Was wissen wir über Gewalt und was bedeutet Sicherheit?
Was wissen wir über Gewalt und was bedeutet Sicherheit?
Sicherheit ist ein weitreichender und nicht eindeutig zu definierender Begriff. Ganz
allgemein versteht man laut Duden unter Sicherheit „einen Zustand für Individuen,
Gemeinschaften sowie Lebewesen, Objekte und Systeme, [der] frei von unvertretbaren
Risiken [oder Gefahren ist]“ [1]. Dabei ist zwischen objektiver Sicherheit, also dem tatsächlichen Nichtvorhandensein
von Gefahren, und subjektiver Sicherheit, dem Gefühl des Nichtbedrohtseins, zu unterscheiden.
Nienaber und Breinbauer haben in ihrem Beitrag eine umfassende Definition und Diskussion
des Sicherheitsbegriffs verfasst, auf die sich auch dieser Beitrag im weiteren Verlauf
beziehen wird. 2 Aspekte sollen dabei besonders hervorgehoben werden.
-
Sicherheit wird in erster Linie als subjektives Sicherheitsgefühl wahrgenommen, ist
dabei hochgradig individuell, und gehört zu den menschlichen Grundbedürfnissen.
-
„Keine Entscheidung ist ohne Risiko.“ Vollständige Sicherheit gibt es nicht. Es ist
daher von besonderer Bedeutung, mit Unsicherheiten und Risiken umgehen zu können.
Im folgenden Beitrag soll es deshalb darum gehen, wie akutpsychiatrische Stationen
gestaltet werden können, damit sich Mitarbeitende, Patienten wie auch deren Angehörige
sicher fühlen, wie Eskalationen und Unsicherheit reduziert werden können und wie psychiatrische
Teams befähigt werden können, mit bleibenden Unsicherheiten umzugehen und Risiken
geteilt und gemeinsam zu tragen.
Besonderheiten des Sicherheitsbegriffs im psychiatrischen Kontext
Besonderheiten des Sicherheitsbegriffs im psychiatrischen Kontext
Um diesen Fragen nachzugehen, muss zunächst ein Blick auf die besonderen Erfordernisse
der Psychiatrie im Hinblick auf Sicherheit geworfen werden. In der Psychiatrie ist
der Sicherheitsbegriff von unterschiedlichen Perspektiven geprägt. Von Bedeutung für
die Frage nach Sicherheit ist einerseits das Sicherheitsbedürfnis der Mitarbeitenden,
andererseits das der Patienten. Diese beiden Perspektiven mögen sich in der subjektiven
Betrachtung zum Teil widersprechen, sind grundsätzlich aber sehr nah beieinander.
Demgegenüber steht häufig das Sicherheitserfordernis bzw. der Ordnungsauftrag, welcher
der Versorgungspsychiatrie vom Staat übertragen wird. Gesellschaft, Angehörige und
andere Versorgungseinrichtungen richten außerdem Erfordernisse an die Psychiatrie.
Bereits durch den Ordnungsauftrag in der Pflichtversorgung sowie demgegenüber einer
autonomiefördernden therapeutischen Haltung psychiatrisch Tätiger entsteht ein Spannungsfeld,
in dem regelmäßig unterschiedliche Interessen und Risiken gegeneinander abgewogen
werden müssen. Soll eine Person gegen ihren Willen behandelt werden, weil sie sich
selbst gefährdet, obwohl dadurch ihre Autonomie und Entscheidungsfreiheit beschränkt
werden? Soll eine Person, die akut fremdaggressiv ist, mit Zwang durch die Mitarbeitenden
der Psychiatrie am Verlassen der Station gehindert werden, um damit die Gefährdung
anderer Personen zu verhindern, obwohl auch bei der Eskalation auf Station potenziell
Personen geschädigt werden? Bei der Frage nach einer sicheren Psychiatrie geht es
also immer um die Abwägung verschiedener Sicherheitsbedürfnisse und -erfordernisse,
die nicht selten im Widerspruch zueinanderstehen. Entsprechend umsichtig und fundiert
müssen die notwendigen Entscheidungsfindungsprozesse stattfinden. Im Folgenden sollen
verschiedenste Aspekte der Thematik beleuchtet und zueinander in Bezug gesetzt werden.
Gegen wen richtet sich Gewalt?
Gegen wen richtet sich Gewalt?
Gewalt wird sehr häufig in Zusammenhang mit psychisch erkrankten Personen gebracht,
allerdings meist nur auf Täterseite. Wenn Gewalt im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen
thematisiert wird, geht es also meistens um jene Gewalt, die von Personen mit psychischer
Erkrankung ausgeht. Aus zahlreichen Studien ist bekannt, dass das Risiko für Gewalttaten
durch das Vorliegen einer psychischen Erkrankung nur bei wenigen Symptomatiken und
nur geringfügig erhöht ist [2]. Im Gegensatz dazu belegen internationale Studien seit Jahren, dass Personen mit
einer psychischen Erkrankung in einem weitaus höheren Ausmaß selbst Opfer von Gewalt
sind. Erkrankte haben ein 5- bis 12-fach erhöhtes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden
[3]. Gewalterfahrung stellt häufig die Ursache für die psychische Erkrankung dar. Umgekehrt
zeigen prospektive Längsschnittstudien auch, dass das Vorliegen einer psychischen
Erkrankung das Risiko, Gewalt zu erfahren, deutlich erhöht [3]. Eine psychische Erkrankung stellt also ein deutlich größeres Risiko dafür dar,
Opfer von Gewalt zu werden als Gewalt auszuüben.
Nimmt die Gewalt zu?
Zumindest medial wird diese Frage in den vergangenen Jahren immer wieder aufgeworfen
und eine Zunahme der Gewalt gesamtgesellschaftlich, vor allem aber gegen Rettungskräfte,
Polizei und Krankenhauspersonal, vermutet. Betrachtet man verschiedene Statistiken,
beispielsweise aus Krankenhäusern, aus den letzten 2 Jahrzehnten, kann man in der
Dokumentation eine deutliche Zunahme von tätlichen Übergriffen wahrnehmen. Ein Zitat
aus dem Bericht des Neuköllner Krankenhauses von 2015 formuliert: „Die Zunahme von
Gewalt im Krankenhaus spiegelt eine gesellschaftliche Entwicklung wider, die ihren
Ursprung in anderen Lebensbereichen hat.“ Die Studie der Ruhruniversität Bochum, auf
die sich in diesem Kontext medial häufig bezogen wird, zeigte allerdings keinen Anstieg
von Übergriffen auf Rettungskräfte. Dabei wurden verbale und tätliche Übergriffe auf
Rettungskräfte (Feuerwehr und Rettungsdienst) aus den Jahren 2011 und 2017 verglichen.
Das Forschungsteam stellte zunächst fest, dass trotz großer medialer Aufmerksamkeit
auf die Erhebung und umfassender Rekrutierung von Teilnehmenden nur 18 % der angesprochenen
Feuerwehrleute und Polizisten teilgenommen haben. Anzunehmen ist, dass „die Einsatzgruppen
[…] das Problem nicht [erleben], wie oft in den Medien oder in der Politik dargestellt
wird.“ Die Auswertung der Ergebnisse zeigt zudem, dass die Anzahl der Übergriffe im
Untersuchungszeitraum nicht zugenommen hat [4].
Bei genauerer Betrachtung der Gesamtzusammenhänge ist anzunehmen, dass die vermehrt
dokumentierte Gewalt nicht auf eine tatsächliche Zunahme der Gewalt zurückzuführen
ist, sondern auf eine veränderte Anzeige- und Aufklärungspraxis. Lange Zeit wurden
Gewaltvorfälle als „alltäglich“ oder „normal“ wahrgenommen und entsprechend nicht
dokumentiert oder zur Anzeige gebracht. Auch in den meisten Kliniken gab es bis vor
wenigen Jahren keine systematische Erfassung von gewalttätigem Verhalten; verbale
oder sexualisierte Gewalt wurden gar nicht abgebildet.
Warum werden Gewaltvorfälle häufiger dokumentiert?
Warum werden Gewaltvorfälle häufiger dokumentiert?
In den Medien und der Gesellschaft ist eine gewisse Obsession bezüglich des Themas
Gewaltkriminalität zu beobachten. Dies obwohl seit Jahrhunderten ein deutlicher Rückgang
von Gewalt und Gewaltkriminalität zu messen ist [5]–[7]. Begründet werden kann dies u. a. damit, dass durch das geringere Auftreten von
Gewalt im Alltag eine größere Sensibilität für Gewalt entstanden ist, was wiederum
die subjektive Wahrnehmung und Verarbeitung von stattfindenden Gewalttaten verändert.
Zudem hat sich der Gewalt- und Aggressionsbegriff über den physischen Angriff hinaus
im Laufe der Jahrzehnte erheblich erweitert, um auch Formen von verbaler Gewalt, Mikroaggressionen,
struktureller Gewalt, sexueller Gewalt und sprachlicher Gewalt aufzugreifen [8]. Auch diese Erweiterung des Gewaltbegriffs hat dazu geführt, dass das Auftreten
von Gewalt niedrigschwelliger wahrgenommen, reflektiert, besprochen und dokumentiert
wird. Dadurch konnten wichtige Fortschritte in der Gewaltprävention erzielt werden,
um Gewalt und Aggressionen in verschiedenen Kontexten zu reduzieren. So haben zum
Beispiel in psychiatrischen Kliniken Maßnahmen wie Deeskalationstraining, Einführung
komplexer Behandlungsmodelle, milieutherapeutische sowie bauliche Maßnahmen zu einer
Verringerung von Zwangsmaßnahmen und aggressivem Verhalten geführt [9].
Die höhere Sensibilisierung und der stärkere Fokus auf Sicherheit können jedoch auch
negative Auswirkungen haben. So kann ein vermehrtes subjektives Unsicherheitsgefühl
zu Forderungen nach immer mehr Sicherheitsmaßnahmen führen, auch wenn diese nicht
zielführend sind, sondern im Gegenteil selbst Sicherheitsrisiken darstellen können.
Welche Folgen hat ein zunehmendes Sicherheitsbedürfnis?
Welche Folgen hat ein zunehmendes Sicherheitsbedürfnis?
Das wachsende Unsicherheitsgefühl in der Gesellschaft führt, ebenso wie in der Psychiatrie,
zu Forderungen nach mehr objektivierbaren Sicherheitsmaßnahmen: Überwachung, Überreglementierung,
härtere Strafen, Möglichkeiten der Selbstbewaffnung, stärkere Exklusion vermeintlich
bedrohlicher Personengruppen. Für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen zeigt
sich auch ein Rückgang von Mitgefühl und Hilfsbereitschaft [10].
Die in Folge ergriffenen Maßnahmen dienen oft nur der subjektiven und nicht der objektiven
Sicherheit: Vermehrte Überwachungskameras in öffentlichen Räumen schützen nicht vor
Angriffen, sie können maximal zur späteren Identifikation der Täter beitragen. Viele
Maßnahmen führen im Gegenteil sogar dazu, dass es objektiv zu mehr Gewalt kommt. Als
Beispiel sei hier die USA genannt: In keinem anderen Land der Welt wird das Gefühl
der ständigen Gefahr und damit das Recht auf Selbstbewaffnung vergleichbar umworben.
Auch gibt es in keinem anderen Land mehr Waffen und mehr Waffengewalt. Laut Daten
des Forschungsprojekts Small Arms Survey haben die Vereinigten Staaten die höchste
Pro-Kopf-Zahl von Waffen im Besitz von Zivilisten: Es gibt mehr Schusswaffen als Bürger
in den USA, 120 Stück pro 100 Einwohner. Laut den jüngsten Daten der Gesundheitsbehörde
CDC wurden im Jahr 2020 in den USA rund 20 000 Menschen erschossen – mehr als 50 pro
Tag. Schusswaffenverletzungen waren 2020 erstmals die häufigste Todesursache für Kinder
und Jugendliche in den USA, noch vor Verkehrsunfällen.
Durch die gesellschaftliche Forderung nach größerer Sicherheit entsteht eine Unsicherheitsintoleranz,
in deren Folge „unsichere“ Situationen schwerer ausgehalten und nach Möglichkeit vermieden
werden. Die Bereitschaft zum Umgang mit aggressivem Verhalten in der Gesellschaft
nimmt dadurch ab und es entsteht die Tendenz, solche Verhaltensweisen aus dem gesamtgesellschaftlichen
Alltag zu exkludieren. Dies bestärkt unter anderem die Delegation des Umgangs mit
aggressivem Verhalten an die Psychiatrie. Anderseits führt das vermehrte Sicherheitsbedürfnis
auch innerhalb der Psychiatrie zu neuen Anforderungen an die Klinikleitungen, zur
Notwendigkeit neuer Behandlungskonzepte, aber auch zu Personalschwierigkeiten sowie
zur verstärkten Forderung nach dem Einbezug von Sicherheitsdiensten.
Sicherheit durch Sicherheitsdienste?
Sicherheit durch Sicherheitsdienste?
Der Einsatz von Sicherheitsdiensten widerspricht allerdings jeglichem therapeutischen
Verständnis in der psychiatrischen Arbeit und birgt zahlreiche Probleme. Zunächst
haben Sicherheitsdienste keine therapeutische oder medizinische Ausbildung, die Voraussetzung
für ein psychiatrisch-fachliches Verhalten in eskalierenden Situationen ist. Darüber
hinaus haben Sicherheitsdienste keine rechtlichen Befugnisse, abgesehen von der allgemeinen
bürgerlichen Notwehrhandlung, sodass sie zum Eingreifen in Akutsituationen nur zur
akuten Gefahrenabwehr (entsprechend Notwehr), nicht aber zur Durchführung von Zwangsmaßnahmen
berechtigt sind. Diese steht nur ärztlichen und pflegerischen Berufsgruppen im Rahmen
des Berufsrechts oder der Polizei als exekutiver Gewalt zu. Darüber hinaus zeigt sich
auch, dass die Anwesenheit von Sicherheitspersonal nicht zur Reduzierung von Eskalationen
und Zwangsmaßnahmen beiträgt [11], [12]. Im Gegenteil können Sicherheitsdienste das Risiko für Eskalationen zusätzlich steigern.
In einigen Fällen haben die Einsätze von Sicherheitsdiensten aufgrund nicht fachgerechter
Personensicherung zudem bereits zu tödlichen Folgen für die betroffenen Patienten
geführt (Hamburg 2019 und Kiel 2019).
In der Gesamtschau kann folglich keineswegs davon ausgegangen werden, dass der Einsatz
von Sicherheitsdiensten eine zielführende und zulässige Maßnahme zur Herstellung eines
sicheren Umfelds für Patienten wie auch Mitarbeitende in der Psychiatrie ist. Auch
hat sich gezeigt, wie in den gesellschaftlichen Beispielen, dass sicherheitsfokussierte
Konzepte in der Psychiatrie meist zu mehr aggressiven Übergriffen und Zwangsmaßnahmen
führen. Ganz im Gegenteil zeigt sich die Abnahme von Aggressionen und Zwang bei Konzepten
mit offener Tür, weniger starren Regeln, Fokus auf Beziehungsgestaltung statt auf
Sicherheit [9], [13]–[16].
Lösungsansätze für eine sichere Psychiatrie
Lösungsansätze für eine sichere Psychiatrie
Umso wichtiger ist es, alternative präventive und therapeutische Konzepte zu entwickeln,
die effektiv im Hinblick auf die Behandlungsqualität wie auch die Vermeidung von Zwang
und Gewalt sind und dabei die autonomiefördernde und recoveryorientierte Behandlung
ermöglichen sowie das Sicherheitsgefühl der Patienten und der Mitarbeitenden in den
Blick nehmen. Die Einbeziehung der Patienten und die Förderung einer tragfähigen therapeutischen
Beziehung sollten dabei im Fokus stehen. Die Veränderung der Strukturen, die Stärkung
individueller beziehungsfokussierter Therapieansätze und die gezielte Ausbildung und
Schulung von Fachpersonal können dazu beitragen, Gewalt und Aggression in psychiatrischen
Kliniken zu minimieren. Darüber hinaus gilt es allerdings auch, die Rahmenbedingungen
der psychiatrischen Versorgung auf politischer Ebene in Frage zu stellen und in der
gesamten Gesellschaft sinnvolle und tragfähige Versorgungsstrukturen zu etablieren.
Ebenso erforderlich sind strukturelle Veränderungen, um reine Ordnungs- und Sicherungsmaßnahmen
ohne psychiatrischen Behandlungsauftrag von der Psychiatrie abzugrenzen. Im Folgenden
werden verschiedene Ansätze zum Umgang mit Unsicherheit und zur Reduktion von Gefahren
dargestellt.
Was braucht psychiatrisches Personal, um mit Unsicherheiten umzugehen?
Was braucht psychiatrisches Personal, um mit Unsicherheiten umzugehen?
Ausreichend und gut ausgebildetes Personal ist sicherlich die Grundlage für eine gute
psychiatrische Versorgung sowie die Gewährleistung von Sicherheitsstandards für Mitarbeitende
und Patienten. Die Forschung zeigt, dass die Anzahl, der Ausbildungsstand wie auch
das Geschlecht des anwesenden Personals Auswirkungen auf aggressive Vorfälle und Zwangsmaßnahmen
auf der Station haben [17], [18]. Darüber hinaus gibt es allerdings nur wenige Forschungsergebnisse zur Frage: Wie
sollte das Personal sein? Welche interaktionellen Faktoren spielen eine Rolle, wenn
es um Aggressionen und Kommunikation geht? Wie wirkt sich die Kommunikation von Mitarbeitenden
aus? Im Umgang mit Eskalationen in der psychiatrischen Arbeit geht es allerdings um
den unmittelbaren Kontakt mit den Patienten. Eskalationen entstehen meist in der Interaktion
und werden in der unmittelbaren Interaktion deeskaliert. Bedeutsam für den Umgang
mit Unsicherheiten und Risiken scheinen folglich vor allem die Haltung sowie spezifische
interaktionelle Kompetenzen der Mitarbeitenden im multiprofessionellen Team zu sein.
Relevante Kompetenzen werden in den unterschiedlichen Aus- und Weiterbildungen vermittelt.
Die Schulung im Hinblick auf Risikoeinschätzung und Deeskalation wird wenig in der
Grundausbildung gewährleistet, sondern meist erst während der praktischen Tätigkeiten
in den Kliniken im Rahmen von Deeskalationstrainings geleistet (siehe Mayer und Walter
in diesem Heft). Eine Erweiterung entsprechender Ausbildungsangebote ist aus Sicht
der psychiatrischen Versorgung überaus wünschenswert und notwendig. Insbesondere die
Thematisierung von Gewalt und Zwang in der Ausbildung und Studium findet aktuell nur
marginal statt, sodass einerseits keine entsprechenden Kompetenzen vermittelt werden
und andererseits eine Tabuisierung und Stigmatisierung dieser Themen verstärkt wird
(siehe Rüegg in diesem Heft).
Die alleinige Fokussierung auf die Schulung der notwendigen Kompetenzen ist allerdings
nicht ausreichend, um Mitarbeitende zum Umgang mit aggressivem Verhalten und dem Arbeiten
mit bestehenden Unsicherheiten zu befähigen. Von besonderer Bedeutung ist vor allem
die Entwicklung einer gemeinsamen Haltung innerhalb eines (Stations-)Teams sowie innerhalb
der gesamten Einrichtung [19]. Ein Klima der Unterstützung, das im Wesentlichen durch die zuständige Leitung vermittelt
wird, kann Mitarbeitende darin bestärken, verantwortungsvoll risikohafte Entscheidungen
zu treffen und mit Fehlern konstruktiv umzugehen [20]. Neben einer unterstützenden Leitung bedarf es einer Veränderung der klinischen
Strukturen, insbesondere den Abbau tradierter Hierarchien, die Ermöglichung enger
interprofessioneller Zusammenarbeit und die konsequente Einbeziehung von Patienten
und deren Bezugspersonen in alle Entscheidungsfindungsprozesse, um Risiken valide
einschätzen und Verantwortung bei bleibenden Unsicherheiten gemeinsam tragen zu können.
Maßgeblich sind darüber hinaus moderierte Nachbesprechungen von Eskalationen und Zwangsmaßnahmen
mit Patienten und die Verfügbarkeit geeigneter Gesprächs- und Unterstützungsangebote
für das Team und einzelne Mitarbeitende nach Übergriffen [21], [22].
Strukturveränderung innerhalb der Psychiatrie
Strukturveränderung innerhalb der Psychiatrie
Obwohl die gegebenen Rahmenbedingungen für eine gelingende psychiatrische Versorgung
in vielerlei Hinsicht herausfordernd sind, ist es wesentliche Pflicht der Psychiatrie
im Rahmen ihrer Möglichkeiten Strukturen so zu verändern, dass Zwang und Gewalt auf
ein Minimum reduziert werden. Aus der Forschung gibt es umfassende Daten zu gewalt-
und zwangsreduzierenden Maßnahmen. So wissen wir, dass beispielsweise große Stationen,
geschlossene Türen, inkonsistente Absprachen und zu wenig Personal zu mehr Eskalationen
und Zwangsmaßnahmen führen. Neben organisatorischen und baulichen Maßnahmen sind hier
komplexe Interventionen wie das Weddinger Modell oder Safewards von besonderer Bedeutung,
weil sie verschiedene Möglichkeiten zur Reduktion von Gewalt und Zwang integrieren
und so besonders wirksam sind [20], [23]. Die S3-Leitlinie zur Verhinderung von Zwang [9] stellt sämtliche evidenzbasierte Maßnahmen in diesem Bereich zusammen und empfiehlt
die Einführung der benannten komplexen Interventionen. Im Folgenden sollen einige
wesentliche Aspekte, die selbstverständlich auch in anderen Konzepten wiederzufinden
sind, am Beispiel des Weddinger Modells dargestellt werden.
Wie gewährleistet das Weddinger Modell Sicherheit?
Wie gewährleistet das Weddinger Modell Sicherheit?
Das Weddinger Modell ist ein recoveryorientiertes Psychiatriekonzept, dessen primäre
Ziele konsequente Transparenz, Partizipation und eine individualisierte Behandlung
sind. Das Weddinger Modell stellt die Patientin mit ihren Ressourcen, ihrer Lebenswelt
und ihren individuellen Konzepten von Krankheit und Genesung in den Mittelpunkt der
Behandlung. Die Behandlung erfolgt durch ein multiprofessionelles Bezugstherapeutenteam
(MBT) das (Therapie-)Angebote macht, die von Beginn an zusammen mit den Patienten
und deren Bezugspersonen transparent und partizipativ erarbeitet werden. Dabei wird
Bedarfs- und situationsadaptiert die Behandlung durch die MBT in unterschiedlichen
Behandlungssettings (stationär, teilstationär, ambulant, aufsuchend) angeboten [20]. Sicherheit ist in diesem Behandlungskonzept nicht ausdrücklich angesprochen. Wie
also ist es möglich, dass ein Behandlungsmodell, das auf Individualisierung ausgerichtet
ist, zur Sicherheit aller Beteiligten beiträgt?
Individualisierung reduziert Konflikte und Frustration
Die individuellen Krankheits- und Genesungskonzepte des Patienten stehen bei der Arbeit
nach dem Weddinger Modell im Vordergrund und die Behandlungsangebote richten sich
konsequent an den individuellen Bedarfen und Zielen der Patienten aus. Starre allgemeingültige
Regeln werden zugunsten verbindlicher individueller Absprachen ersetzt. Die individualisierten
Regelungen werden in von allen getragenen Behandlungsvereinbarungen festgelegt. Mit
Individualisierung der Behandlung ist gemeint, dass an den Bedürfnissen der Patientinnen
orientierte Angebote erfolgen: Je nach Situation kann es darum gehen, Raum zum Verstehen
zu geben, Zeit zu lassen, oder einfach nur Ansprachemöglichkeiten zu bieten. Es kann
im Vordergrund stehen, einen sicheren Raum zu Verfügung zu stellen, Verpflegung zu
sichern, eine tragfähige Beziehung aufzubauen oder ein spezifisches Therapieangebot
zu machen. Die individuellen Angebote werden sinnvoll verknüpft und am Leidensdruck
der Patientin orientiert. Insbesondere bei Behandlungen gegen den Willen der Patientin
ist es wichtig, ein Verstehen der Situation zu ermöglichen, einen Raum zum gemeinsamen
Reflektieren zu geben und Angebote zur gemeinsamen Lösung zu signalisieren. Widersprüchlichkeiten
und gegensätzliche Ansichten werden transparent besprochen und in die Behandlung mit
eingebunden. Dadurch können Frustrationen und überhöhte Erwartungen an das Gegenüber
reduziert werden. Die Patientin bleibt in der Behandlung autonom und Konflikte werden
reduziert. Insbesondere bei Behandlungen gegen den Willen des Patienten muss diese
Transparenz von Widersprüchlichkeiten erhalten bleiben.
Gemeinsame Verantwortungsübernahme
Die interprofessionelle Zusammenarbeit ist Grundlage der psychiatrischen Behandlung.
Jede Patientin hat ein festes MBT, das über die gesamte Behandlung hinweg zuständig
ist und je nach Bedarf und Behandlungsphase das Behandlungssetting flexibel wechseln
kann. Dies ermöglicht Beziehungskontinuität in jeder Phase der Behandlung und in dem
Setting, das gerade am zielführendsten ist. Behandlungsabbrüche können dadurch vermieden
werden, die Erarbeitung und Umsetzung von Krisenplänen wird erleichtert, Konflikte,
die sich auf das Setting beziehen (z. B. Ausgangsregelungen, Besuchsmöglichkeiten,
Mehrbettzimmer) können reduziert werden.
Das MBT ist in allen relevanten Strukturen (Übergaben, Visiten, Therapieplanung) anwesend.
Die Berufsgruppen werden in ihrer Bedeutung für die Behandlung angeglichen, während
die Kernkompetenzen der einzelnen Professionen gestärkt werden. Die jeweils aktuelle
Thematik des Patienten steht im Vordergrund der Behandlung. Sämtliche Entscheidungen
werden im MBT und mit der Patientin abgewogen und getroffen. So wird ermöglicht, dass
alle Perspektiven bei der Entscheidungsfindung einbezogen werden und ein kohärentes
und vollständiges Gesamtbild der aktuellen Situation als Entscheidungsgrundlage dient.
Getroffene Entscheidungen werden gemeinsam verantwortet, d. h. auch, dass unabhängig
von juristischen Verantwortlichkeiten alle Teammitglieder wie auch die Patientin und
ggfs. Angehörige Konsequenzen einer Entscheidung mittragen.
Nähe schafft Sicherheit
In einer modernen recoveryorientierten Psychiatrie ist die therapeutische Beziehung
der wahrscheinlich wichtigste Wirkfaktor in der Behandlung. Das akutpsychiatrische
Setting stellt dabei durch sich ständig ändernde Bedingungen, die Arbeit im multiprofessionellen
Team, den Einfluss zahlreicher Perspektiven und Bedürfnisse sowie das potenzielle
Auftreten von Gewalt und Zwang besondere Anforderungen an die Beziehungsgestaltung.
In der therapeutischen Haltung, die das Weddinger Modell vertritt, geht es darum,
sich authentisch „als Mensch zur Verfügung zu stellen“ [24]. Gerade in einem so sensiblen Bereich wie der Akutpsychiatrie müssen die Themen
der Nähe, Distanz, Grenzsetzung und -überschreitung als wesentlicher Bestandteil der
therapeutischen Beziehung verstanden und innerhalb der Beziehung bearbeitet werden.
Die Patienten sind davon abhängig, inwieweit Mitarbeitende dazu bereit sind, sich
zum Kontakt und für eine Beziehung zur Verfügung zu stellen. Umgekehrt steht dieser
Freiraum den Patienten selbst nicht zur Verfügung [24].
Besonders bedeutsam in diesem Kontext ist, dass das Verhalten der Patienten, insbesondere
der Umgang mit Impulsen und Frustration, wesentlich zur Einschätzung der Professionellen
beiträgt. Dies bedingt, welche Entscheidungen bezüglich der Behandlung getroffen werden
bis hin zu möglichen Entscheidungen über Behandlungen gegen den Willen der Patientin.
„Die (Deutungs-) Macht und Bewertung der Erkrankung, der Behandlung, der Beziehung
und letztlich auch des Menschen liegt bei den Behandlern. Qua ihrer Profession erhalten
(oder beanspruchen) Behandelnde die Legitimation zur Interpretation und Zuordnung
von Verhalten, Gefühlen und Gedanken des Gegenübers, sprich der Patienten. Die Reflexion
des eigenen „subjektiven Dazutuns“, also des eigenen individuellen Einflusses als
(professioneller) Mensch auf die Patienten und auf die Interaktion mit ihnen wird
oft abgewehrt und kann mit Hinweis auf die „professionelle Distanzierung“ völlig ausgeblendet
werden.“ [24] Insbesondere in der Akutpsychiatrie ist es allerdings wegweisend, das therapeutische
Arbeiten mit einer professionellen Nähe als Kern der psychiatrischen Tätigkeit zu
verstehen. Diese Art der therapeutischen Beziehungsgestaltung ist nicht nur fachlich,
sondern auch persönlich für psychiatrisch Tätige herausfordernd.
Auch die klinischen Strukturen sind allerdings oft nicht darauf ausgelegt, „professionelle
Nähe und therapeutische Beziehungen in allen Behandlungsphasen und über alle Berufsgruppen
und Hierarchien hinweg [zu] fördern“ [24].
Suizidprophylaxestandard
In vielen Kliniken gibt es festverankerte Suizidprophylaxestandards (SPS). Der SPS
kann unterschiedlichste Formen und Inhalte haben. Häufig ist er auf maximale Sicherung
ausgelegt, sodass für verschiedene Phasen der Suizidalität bei einem Patienten konkrete
Maßnahmen zur Sicherung festgeschrieben werden, zum Beispiel 15-minütige oder stündliche
Sichtungen, entsprechende Dokumentation, Abnahme verschiedener potenziell gefährlicher
Gegenstände, Verlegung auf eine geschlossene Station, bis hin zu Durchführung von
Zwangsmaßnahmen. Die Festschreibung von Häufigkeit und Zeitpunkten kann allerdings
zu einer Reduktion authentischer und zugewandter therapeutischer Kontakte zugunsten
kurzer visueller Überprüfungen führen. Durch die strikten Vorgaben rücken die formellen
Bedingungen in den Vordergrund, es wird ein Fokus auf die rechtliche Absicherung des
Teams im Falle eines tatsächlichen Suizidversuchs gelegt. Dabei rücken die therapeutische
Beziehung und die Möglichkeit zu unterstützenden und authentisch begleiteten Gesprächen
in den Hintergrund. Allerdings sind diese bei akuter Suizidalität von besonderer Bedeutung.
Die zur Sicherung vorgesehenen Maßnahmen stehen der authentischen Beziehung und Begegnung
entgegen und führen in der Folge sogar zu einer verringerten Sicherheit für den Patienten.
Wo bleiben Risiken?
Durch die Veränderungen von Haltung und Strukturen in der Psychiatrie können Eskalationen
und Zwang auf ein Minimum reduziert werden. Modelle wie Safewards und das Weddinger
Modell wurden umfassend erforscht und es zeigt sich, dass Übergriffe und Zwangsmaßnahmen
auf akutpsychiatrischen Stationen signifikant reduziert werden können [12], [25]. Aus diesem Grund werden beide Modelle auch im Rahmen der Implementierung der S3-Leitlinie
zur Verhinderung von Zwang empfohlen [9], [26], [27]. Wenn durch komplexe, flexible, innovative Modelle mehr Sicherheit geschaffen wird,
indem Eskalationen und Zwangsmaßnahmen während der psychiatrischen Behandlung auf
ein Minimum reduziert werden, bleibt die Frage, bei wem, in welchen Situationen und
wann Eskalationen und Zwangsmaßnahmen letztlich noch stattfinden. Dieser Frage gingen
2 großen Rettungsstellenstudien in einer Berliner Versorgungsklinik eines „urbanen
Brennpunktes“ nach. In der Klinik konnten durch das Weddinger Modell die Zwangsmaßnahmen
auf ein Minimum reduziert werden [15], [16]. In den verbleibenden Fällen konnten gut belegte Risikofaktoren wie junges Alter,
männliches Geschlecht, bestimmte Diagnosen (z. B. Schizophrenie oder Manie) sowie
frühere Gewalterfahrungen bestätigt werden. Auch zeigt sich, dass Aggressionen signifikant
häufiger bei unfreiwilligen Aufnahmen, mit Fremdaggression im Vorfeld der Aufnahme
und bei Vorstellung durch die Polizei auftreten [28], [29]. Zusätzlich zeigte sich Sprachbarriere erstmals als eigener signifikanter Risikofaktor
für Zwangsmaßnahmen [30].
Die Ergebnisse der Rettungsstellenstudien verdeutlichen darüber hinaus, dass Eskalationen
während der Behandlung zwar fast vollständig vermieden werden können, trotzdem aber
spezifische Risikosituationen und -zeitpunkte bestehen bleiben, in denen Eskalationen
und Zwangsmaßnahmen stattfinden. Diese liegen zu großen Teilen außerhalb des Einflussbereichs
der Psychiatrie, da die Eskalation bereits im Vorfeld zur Aufnahme entstanden ist.
So zeigen die Ergebnisse dieser Studien einen Risikozeitpunkt von Zwangsmaßnahmen
mit der Aufnahme auf die Station. Die deutliche Mehrheit der Zwangsmaßnahmen (2018:
81,2 %; 2019: 71,6 %) fand innerhalb der ersten 24 Stunden statt [28], [29]. Im Jahr 2019 wurde der Zeitpunkt der Zwangsmaßnahme noch genauer untersucht und
es zeigte sich, dass das Risiko für Zwangsmaßnahmen in den ersten 5 Stunden am höchsten
ist. Bei den Patienten, bei denen Zwangsmaßnahmen innerhalb der ersten 24 Stunden
stattfanden, war zudem die Aufenthaltsdauer signifikant kürzer und die Hälfte dieser
Patienten wurden innerhalb der ersten 24 Stunden wieder entlassen. Darüber hinaus
waren 70 % dieser Patienten bei Aufnahme akut intoxikiert, ohne eine weitere psychiatrische
Symptomatik und es gab aggressives Verhalten unmittelbar vor der Aufnahme [29], [31] ([
Abb. 1
]).
Abb. 1 Auswertung der Zwangsmaßnahmen (Fixierung und Isolierung) aller im Jahr 2019 über
die Rettungsstelle der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus
aufgenommenen Patienten (insgesamt 1556 Fälle)
Es wird deutlich, dass es eine spezifische Personengruppe gibt, die allein zur Eskalationsdurchbrechung
durch Zwangsmaßnahmen auf psychiatrischen Stationen aufgenommen wird und bei der nach
24 Stunden kein anschließender psychiatrischer Behandlungsauftrag und/oder keine weitere
Unterbringungsgrundlage besteht. Insbesondere diese Eskalationen sind aber für das
Personal der psychiatrischen Rettungsstellen wie auch auf den Stationen nicht nur
enorm belastend und gefährlich, sondern auch die eigene Einflussnahme auf die Situation
wird als eingeschränkt erlebt. Nicht zuletzt trägt dies zu der bestehenden Unzufriedenheit
und Personalfluktuationen bei.
Safety statt security: Soll die Psychiatrie der einzig sichere Ort sein?
Safety statt security: Soll die Psychiatrie der einzig sichere Ort sein?
Der Druck auf die Psychiatrie hat in den vergangenen Jahren enorm zugenommen. Das
hat verschiedene Gründe: Personalmangel, neue Personalrichtlinien und die Umsetzung
von Leitlinien sowie gesetzlichen Vorgaben fordern die Psychiatrie zur Weiterentwicklung
und Umstrukturierung. Gesellschaftlich tragen die zunehmend geforderte Sicherheit
in der Bevölkerung und die stärkere Sensibilisierung für Gewalt dazu bei, dass der
Umgang mit aggressivem Verhalten aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen und zumindest
teilweise an die Psychiatrie delegiert wird. Problematisch ist zudem, dass die Psychiatrie
die einzige pflichtversorgende Struktur in Deutschland ist. Während zahlreiche andere
Versorgungsstrukturen und Wohnformen ohne Versorgungspflicht aufgrund fehlenden Personals,
bei zunehmender Gentrifizierung mangels bezahlbaren Wohnraums oder aufgrund ökonomischer
Bestrebungen reduziert werden, wächst die Belastung und Inanspruchnahme der Versorgungspsychiatrie
zunehmend.
In Anbetracht dieser sich zuspitzenden Belastung der Psychiatrie scheinen die dargestellten
Studienergebnisse umso bedeutsamer. Die Daten weisen darauf hin, dass ein relevanter
Anteil der in der Psychiatrie stattfindenden Zwangsmaßnahmen zur reinen Verhaltensregulation
bzw. -unterbrechung bei fremdaggressiven Personen durchgeführt wird, ohne dass ein
psychiatrischer Behandlungsauftrag vorliegt. In diesen Fällen wird die Psychiatrie
als pflichtversorgende Institution zur Ordnungshüterin – ohne Behandlungsauftrag –
und es entstehen Gefährdungssituationen für Mitarbeitende wie auch Patienten, die
zu vermeiden wären. Eine Gefahrenabwehr in polizeilicher Obhut mit bedarfsweisem Hinzuziehen
einer Amtsärztin oder bei somatischer Gefährdung durch die Intoxikation eine somatische
Überwachung in einem Krisenraum einer Rettungsstelle und anschließender konsiliarischer
Einschätzung der psychiatrischen Behandlungsbedürftigkeit, wären nicht nur wirksamer,
sondern würden auch die Belastung psychiatrischer Stationen reduzieren. Diese Daten
zeigen stellvertretend für zahlreiche andere Fallkonstellationen eine Fehlentwicklung
in der psychosozialen Versorgung in Deutschland. Aus der Praxis lassen sich verschiedenste
andere Fallbeispiele aufgreifen, in denen die Psychiatrie Versorgungsaufgaben übernimmt,
häufig in Verbindung mit Zwangsmaßnahmen, ohne das Vorliegen einer psychiatrischen
Indikation aufgrund des Fehlens anderer Versorgungsstrukturen. Diese ergeben sich
beispielsweise, weil therapeutische Wohnformen insbesondere für schwer psychisch erkrankte
Personen fehlen. Häufig gibt es nur sehr wenige Plätze und für diese bestehen sehr
hohe Aufnahmeanforderungen (z. B. vollständige Abstinenz) und herausforderndes Verhalten
wird nicht toleriert. Auch flächendeckende kurzfristige niedrigschwellige Angebote
bei akuten Krisen wie Krisenzimmer oder aufsuchende Krisenteams fehlen.
Durch einen Rückgriff auf die Psychiatrie als Ordnungshüterin entsteht eine Tendenz,
gesellschaftliche Problemlagen in die psychiatrische Versorgung auszulagern. Es könnte
der Eindruck einer Psychiatrie entstehen, die mit ihrer Kompetenz im Umgang mit Aggressionen
und Eskalationen zur „Security der Gesellschaft“ wird. Dies mindert allerdings den
schützenden Charakter der Psychiatrie gegenüber Personen mit psychiatrischen Behandlungs-
und Unterstützungsbedarfen. Die Wirksamkeit von menschenrechts- und recoveryorientierten
Konzepten, für deren Umsetzung sich die Psychiatrie einsetzt, wird dadurch reduziert.
Umgekehrt wird eine stärkere Exklusion hilfebedürftiger Personen durch die Gesellschaft
ermöglicht. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, muss die Psychiatrie zu einer
konsequenten Orientierung am psychiatrischen Behandlungsauftrag zurückkehren. Rein
verhaltensregulierende Maßnahmen sind nicht Zuständigkeit und Aufgabe der psychiatrischen
Versorgung. Damit dies möglich ist, müssen allerdings andere pflichtversorgende Strukturen
geschaffen werden.
-
Recoveryorientierte Psychiatriekonzepte wie das Weddinger Modell können dazu beitragen,
Zwangsmaßnahmen auf ein Minimum zu reduzieren. Von besonderer Bedeutung ist hierbei
eine multiprofessionell getragene Haltung, die Partizipation, Transparenz und gemeinsame
Verantwortungsübernahme ermöglicht. Durch gemeinsam getragene Verantwortung und Risiken
können Unsicherheiten für alle Beteiligten verantwortet werden und mit Sicherheit
getragen werden.
-
Durch recoveryorientiertes Arbeiten können Gefahrensituationen, die zu Eskalationen
und Zwangsmaßnahmen führen können, auf spezifische Risikokonstellationen reduziert
werden.
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Weiterhin bestehende Risiken müssen nicht nur von der Psychiatrie als Institution,
sondern gesamtgesellschaftlich und politisch getragen werden. Dafür bedarf es insbesondere
ausreichender pflichtversorgender Strukturen auch unabhängig von der Psychiatrie,
sowie ein am psychiatrischen Behandlungsauftrag orientiertes PsychKG.
-
Damit die Psychiatrie ein sicherer Ort sein kann, darf sie nicht als Security für
die Gesellschaft missbraucht werden.