlicher Atemwegsinfekt
|
chromosomale Störungen
|
Nierenerkrankung
|
gastroösophagealer Reflux
|
Fieberkrämpfe
|
Diabetes
|
Gerinnungsstörung, Blutungsleiden
|
kritische peri- und postoperative Ereignisse bei dem Eingriff/der Anästhesie
|
nicht hinreichende oder auffällige postoperative 120-minütige Aufwachraumzeit bei
Kindern mit OSAS [24]
[25]
|
nicht hinreichende durchgehende postoperative Überwachung mindestens 24 h nach Entlassung
|
unsichere Kommunikation, Fremdsprachlichkeit
|
keine Verfügbarkeit von Telefon oder Autotransport
|
Distanz zu einer qualifizierten Notfallversorgung von > 30 Minuten Transportzeit (analog
zur Frist für die Präsenz eines Facharztes nach G-BA [26]
|
keine 2 Personen verfügbar für einen Kinder-Notfalltransport im Auto
|
Es ist zu betonen, dass sich diese Leitlinie auf die Tonsillenchirurgie bezieht und
die Adenotomie nicht als isoliertes Verfahren angesprochen ist.
Gesundheitspolitische Verlautbarungen
Gesundheitspolitische Verlautbarungen
Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses
In den tragenden Gründen zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine
Änderung der „Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung (MVV-RL): Tonsillotomie bei Hyperplasie
der Tonsillen und
bei rezidivierender akuter Tonsillitis“ (https://www.g-ba.de/beschluesse/3489/) wird eindeutig darauf hingewiesen, dass eine
Überwachung des operierten Patienten auch über Nacht notwendig sein kann. Eine Tonsillotomie
vor dem vollendeten 1. Lebensjahr sei in aller Regel nicht indiziert. Sollte der Eingriff
in jüngerem Lebensalter notwendig sein, so bedürfe er der vollstationären Überwachung.
Die Tonsillotomie wird somit als ein ambulant möglicher Eingriff angesehen, wobei
Lebensalter und Komorbiditäten zu beachten sind.
Ebenfalls und in vergleichbarer Form hat sich der G-BA auch zur längeren Überwachung
(ggf. über Nacht) und damit zur stationären Leistungserbringung geäußert. Beschluss:
Richtlinie Methoden Krankenhausbehandlung: Tonsillotomie bei Hyperplasie der Tonsillen
und bei rezidivierender akuter Tonsillitis (https://www.g-ba.de/beschluesse/3490/).
IGES-Gutachten zum ambulanten Operieren
Im IGES-Gutachten zum ambulanten Operieren (Gutachten nach § 115b Abs. 1a SGB V des
IGES-Instituts, Berlin) vom März 2022 findet sich unter 3.4.4.2 auf S. 221 eine Stellungnahme
zu Altersgrenzen. Die dortigen Gutachter sehen keine Evidenz für eine globale Altersuntergrenze,
sondern stellen eine solche Überlegung der Weiterentwicklung des AOP-Vertrages und
AOP-Kataloges anheim. Die Gutachter sehen eine Altersuntergrenze für ambulantes Operieren
beim 16. Lebensjahr. Weitere detaillierte Argumente sind nicht bekannt (https://www.iges.com/kunden/gesundheit/forschungsergebnisse/2022/erweiterter-aop-katalog/index_ger.html).
Krankenhausplan NRW
Im Krankenhausplan NRW wird für alle Kinder-OPs eine untere Grenze mit dem vollendeten
4. Lebensjahr niedergeschrieben. Weitere detaillierte Argumente sind nicht bekannt
(https://www.mags.nrw/sites/default/files/asset/document/krankenhausplan_nrw_2022.pdf).
Wissenschaftliche Einzelpublikationen
Wissenschaftliche Einzelpublikationen
Es erfolgte eine Literaturrecherche in PubMed von 2019 bis Mai 2023 unter den Stichwörtern
„tonsillectomy, children, age“. Danach wurde eine einengende, themenbezogene Selektion
aus 340 Treffern über Titel und Abstract bis auf Volltext vorgenommen. Es konnten
keine RC-Studien mit einem 2-armigen Design identifiziert werden, die die stationäre
versus ambulante Versorgung von Kindern zur Tonsillektomie untersuchten.
Bajial et al. aus Houston, TX, führten eine retrospektive Studie an 2437 Kindern über
OP-Techniken und respiratorische Komplikationen bei Tonsillektomie durch. Sie fanden
eine Rate an respiratorischen Komplikationen von insgesamt 20 %. Als Risikofaktor
wird unter anderem ein Alter zwischen dem vollendetem 2. und 3. Lebensjahr identifiziert
[5].
In einer dänischen Studie ist erwähnt, dass die dänischen Gesundheitsbehörden eine
stationäre Durchführung der Tonsillektomie bei Kindern unter 4 Jahren empfehlen. Die
retrospektive Analyse an 414 Kindern zeigte, dass Kinder unter 4 Jahren, die entgegen
der Empfehlung doch ambulant operiert wurden, eine deutlich höhere Wiedervorstellungsrate
hatten. Diese resultierte eher aus Schmerzproblemen und nicht aus Blutungsereignissen
[6].
Eine Studie aus Philadelphia adressierte gezielt die Frage ambulanter Führung nach
alleiniger Adenotomie bei 353 Kindern < 3,5 Lebensjahre. In Summe wurden insgesamt
35 % der Kinder aller Altersgruppen geplant stationär aufgenommen. Weitere Untergruppen
wurden wie folgt gebildet: Es wurden Altersklassen gebildet mit A Kindern < 1,5 Jahre,
B Kindern zwischen 1,6 und 2,5 Jahren und C Kindern von 2,6–3,5 Jahren. In der jüngsten
Gruppe wurden 79 % stationär aufgenommen. Insgesamt stieg die respiratorische Komplikationsrate
mit fallendem Lebensalter an; für die jüngste Gruppe wird eine stationäre Überwachung
empfohlen [7].
In einer Studie aus Florida wurden Kinder mit Adenotonsillektomie in einer Gruppe
unter 2 Jahren und einer Gruppe von 2–3 Jahren untersucht. Die jüngere Gruppe zeigte
eine signifikant erhöhte Komplikationsrate, wobei diese auch in der älteren Gruppe
noch 22 % betrug [8].
Eine Studie aus Wisconsin untersuchte die Letalität nach Tonsillektomien in 5 US-Bundesstaaten.
Die Studienpopulation umfasste 504 262 Personen unter 21 Jahren. Es ergab sich eine
Letalitätsrate von 7,04 pro 100 000 für die Gesamtstudie, die höher erscheint als
bei sonstigen Kinderoperationen. Die Letalität für Kinder mit komplexen Komorbiditäten
betrug jedoch 117/10 000. Es waren Altersgruppen gebildet worden: A < 3 Jahre; B 3–4
Jahre; C 5–9 Jahre etc. Die Letalitätsrate für die Gruppe A lag im Trend höher als
für die anderen Gruppen, wenn auch ohne Signifikanz [9].
Eine Studie aus Alabama untersuchte Tonsillektomien zwischen 2014 und 2017 bei 408
Kindern im Alter zwischen 24 und 42 Monaten. Die Altersgruppe von 24–35 Monaten umfasste
299 Fälle, die von 36–42 Monaten 109 Fälle. Die Autoren sehen für Kinder jünger als
24 Monate routinemäßig die stationäre Durchführung der Tonsillektomie vor. Für Kinder
> 42 Monate gehen sie von einer ambulanten Erbringbarkeit aus. Die dazwischen liegende
Studiengruppe wurde, soweit erkennbar, teils ambulant, teils stationär operiert, wobei
medizinische und soziale Faktoren zu stationären Verfahren führten. Die Komplikations-
und Aufnahmerate in der Studiengruppe waren ohne signifikante Unterschiede, sodass
die Autoren schlussfolgern, dass eine Altersgrenze von 3 Jahren für eine stationäre
Aufnahme durch weitere Studien gesichert werden sollte [10].
Eine Studie aus Würzburg betrachtete 1995 Kinder, die sich zwischen 2009 und 2017
einer Adenotomie oder einer Adenotonsillektomie oder -tonsillotomie unterzogen und
24 h stationär überwacht wurden. In der Überwachung ergaben sich keine gehäuften Komplikationen
bei Betrachtung einer Altersgrenze von 3 Jahren, wobei jedoch ein Trend zu gehäuften
Komplikationen bei geringerem Lebensalter und geringerem Körpergewicht angegeben wird.
Insgesamt identifizieren die Autoren niedriges Körpergewicht, junges Alter oder andere
medizinische Vorerkrankungen als Risikofaktoren, die eine stationäre Überwachung angeraten
erscheinen lassen [11].
Eine multizentrische Studie aus Großbritannien untersuchte ca. 150 000 Kinder im Alter
zwischen 2 und 18 Jahren, die zwischen 2014 und 2019 in Einrichtungen unterschiedlicher
Versorgungslevel eine Tonsillektomie erhielten. Die ambulanten Verfahren waren bei
Kindern unter 3 Jahren zurückhaltend indiziert worden. Es ergeben sich jedoch keine
Hinweise für erhöhte Risiken bei ambulanter OP bei jüngeren Kindern aus diesem Studiendesign
[12].
Eine unizentrische Studie aus Ohio betrachtete gezielt nur die Adenotomie an über
6000 Kindern zwischen 2 und 18 Jahren in 3 Beobachtungsjahren. Die Autoren bestätigten
die Literatur-gestützte Einschätzung, dass Kinder unter 3 Jahren allein altersbedingt
ein höheres Risiko tragen. Diese Regel fand auch Verankerung in den Leitlinien des
Krankenhauses in dem Sinne, dass dort bei Kindern unter 3 Jahren eine stationäre Versorgung
empfohlen wird. Respiratorische Probleme traten in 2 % aller Fälle auf, wobei ein
junges Alter von 2 Jahren einen Risikofaktor darstellte [13].
Eine kanadische Studie erfasste 374 Kinder in einem Zeitraum von 6 Jahren mit einer
Adenotonsillektomie und vorliegender Polysomnografie und untersuchte diese auf perioperative
Atmungsprobleme. Als statistischer isolierter Risikofaktor ergab sich ein Lebensalter
von < 3 Jahren [14].
In einer Studie aus Michigan mit 1774 Kindern zur Adenotonsillektomie zeigten sich
solche mit perioperativen respiratorischen Problemen in der Altersklasse von 3 Jahren
häufiger als in älteren Klassen [15].
In den USA wurde 2010 eine Versorgungsstudie zu ambulanten Tonsillektomien mit ca.
339 000 Patienten durchgeführt, wovon 71 000 Kinder unter 3 Jahre alt waren. Respiratorische
und chirurgische Komplikationen wurden in 7,8 % der Fälle registriert, und ca. 9 %
der Patienten konnten nicht ambulant weitergeführt werden. Das Alter unter 3 Jahren
und schlafbezogene Atemstörungen werden als Risikofaktoren identifiziert, wobei das
Alter unter 3 Jahren als ein etablierter Risikofaktor angesehen wird [16].
In einer US-Studie an Kindern mit Adenotonsillektomie wurden postoperative Komplikationen
mit Wiedervorstellung in der Notfallambulanz in 12,8 % von 5225 Fällen gesehen. Während
Blutungsprobleme mit dem Alter über 6 Jahre häufiger wurden, waren es Dehydratationsprobleme
bei Kindern unter 3 Jahren. Diese Unterschiede waren nicht statistisch signifikant
[17].
In Neuseeland wurden in einem Zeitraum von 4 Jahren 420 Kinder nach Tonsillektomie
analysiert, von denen 37 % Komorbiditäten aufwiesen. Kinder unter 2 Jahren und Kinder
mit Übergewicht zeigten ein erhöhtes Risiko und erforderten eine längere stationäre
Überwachung [18].
Im Bundesstaat New York wurde eine Studie an 76 Kindern unter 2 Jahren durchgeführt,
die allein eine Adenoidektomie bekamen und stationär überwacht wurden. Eine Wiederaufnahme
war in 1,3 % (= 1 Fall) und eine Intervention in 9,2 % (= 7 Fälle) erforderlich. Bei
Kindern mit Komorbiditäten wird die stationäre Aufnahme empfohlen [19].
Eine Studie aus den USA erfasste 3406 Kinder, die allein eine Adenoidektomie bekommen
hatten. Kinder unter 3 Jahren wurden dabei stationär betreut. Dabei zeigten Kinder
unter 18 Lebensmonaten eine statistisch signifikant erhöhte Rate an respiratorischen
Problemen. Die Autoren empfehlen generell die stationäre Betreuung bei Kindern unter
18 Monaten und bei Kindern unter 3 Jahren, wenn Komorbiditäten bekannt sind [20].
Die American Society of Pediatric Otolaryngology (ASPO) befragte ihre 644 Mitglieder
mit einer Rücklaufrate von ca. 20 % zur Frage der stationären Aufnahme bei Tonsillektomien.
Eine leitliniengerechte Aufnahme (Apnoe-Hypopnoe-Index > 10; unter 3 Jahre; SaO2 < 80 %) wurde von jüngeren Chirurgen konsequenter befolgt. Eine stationäre Aufnahme
von Kindern unter 3 Jahren wurde an akademischen Einrichtungen eher vorgenommen [21].
Zusammen mit einer Haftpflichtversicherung wurden in den USA 844 kindliche Schadensfälle
analysiert. Die am häufigsten betroffenen Fachgebiete waren Orthopädie (34 %), Allgemeinchirurgie
(15 %) und HNO (im Wesentlichen Adenotonsillektomien) (11 %). Auffällig war, dass
die ausgeurteilten Schadenssummen bei sehr jungen Kindern hoch waren. 16 % der Gesamtschadenssumme
wurden für den HNO-Bereich ausgeurteilt [22].
Die APRICOT-Studie (Anaesthesia Practice In Children Obervational Trial) sammelte Narkosedaten aus 261 Zentren in 33 europäischen Ländern über einen
Zeitraum von 2 Wochen. Eingeschlossen wurden alle Anästhesien in ambulanten und stationären
Verfahren bei Kindern bis zum 15. Lebensjahr der beteiligten Zentren. Es wurden 5572
Kinder mit HNO-Prozeduren und 15 952 Kinder mit Nicht-HNO-Prozeduren untersucht. Im
statistischen Vergleich zeigte die Gruppe mit HNO-Eingriffen eine erhöhte Ereignisrate
bezüglich schwerer Atemwegskomplikationen Ein Trend mit erhöhten Komplikationen ergab
sich bezüglich des Alters (mit einer statistischen Grenze bei 4,6 Jahren) und der
Zahl solcher OPs am jeweiligen Zentrum (institutionelle Routine). Das höhere Risiko
von kardiopulmonalen Komplikationen bei jüngeren Kindern wurde auch in der Gruppe
der Nicht-HNO-Prozeduren gesehen. Zusammenfassend haben Kinder unter 3 Jahren und
solche mit einer medizinischen Vorgeschichte einschließlich Frühgeburtlichkeit, einer
Behinderung (Stoffwechsel- oder genetische Erkrankung oder neurologische Beeinträchtigung),
Schnarchen, einer Atemwegsüberempfindlichkeit und einer Erkrankung mit Fieber oder
unter einer Medikation ein höheres Risiko schwererer und kritischer Zwischenfälle
[23].
Diskussion
Die Leitlinien der wissenschaftlichen Fachgesellschaften aus den USA, Frankreich und
Großbritannien lassen erkennen, dass für das ambulante Operieren an Adenoiden und
Gaumentonsillen die Empfehlung besteht, neben sonstigen Risikofaktoren vor allen Dingen
auch das Lebensalter der Kinder in der Indikationsstellung zum ambulanten Verfahren
zu beachten. Eine spezifisch auf die Fragestellung gerichtete Literaturrecherche zeigt,
dass eine Altersgrenze mit dem vollendeten 1. Lebensjahr aus Studien und Leitlinien
nicht für die HNO-Eingriffe Adenotomie und Tonsillenchirurgie begründbar ist. Die
Studien lassen erkennen, dass mit steigendem Alter die Komplikationsrate sinkt. Dezidierte
Altersgrenzen werden oft genannt, differieren jedoch. Ein relevanter Altersbereich
solcher Lebensalter-Risiko-Beziehung wird zwischen dem 2. und 4. Lebensjahr deutlich,
in dem jüngere Kinder ein höheres Risiko zeigten.
Es bleibt also offen, auf welcher wissenschaftlichen Basis die in dem ab 01.01.2023
gültigen vertraglichen Werk des trilateralen AOP-Vertrags aufgenommene Empfehlung
der Altersuntergrenze in Form des vollendeten 1. Lebensjahres zustande gekommen ist
und ob sie für die Adenoid- und Tonsillenchirurgie haltbar ist.
Es mag zutreffen, dass ambulante Operationen in anderen Fachbereichen durchaus regelhaft
ab einem solchen jungen Alter des vollendenten 1. Lebensjahres durchgeführt werden
können und dass sich dafür auch ein „fachärztlicher Standard“ bzw. „ärztliche Kunst“
darstellen lässt. Die Frage solcher Nicht-HNO-Eingriffe ist nicht Gegenstand dieser
Stellungnahme.
Die Operationen an Rachen- und Gaumenmandeln erfolgen jedoch im Bereich der oberen
Luftwege und sind mit Blick auf Nachblutungsrisiken in die Atemwege, Schwellung und
Verlegung der Atemwege, Sekret-Clearance und Probleme bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme
besonders zu betrachten. Es ist zu betonen, dass die Indikation zu solchen Eingriffen
oftmals wegen einer schlafbezogenen Atemstörung gestellt wird. Diese Vorerkrankung
stellt nach den vorliegenden Studien je nach Ausprägung eine kritische Komorbidität
dar.
Es muss betont werden, dass sich eventuell aufkommende haftungsrechtliche Fragen am
fachärztlichen Standard orientieren und dieser auch im AOP-Vertrag als Entscheidungsmaß
angeführt wird.
Ein Konsensusgespräch unter den Autoren dieser Empfehlung ergab, dass die Empfehlung
einer starren Altersgrenze zur Frage der ambulanten oder stationären Erbringung klinisch
nicht sinnvoll erscheint, wenn auch eine einfachere argumentative Handhabbarkeit damit
entstehen könnte. Neben dem Risikofaktor des rein numerischen Lebensalters sind weitere
in Studien genannte Risikofaktoren wie Über- oder Untergewichtigkeit, kürzliche Atemwegsinfekte,
Atemwegshyperreaktivität sowie Zeichen schlafbezogener oberer Atemwegsobstruktionen
neben anderen mit einzubeziehen.
Für den Eingriff der Tonsillotomie hat sich aus der klinischen Praxis bisher ohne
Studienbeleg plausibel ergeben, dass das Nachblutungsrisiko steigt, je mehr Tonsillenvolumen
entfernt wird. Bei erheblicher Entfernung von Tonsillenvolumen im Sinne einer intrakapsulären
Tonsillotomie nähert sich wegen Freilegung größerer Blutgefäße das Nachblutungsrisiko
dem einer klassischen extrakapsulären Tonsillektomie.
Unter Einbeziehung aller Aspekte entwickelt sich in Abschätzung von Operateur und
Anästhesist eine für die genannte Entscheidung tragende individuelle Behandlungsentscheidung in der notwendigen Ex-ante-Beurteilung, die plausibel dokumentiert werden muss.
Es muss demzufolge den behandelnden Ärzten empfohlen werden, dass Operationen an Rachen-
und Gaumenmandeln bei Kindern unter Beachtung der hier zusammengetragenen Erkenntnisse
zum Lebensalter in Zusammenschau mit medizinischen, sozialen und organisatorischen
Umständen geplant und durchgeführt werden. Eine Kumulation von Risiken wird ein höheres
Grenzalter erfordern, begünstigende Umstände ein niedrigeres Grenzalter ermöglichen.
Dem verantwortlichen Arzt muss eine fallindividuelle Betrachtung zugestanden werden,
und diese Entscheidung muss auch nach der Vorgabe des AOP-Vertrages transparent dokumentiert
werden. Die Sicherheit der Kinder muss dabei oberste Priorität haben. Der AOP-Vertrag
sollte aus den oben genannten Gründen keine fixierten Altersvorgaben machen, wobei
die dort gegebene Altersgrenze des vollendeten 1. Lebensjahres für die Adenotomie
und Tonsillotomie nicht nachvollziehbar ist.
Fazit
Ziel des Positionspapieres ist es nicht, eine ambulante Erbringung der Adenotomie
oder Tonsillotomie zu erschweren oder zu verhindern. Ziel ist es, in einer zunehmend
durch Ressourcenverknappung ökonomisierten Gesundheitsversorgung wichtige Standards
an Qualität und Sicherheit für die betroffenen Kinder zu sichern, zu begründen und
klar darzustellen. Die Chirurgie von Adenoiden und Tonsillen findet im Rachen und
somit im Atem- und Speiseweg statt und erfordert wegen Blutungs-, Atem- und Schluckproblemen
eine gänzlich andere Bewertung als Eingriffe außerhalb des Atemweges. Diese wichtigen
Aspekte finden im AOP-Vertrag bzw. den Kontextfaktoren derzeit keine direkte Beachtung.
Mit diesen Ausführungen gewinnen auch die verantwortlichen Personen (Operateur und
Anästhesist) Sicherheit in ihrer Ex-ante-Entscheidung. Falls sich im weiteren Verlauf
eine neue Evidenz für solche Behandlungen ergeben sollte, soll das Positionspapier
angepasst werden.