Schlüsselwörter
Suizid - Entlassmanagement - Inanspruchnahme Psychotherapie - Suizidversuch - ambulante
Behandlung
Key words
suicide - discharge management - utilization psychotherapy - suicide attempt - outpatient
treatment
Einleitung
Im Jahr 2021 starben in Deutschland 9.215 Menschen durch einen Suizid.
Ungefähr 75% von ihnen waren Männer [1]. Suizidales Erleben und Verhalten entsteht
durch ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren [2] und trotz jahrzehntelanger Forschung, hat
sich die Vorhersagbarkeit von suizidalem Verhalten und Suiziden in den letzten 50
Jahren nicht wesentlich verbessert [3]. Neben
dem männlichen Geschlecht sind Suizidversuche in der Lebensgeschichte einer
der zentralsten Risikofaktoren für erneute Suizidversuche und Suizid [3]. Die erste Zeit nach einem Suizidversuch
oder nach einer stationären Behandlung aufgrund akuter Suizidalität
scheint dabei eine besonders vulnerable Zeit zu sein [4]
[5].
Die hierzu vorliegende Daten basieren hauptsächlich auf internationalen
Studien. Eine umfangreiche Meta-Analyse von Chung et al. [6] zeigt eine Suizidrate von 2.078 pro 100.000
Personen/Jahr in den ersten 3 Monaten nach Klinikentlassung bei Patienten,
die mit Suizidgedanken oder suizidalem Verhalten aufgenommen wurden. Im Vergleich
hierzu lag die weltweite (altersstandardisiert) Suizidrate bei 9 pro 100.000
Personen im Jahr 2019, für Deutschland lag diese Rate bei 8,3 [7].
Der (Weiter-) Behandlung von Menschen mit Suizidversuchen in der Vorgeschichte und
fortdauernden bzw. wieder auftretenden suizidalem Erleben und Verhalten sowie der
Nachsorge nach einem Klinikaufenthalt kommt in der Suizidprävention eine
zentrale Bedeutung zu. Ambulante psychotherapeutische und psychiatrische
Behandlungsangebote sind hierbei wichtig. Die Wirksamkeit (suizidfokussierter)
therapeutischer Interventionen ist in Studien gut belegt [8]
[10].
Sobanski et al. [11] zeigen in einem
systematischen Review, dass Behandlungen, die speziell auf suizidales Erleben und
Verhalten Bezug nehmen, das Risiko zukünftigen suizidalen Verhaltens um fast
ein Drittel senken können.
Problematisch ist, dass Übergänge und Wechsel im Behandlungssetting
häufig kritische Momente sind oder nicht gelingen. Es gibt zahlreiche
Forderungen Entlass-/Übergangsmanagement, poststationären
Suiziden und Nachsorge bei suizidalem Erleben und Verhalten mehr Aufmerksamkeit zu
widmen, u. a. [12]. Eine Leitlinie zum
Umgang mit Suizidalität ist derzeit in der Entwicklung [13].
Bei Männern kommt möglicherweise noch ein anderes hinderliches
Phänomen hinzu. Männer nehmen ambulante Psychotherapie und
psychiatrische Versorgungsleistungen generell weniger in Anspruch als Frauen [14]. In einer Erhebung zur Inanspruchnahme
ambulanter medizinischer Leistungen in Deutschland von Prütz et al. [15] geben 12,8% der Frauen und
8,9% der Männer an, in den zurückliegenden zwölf
Monaten eine psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung aufgesucht zu
haben. In einer aktuellen Untersuchung von Czaplicki et al. [16] äußern Männer
stärkere Vorbehalte sowohl gegenüber Psychotherapie als auch
gegenüber Pharmakotherapie bei Depressionen als Frauen. Nun ist es aber
gerade aufgrund des erhöhten Suizidrisikos von Männern bedeutsam,
dass sie Behandlungsangebote in Anspruch nehmen.
Mit der vorliegenden Untersuchung wird betrachtet, inwieweit Menschen (mit
Suizidversuch in der Lebensgeschichte) in den sechs Monaten nach einer
stationär-psychiatrischen Behandlung infolge eines Suizidversuchs bzw.
akuter Suizidalität ambulante Psychotherapie und psychiatrische
Behandlungsangebote in Anspruch nehmen und ob sich Frauen und Männer im
Hinblick auf diese Inanspruchnahme unterscheiden.
Methoden
Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um eine Sekundäranalyse von
Daten, die ursprünglich im Rahmen der prospektiven multizentrischen Studie
„Prädiktoren der Entwicklung suizidaler Gedanken und suizidalen
Verhaltens im Längsschnitt – Eine Evaluation der Interpersonalen
Theorie suizidalen Verhaltens (PRESS)“ an der Universität Leipzig,
der Ruhr-Universität Bochum und der RWTH Aachen erhoben wurden (vgl.
u. a. [17]). Die Studie wurde zwischen
September 2016 und März 2019 durchgeführt und untersuchte Personen
maximal 14 Tagen nach einer stationär-psychiatrischen Aufnahme aufgrund
eines Suizidversuchs (53%) oder akuter Suizidalität (47%)
(T0) sowie 6 Monate (T1), 9 Monate (T2) und 12 Monate (T3) danach.
Die Studienteilnehmenden der PRESS-Studie wurden in 13 Kooperationskliniken
rekrutiert. Die Studienmitarbeiter:innen sprachen persönlich alle potentiell
für die Teilnahme an der PRESS-Studie geeigneten Patienten (N=531)
auf den jeweiligen Stationen an und informierten zur Studie. Von den angesprochenen
Personen wurden 308 (58%) in die PRESS-Studie eingeschlossen (53,6%
weiblich; Alter 18 bis 81 Jahren, M=36,92, SD=14,30). Die
Darstellung des Rekrutierungsprozesses, Selektion und Drop-Out zu den verschiedenen
Messzeitpunkten der PRESS-Studie findet sich in Online-Abb. 1 im
Zusatzmaterial.
Da ein vorangegangener Suizidversuch den mit stärksten Prädiktor
für einen Suizidversuch bzw. für Suizid darstellt [3], werden als Gruppe mit besonderem Risiko in
der vorliegenden Untersuchung die Teilnehmenden betrachtet, die zu T0 angaben,
mindestens einmal in ihrem Leben einen Suizidversuch unternommen zu haben
(N=223). Zum Anderen mussten von ihnen zu T1 Angaben zu der Inanspruchnahme
ambulanter Psychotherapie und psychiatrischer Behandlung in den vergangenen 6
Monaten vorliegen. Dies traf für N=124 Teilnehmende (59,7%
weiblich) im Alter von 18 bis 77 Jahren (M=38,9, SD=14,9) zu.
Die PRESS-Studie umfasste u. a. Fragen zu Soziodemografie und Behandlung, ein
Fragebogenpaket sowie strukturierte Interviews zur klinischen Diagnostik und zum
suizidalen Erleben und Verhalten der Teilnehmenden. Online-Tab. 2
(Zusatzmaterial) beschreibt die Teilnehmenden der vorliegenden Untersuchung
hinsichtlich soziodemografischer (Geschlecht, Alter, Berufsstand, Familienstand) und
klinischer Variablen (Diagnosen).
Die Frage zur ambulanten Psychotherapie und psychiatrischen Behandlung in den letzten
sechs Monaten (T1) lautete „Haben Sie während der letzten sechs
Monate eines oder mehrere der folgenden Beratungs- bzw. Behandlungsangebote in
Anspruch genommen?“. Die Antwortmöglichkeiten waren
„ambulante psychiatrische Behandlung“ und „ambulante
Psychotherapie“.
Die zuständigen Ethikkommissionen genehmigten das Studienprotokoll an den
drei Standorten (EK 310/13, Medizinische Fakultät der
Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen;
4909–14, Medizinische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum;
042–14–27012014, Medizinische Fakultät der
Universität Leipzig).
Für die Beantwortung der Fragestellung wurden Chi-Quadrat-Tests
durchgeführt. Alle Analysen wurden mit SPSS (Version 29, IBM Corp.)
durchgeführt.
Ergebnisse
Wie häufig werden ambulante Psychotherapie und psychiatrische
Behandlungsangebote von Menschen (mit Suizidversuch in der Lebensgeschichte) in
den sechs Monaten folgend auf eine stationär-psychiatrische Aufnahme
nach Suizidversuch bzw. akuter Suizidalität in Anspruch
genommen?
Unterscheiden sich Männer und Frauen in ihrem
Inanspruchnahmeverhalten?
[Tab. 1] zeigt die Inanspruchnahme von
Behandlungsangeboten. 124 Personen machten Angaben zu ihrem
Inanspruchnahmeverhalten. Mehr als ein Drittel aller Befragten nahmen in den
ersten sechs Monaten nach Entlassung aus der stationären Versorgung
keine ambulante psychiatrische oder psychotherapeutische Versorgung in Anspruch.
Männer nahmen deutlich häufiger keine Versorgung in Anspruch als
Frauen. 31,1% der Frauen (N=23) und nur 16% der
Männer (N=8) gaben an, beide Angebote genutzt zu haben.
Männer und Frauen unterscheiden sich signifikant hinsichtlich der
Inanspruchnahme von ambulanten psychotherapeutischen und psychiatrischen
Behandlungsangeboten in den sechs Monaten nach stationärer Aufnahme
infolge eines Suizidversuchs bzw. einer akuten suizidalen Krise ([Tab. 1]).
Tab. 1 Inanspruchnahme ambulante
Psychotherapie/psychiatrische
Behandlungsangebote.
|
Gesamt N=124 (100%)
|
Frauen N=74 (59,1%)
|
Männer N=50 (40,9%)
|
Test für Geschlechtsdifferenzen
|
|
|
Inanspruchnahme ambulante
Psychotherapie/psychiatrische
Behandlungsangebote
|
N (%)
|
Chi2
|
df
|
p
|
Gar kein Angebot in Anspruch genommen
|
47 (37,9%)
|
21 (28,4%)
|
26 (52%)
|
7,694
|
2
|
0,021*
|
Ein Angebot in Anspruch genommen (Psychotherapie od.
psychiatrische Behandlung)
|
46 (37,1%)
|
30 (40,5%)
|
16 (32%)
|
0,933
|
1
|
0,334
|
Beide Angebote in Anspruch genommen
|
31 (25%)
|
23 (31,1%)
|
8 (16%)
|
3,619
|
1
|
0,057
|
Ambulante Psychotherapie in Anspruch genommen
|
46 (37,1%)
|
33 (44,6%)
|
13 (26%)
|
4,421
|
1
|
0,035*
|
Ambulante psychiatrische Behandlungsangebote in Anspruch
genommen
|
62 (50%)
|
43 (58,1%)
|
19 (38%)
|
4,826
|
1
|
0,028*
|
Fett gedruckt sind signifikante Werte; Signifikanzniveaus sind wie folgt
gekennzeichnet * p<0,05;
** p<0,01.
Diskussion
Die vorliegende Untersuchung betrachtet, inwieweit ambulante Psychotherapie und
ambulante psychiatrische Behandlungsangebote von Menschen mit Suizidversuch in der
Lebensgeschichte in den sechs Monaten nach stationär-psychiatrischer
Aufnahme aufgrund eines Suizidversuchs oder akuter Suizidalität in Anspruch
genommen werden und ob Männer und Frauen sich dahingehend unterscheiden.
Unseres Wissens nach liegen vergleichbare Daten für den deutschsprachigen
Raum bisher nicht vor.
Mehr als jeder Dritte gab an, in den sechs Monaten nach stationärer Aufnahme
keine ambulanten psychotherapeutischen oder psychiatrischen Behandlungsangebote in
Anspruch genommen zu haben. Die Ergebnisse zeigen zudem, dass Männer
insgesamt seltener ambulante Behandlungsangebote in dieser hochvulnerablen Zeit in
Anspruch nehmen als Frauen. Dies bezieht sich sowohl auf ambulante Psychotherapie
als auch auf ambulante psychiatrische Angebote. Einschränkend muss gesagt
werden, dass die vorliegenden Ergebnisse keine Details über den Umfang der
Behandlung enthalten. Auch wird nicht einbezogen, inwieweit andere Hilfsangebote,
insbesondere weiterführende stationäre Behandlungen, in Anspruch
genommen wurden. Da es sich um eine Sekundäranalyse handelt und die Daten
ursprünglich mit anderem Fokus erhoben wurden, fehlen entsprechende
Detailinformationen.
Für die Suizidprävention ist es sehr wichtig und doch sehr
herausfordernd, Personen zu identifizieren, die gefährdet sind, einen
Suizidversuch zu unternehmen [18]
[19]. Personen, die einen Suizidversuch
unternommen haben, stellen allerdings eine Gruppe mit stark erhöhtem Risiko
dar. Trotz Belegen für die Wirksamkeit von Interventionen u. a.
[11], zeigen die hier berichteten Daten,
dass diese Personengruppe, und darunter insbesondere Männer, nach Entlassung
aus stationärer Behandlung vielfach nicht in die Weiterversorgung mit
ambulanten Angeboten gelangen.
Der große Bedarf, Entlass- und Übergangsmanagement mehr in den Fokus
zu rücken, wurde bereits angesprochen. Die Hindernisse für einen
solchen gelingenden Übergang in ambulante Behandlungsangebote können
vielfältig sein, wie z. B. Angst vor (unfreiwilliger)
Hospitalisierung, Furcht vor Stigmatisierung, Scham und Schuldgefühle,
Misstrauen in Behandlung oder kurzfristiger Spannungsabbau nach einer suizidalen
Handlung oder negative Vorerfahrungen bzw. negative Erwartungen bezüglich
der Behandlung. Bei Männern scheinen einige dieser Aspekte, wie
z. B. Selbststigmatisierung und Misstrauen in die Behandlung,
stärker ausgeprägt [9]
[15]
[16]
[20]
[21]. Auch institutionelle Herausforderungen,
wie Personalmangel in Kliniken oder ein unzureichendes Versorgungsangebot in
ländlichen Gegenden, sind denkbar. Die Gründe für die
unzureichende Weiterversorgung auf Seiten der Patient:innen und Behandler:innen
sollten zukünftig weiter untersucht werden.
Es ist – nicht nur, aber besonders bei Männern, – wichtig, im
Rahmen von Entlass- und Übergangsmanagement (in psychiatrischen Kliniken,
bei Haus-/Fachärzten etc.) diese Hindernisse in den Blick zu nehmen,
abzubauen und Wege in ambulante Behandlungsangebote zu ebnen. Für
Männer könnte dabei entstigmatisierende Psychoedukation zu
Entstehung und Verbreitung suizidalen Erlebens und Verhaltens hilfreich sein.
Außerdem scheint die Identifizierung mit klassischen
Männlichkeitsstereotypen, wie z. B. Selbstkontrolle und Autonomie,
Hilfesuchverhalten entgegenzustehen [22]. Dies
kann bei der Planung der ambulanten Weiterbehandlung thematisiert werden. Auch im
Rahmen ambulanter Behandlungsangeboten kann es wichtig sein, ein genderspezifisches
Bedürfnis nach Kontrolle und Autonomie von Männern im
Behandlungsablauf zu berücksichtigen. Zudem ist für die
Weiterbehandlung auch die Berücksichtigung und Auseinandersetzung mit
genderspezifischer Symptomatik (z. B. bei Depressionen) wichtig. Besonders
für alleinstehende Männer kann die Unterstützung von
ärztlichem und anderem Klinikpersonal hochrelevant sein. Alleinstehend,
geschieden oder verwitwet zu sein, ist ein etablierter Risikofaktor für
Männer durch Suizid zu versterben [23]
und es bedeutet in der Regel weniger Unterstützung im privaten und
familiären Umfeld bei Suche und Zugang zu weiterführenden ambulanten
Behandlungsangeboten zu haben.
Konsequenzen für Klinik und Praxis
Konsequenzen für Klinik und Praxis
-
Mehr als ein Drittel der Personen, die aufgrund eines Suizidversuchs oder
akuter Suizidalität stationär behandelt wurden und einen
Suizidversuch in der Lebensgeschichte haben, nehmen in sechs Monaten danach
weder ambulante psychotherapeutische noch psychiatrische Angebote in
Anspruch.
-
Männer nutzen in dieser Phase ambulante psychotherapeutische und
psychiatrische Angebote signifikant seltener als Frauen.
-
Entlassmanagement sollte nach stationärem Aufenthalt aufgrund akuten
suizidalen Erlebens und Verhaltens verstärkt – insbesondere
bei Männern – weiterführende ambulante Behandlung in
den Blick nehmen.