Schlüsselwörter Andexanet - Apixaban - Rivaroxaban - Pharmakokinetik - Pharmakodynamik - ANNEXA-4-Studie
- Labormessungen - Blutungsrisiko nach Gabe - Indikationsstellung
Keywords andexanet - apixaban - rivaroxaban - pharmacokinetic - pharmacodynamic - ANNEXA-4
trial - measurements - bleeding risk after use - mode of indication
Einleitung
Mit fortgeschrittenem Alter, mit zunehmender Ko-Morbidität, aber auch mit verbesserter
Sicherheit blutverdünnender Medikamente ist der Anteil von Patienten mit dauerhafter
medikamentöser Antikoagulation in der Bevölkerung in den letzten Dekaden kontinuierlich
gestiegen. Es wird geschätzt, dass aktuell über 10 Millionen Patienten in Deutschland
eine orale Antikoagulation erhalten – mit 75% der überwiegende Anteil davon mit den
direkten oralen Faktor-Xa-Inhibitoren Apixaban, Edoxaban oder Rivaroxaban.[1 ] Insofern ist es verständlich, dass Notfallsituationen immer häufiger auch Patienten
mit diesen Blutverdünnern betreffen und sich den Akutmedizinern die Frage stellt,
ob, wann und wie sie das im Jahr 2019 von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA)
zugelassene spezifische Antidot Andexanet (Andexanet alfa, AA) für akute lebensbedrohliche
Blutungen unter Apixaban und Rivaroxaban einsetzen sollen und worauf nach der Anwendung
zu achten ist. Eine Zulassung zur Anwendung von Andexanet bei akuten lebensbedrohlichen
Blutungen unter Edoxaban besteht aktuell in Japan, nicht jedoch in Europa. Diese Übersichtsarbeit
stellt die wichtigsten Informationen zusammen, die diese Entscheidung erleichtern
sollen.
Überblick über die pharmakokinetischen und -dynamischen Daten zu Andexanet
Überblick über die pharmakokinetischen und -dynamischen Daten zu Andexanet
Andexanet ist ein modifiziertes rekombinantes Protein, dessen Struktur sich vom humanen
Gerinnungsfaktor Xa ableitet. Der primäre Wirkmechanismus besteht in der Bindung und
Sequestrierung der Faktor-Xa-Inhibitoren Apixaban, Edoxaban oder Rivaroxaban. Eine
antagonisierende Wirkung ist auch gegen Enoxaparin und Fondaparinux nachgewiesen worden.[2 ] Das für einen klinischen Einsatz als Antidot angestrebte Moleküldesign für Andexanet
musste drei grundsätzliche Ziele erfüllen:
Es musste durch Erhalt der aktiven Bindungsstelle im Andexanet-Molekül eine hohe Affinität
zu direkt wirksamen Faktor-Xa-Inhibitoren erreicht werden (<[Tabelle 1 ] > ). Da die aktive Bindungsstelle im Andexanet-Molekül darüber hinaus mit dem endogenen
Faktor Xa um die Bindung von Antithrombin konkurriert, wird auch die gerinnungshemmende
Wirkung von Antithrombin-abhängigen Antikoagulanzien wie niedermolekularen Heparinen
(NMH) oder Fondaparinux antagonisiert. Die Thrombin-Inhibition durch NMH wird dagegen
nicht beeinflusst.[2 ]
Durch den Austausch der Aminosäuren Serin (S419) gegen Alanin (A419) in der katalytischen
Domäne des Moleküls wurde sichergestellt, dass das modifizierte Protein nicht zur
Konversion von Prothrombin in Thrombin fähig ist, da ansonsten eine dem nativen Faktor
Xa vergleichbare prokoagulatorische Wirkung resultieren könnte.[2 ]
Neben der Modifikation an der katalytischen Domäne wurde im Andexanet-Molekül noch
die aus 34 Aminosäuren bestehende γ-Carboxyglutaminsäure (Gla)-Domäne in der leichten
Polypeptidkette entfernt, um die Bindung an Phospholipid-Membranen auf Thrombozyten
zu verhindern. Hintergrund hierfür ist, dass das modifizierte Protein ansonsten noch
Faktor Va binden und auf diese Weise mit der Inkorporation von Faktor Xa in den Prothrombinase-Komplex
auf der Oberfläche von aktivierten Thrombozyten konkurrieren könnte. Dadurch wäre
wiederum eine gerinnungshemmende Wirkung möglich, die die beabsichtigte Verwendung
als Antidot für Faktor-Xa-Inhibitoren konterkarieren würde.[2 ]
Tabelle 1
Vergleich der Bindungsaffinitäten von Andexanet für die direkten oralen Faktor Xa-Inhibitoren
bzw. der direkten oralen Faktor Xa-Inhibitoren für Faktor Xa (modifiziert nach 3,
7)
Inhibitor
Andexanet Kd (nM)
Faktor Xa Ki (nM)
Apixaban
0,58
0,100
Betrixaban
0,53
0,117
Edoxaban[a ]
0,95
0,122
Rivaroxaban
1,53
0,400
a Derzeit keine EU-Zulassung für die Anwendung von Andexanet bei akuten lebensbedrohlichen
Blutungen unter Edoxaban, nur in Japan.
Neben der Bindung an Faktor-Xa-Hemmer interagiert Andexanet ähnlich wie endogener
Faktor Xa mit dem Tissue Factor Pathway Inhibitor (TFPI) und hemmt dessen Aktivität.[3 ] Diese Hemmung der Plasma-TFPI-Aktivität wird nach einer Bolusgabe von Andexanet
innerhalb von 2 Minuten erreicht, persistiert bis 14,5 Stunden und normalisiert sich
innerhalb von 3 Tagen zum Ausgangswert. Die Hemmung der TFPI-Aktivität kann die durch
den Gewebefaktor initiierte Thrombinbildung steigern und so eine prokoagulatorische
Wirkung hervorrufen. Dieser Mechanismus wurde zur Erklärung der unter Andexanet sowohl
im Tierversuch als auch in Phase-I-Studien an Gesunden beobachteten Erhöhung der D-Dimere
und/oder Thrombin-Antithrombin-Komplexe herangezogen, wenngleich in diesen Studien
keine klinischen oder subklinischen Thrombosen auftraten. Die beschriebene Interaktion
zwischen Andexanet und TFPI moduliert hauptsächlich die TF/TFIP-Aktivität in der Initiationsphase
des extrinsischen Gerinnungswegs und zeigt nur eine geringe Auswirkung auf die spätere
Phase der Reaktion und das gesamte Thrombinbildungspotential.[4 ]
[5 ]
[6 ] Kontextbezogene Daten für die Anwendung von Andexanet bei akuten DOAK-assoziierten
Blutungspatienten liegen aktuell nicht vor, sollten jedoch im Fokus der fortlaufenden
Untersuchungen bleiben.
Die durch die Dissoziationskonstante (Kd ) charakterisierte Bindungsaffinität von Andexanet an die direkten Faktor-Xa-Inhibitoren
wurde in vitro in Humanplasma bestimmt. Andexanet antagonisiert dosisabhängig die
inhibitorische Wirkung der untersuchten Arzneistoffe, wobei die Kd -Werte in einem ähnlichen Bereich wie die Werte der Inhibitionskonstanten (Ki ) der Faktor-Xa-inhibitoren gegen endogenen Faktor Xa liegen.
Andexanet wird klinisch als Bolus gefolgt von einer Dauerinfusion verabreicht. Es
wird abhängig vom verwendeten Faktor-Xa-Inhibitor, dessen Dosis und dem Zeitabstand
zur letzten Einnahme zwischen einem Niedrig-Dosis-Regime (400 mg Bolus mit 30 mg/min
über ca. 15 Minuten, 480 mg als Infusion 4 mg/min über 120 Minuten) und einem Hoch-Dosis-Regime
(800 mg Bolus mit 30 mg/min über ca. 30 Minuten, 960 mg als Infusion 8 mg/min über
120 Minuten) unterschieden (<
[Tabelle 2 ] > ) .
Tabelle 2
Dosierung von Andexanet für die Antagonisierung der direkten oralen Faktor-Xa-Inhibitoren
Inhibitor
Letzte Dosis
Letzte Einnahme ≤ 8 h
Letzte Einnahme > 8 h
Apixaban
≤ 5 mg
Niedrige Dosis
Niedrige Dosis
> 5 mg
Hohe Dosis
Niedrige Dosis
Edoxaban[a ]
≤ 30 mg
Niedrige Dosis
Niedrige Dosis
> 30 mg
Hohe Dosis
Niedrige Dosis
Rivaroxaban
≤ 10 mg
Niedrige Dosis
Niedrige Dosis
> 10 mg
Hohe Dosis
Niedrige Dosis
a Derzeit keine EU-Zulassung für die Anwendung von Andexanet bei akuten lebensbedrohlichen
Blutungen unter Edoxaban, nur in Japan.
Das Maximum der Wirkung von Andexanet, beurteilt anhand der Abnahme der Konzentration
an freiem, nicht gebundenem Faktor-Xa-Inhibitor, wird innerhalb von zwei Minuten nach
dem Ende der Bolusgabe erreicht. Der zeitliche Verlauf der Plasmakonzentration ist
biphasisch mit einer terminalen Eliminationshalbwertszeit im Bereich von 5–7 Stunden,
wobei die pharmakodynamische Halbwertszeit nur etwa 1 Stunde beträgt.[7 ] Das Verteilungsvolumen liegt bei etwa 5 Litern und entspricht damit dem Blutvolumen.
Die Plasma-Clearance beträgt ca. 4,3 L/h.[6 ]
[8 ] Die Elimination erfolgt durch Metabolismus über proteolytische Enzyme, eine Elimination
über die Niere findet nicht statt oder nur geringfügig statt. Die Pharmakokinetik
(Cmax , AUC) ist dosislinear, unabhängig vom Alter und wird von gleichzeitig vorhandenem
Apixaban oder Rivaroxaban nicht beeinflusst.[6 ]
[9 ]
Unter der Behandlung aufgetretene, nicht-neutralisierende Antikörper gegen Andexanet
wurden bei etwa 10% der exponierten Personen nachgewiesen. Diese Antikörper lagen
generell in niedrigen Titern vor, und es wurden keine klinischen Folgen beobachtet.
Neutralisierende Antikörper oder Antikörper gegen Faktor X oder Faktor Xa wurden bisher
nicht nachgewiesen.[10 ]
Überblick der ANNEXA-4 Studie
Überblick der ANNEXA-4 Studie
ANNEXA-4 war eine prospektive, multizentrische, offene, einarmige Studie zur Wirksamkeit
und Sicherheit von Andexanet bei Patienten mit akuter lebensbedrohlicher Blutung unter
einem direkten oralen oder indirekten parenteralen Faktor-Xa-Inhibitor.[10 ] Vor dem Studieneinschluss durfte die letzte Dosis des Antikoagulans nicht länger
als 18 Stunden zurückliegen. Damit die pharmakologische und klinische Wirksamkeit
von Andexanet exakt beurteilt werden konnte, wurden in der Wirksamkeitsanalyse nur
diejenigen Patienten (n = 342) ausgewertet, die zum Zeitpunkt der Andexanet-Gabe eine klinisch relevante
Anti-FXa-Aktivität von ≥ 75 ng/mL (Apixaban, Rivaroxaban), > 40 ng/mL (Edoxaban) oder
≥ 0,25 IE/mL (Enoxaparin) aufwiesen und die stringenten Kriterien einer schwerwiegenden
Blutungskomplikation erfüllten: potentiell lebensbedrohliche Blutung mit hämodynamischer
Beeinträchtigung (z.B. schwere Hypotonie, verminderte Hautdurchblutung, geistige Verwirrung,
sonst nicht zu erklärende Abnahme der kardialen Pumpleistung), Blutung mit Hämoglobin
(Hb)-Abfall ≥ 2 g/dL oder Hb-Wert ≤ 8 g/dL in Abwesenheit eines Ausgangsbefundes oder
Blutung in einer kritischen Lokalisation (z.B. retroperitoneal, intraartikulär, perikardial,
epidural, intrakranial, intramuskulär mit Kompartmentsyndrom).
Die Sicherheitsanalyse schloss dagegen alle Studienpatienten mit erfolgter Andexanet-Gabe
ein (n = 479).
Nach dem initialen Studienprotokoll erhielten alle Patienten unter Apixaban und alle
Patienten unter Rivaroxaban mit letztmaliger Einnahme vor ≥ 8 Stunden 400 mg Andexanet
als Bolus über 15 Minuten gefolgt von 480 mg als Infusion über 2 Stunden (=niedrige
Dosis). Patienten unter Rivaroxaban mit letztmaliger Einnahme vor < 8 Stunden sowie
Patienten unter Edoxaban oder Enoxaparin erhielten 800 mg als Bolus über 30 Minuten
gefolgt von 960 mg als Infusion über 2 Stunden (=hohe Dosis).
Primäre Wirksamkeitsendpunkte waren die prozentuale Abnahme der Anti-FXa-Aktivität
nach Therapie mit Andexanet und der prozentuale Anteil an Patienten mit guter oder
exzellenter hämostatischer Wirksamkeit 12 Stunden nach Beendigung der Andexanet-Infusion.
Aufgrund der Tatsache, dass in der Primärpublikation zu Apixaban- und Rivaroxaban-Patienten
zu wenig Edoxaban-Patienten auswertbar waren, erfolgte eine verlängerte Rekrutierung
dieser Subgruppe mit geringfügiger Modifikation des Andexant-Dosierungsschemas (hohes
Andexanet-Dosisregimen bei Einnahme von ≥ 30 mg Edoxaban vor < 8 Stunden).[11 ] Auf die Patienten unter Enoxaparin wird an dieser Stelle aufgrund der weiterhin
geringen Fallzahl (n = 22) nicht näher eingegangen.
Die Wirksamkeitsergebnisse der ANNEXA-4-Studie sind in der folgenden <[Tabelle 3 ]
> zusammengefasst.[10 ]
Tabelle 3
Wirksamkeit von Andexanet in der ANNEXA-4-Studie (nach 10)
Inhibitor
Anti-FXa-Aktivität
vor Andexanet
Bolus
Anti-FXa-Aktivität
nach Andexanet
Bolus
Reduktion
Apixaban (n = 172)
146,9 ng/mL (median)
10,0 ng/mL (median)
93% (95% KI 94–93%)
Edoxabana (n = 28)
121,1 ng/mL (median)
24,4 ng/mL (median)
71% (95% KI 82–65%)
Rivaroxaban (n = 132)
214,6 ng/mL (median)
10,8 ng/mL (median)
94% (95% KI 95–93%)
a Derzeit keine EU-Zulassung für die Anwendung von Andexanet bei akuten lebensbedrohlichen
Blutungen unter Edoxaban, nur in Japan.
Nach der Gabe des Andexanet-Bolus zeigte sich, dass die Anti-FXa-Aktivität jeweils
bis zum Ende der zweistündigen Andexanet-Infusion auf niedrigem Niveau stabil blieb,
allerdings wurde in den Laborkontrollen 4, 8 und 12 Stunden nach Beendigung der Infusion
ein erneuter Anstieg der Anti-FXa-Aktivität gemessen. Gegenüber den jeweiligen Ausgangswerten
betrug die Reduktion der Anti-FXa-Aktivität zu diesen Zeitpunkten dann 36–38% für
Apixaban, 34–59% für Edoxaban und 43–61% für Rivaroxaban.[10 ]
[11 ]
In den Wirksamkeits-Publikationen der ANNEXA-4-Studie wurde auch die hämostatische
Effektivität nach 12 Stunden berichtet. Diese wurde in der finalen Analyse bei 81%
der Rivaroxaban- (95% KI 73–87%) und bei jeweils 79% der Apixaban- (95% KI 72–85%)
und Edoxaban-Patienten (95% KI 59–92%) als exzellent oder gut bewertet.[10 ] Dieses Ergebnis war über verschiedene Subgruppen (Art des Faktor-Xa-Inhibitors,
Geschlecht, Blutungslokalisation, Alter, Andexanet-Dosis) konsistent. Ein signifikanter
Zusammenhang zwischen Ausmaß der Reduktion der Anti-FXa-Aktivität und hämostatischer
Wirksamkeit wurde für die Patienten mit intrakranialer Blutung ermittelt.[10 ]
In allen Kohorten wurden während der Nachbeobachtung Thromboembolien beobachtet. In
der finalen Publikation[10 ] traten bei 50 Patienten (10,4%) innerhalb von 30 Tagen insgesamt 58 thromboembolische
Ereignisse im arteriellen (n = 36) oder venösen (n = 22) Stromgebiet auf. Diese Ereignisse waren in etwa gleichmäßig über die Zeiträume < 6
Tage, 6–14 Tage und 15–30 Tage nach Andexanet-Gabe verteilt. Die 30-Tage-Mortalität
lag bei 15,7%, wobei 58 der 75 Todesfälle auf eine kardiovaskuläre Ursache zurückgeführt
wurden.
Bei 16 Patienten (3,3%) trat das thromboembolische Ereignis nach und bei 34 Patienten
(7,1%) vor oder ohne Wiederbeginn irgendeiner Antikoagulation (ggf. auch nur prophylaktisch
oder subtherapeutisch dosiert) auf. Kein Patient erlitt eine Thromboembolie nach Wiederbeginn
einer oralen Antikoagulation.[10 ] Zwar war die Wiederaufnahme einer Antikoagulation im Beobachtungszeitraum insgesamt
mit einem gesteigerten Blutungsrisiko assoziiert; bezüglich der Kombination aus Thromboembolie,
Blutung und Tod jeder Ursache fanden sich aber für eine erneute Antikoagulation Hinweise
für einen positiven Nettonutzen.[12 ]
Aktuell ist eine randomisierte kontrollierte Studie zum Einsatz von Andexanet bei
Patienten mit intrakraniellen Blutungen (ANNEXA-I) aufgrund einer verbesserten Wirksamkeit
des spezifischen Antidots im Vergleich zur standardmäßigen Vergleichstherapie vorzeitig
gestoppt worden.[13 ] Die detaillierte Auswertung steht noch aus.
Bedeutung des Endogenen Thrombin Potentials (ETP)
Bedeutung des Endogenen Thrombin Potentials (ETP)
als Maß für die Blutstillung
In den Zulassungsstudien zu Andexanet wurde neben dem Messwert Anti-FXa-Aktivität
mit dem endogenen Thrombinpotential (ETP) ein weiterer spezieller Gerinnungsparameter
erhoben. Dieser zeigt in vitro die Kapazität des Blutes, unter Stimulationsbedingungen
Thrombin zu generieren.[14 ]
[15 ]
Kontextbezogene Daten, wie z.B. D-Dimer- und F 1 + 2 Messungen, für die Anwendung
von Andexanet bei akuten DOAK-assoziierten Blutungspatienten liegen aktuell nicht
vor, sollten jedoch im Fokus der fortlaufenden Untersuchungen bleiben. Der Parameter
ETP beruht auf dem Testverfahren des Thrombingenerierungsassays (TGA).[16 ] Standardtests wie z.B. aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) oder der Quick-Wert
sind in ihrer Aussage zur generellen Gerinnbarkeit des Blutes stark limitiert und
können jeweils nur einen bestimmten Ausschnitt aus dem Ablauf der Blutgerinnung darstellen.
Demgegenüber kann die kumulativ gemessene Menge an gebildetem Thrombin, als Endstrecke
der Gerinnung, einen globalen Parameter zur Beurteilung der Gesamtkapazität des Gerinnungssystems
bzw. der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Balance zwischen Blutungs- und
Thromboseneigung abbilden. Die Thrombinbildung ist dabei sowohl von der Menge und
Aktivität bzw. Aktivierbarkeit der Gerinnungsfaktoren und deren Inhibitoren als auch
von der Anwesenheit von Antikoagulantien bzw. deren Antidota oder prokoagulatorischen
Substanzen abhängig. Es handelt sich somit um einen Globaltest der Blutgerinnung,
welcher stark vereinfacht als Abbild pro- wie auch antikoagulatorischer Einflüsse
zu verstehen ist. Das Prinzip des TGA beruht dabei laborchemisch auf der Zugabe einer
geringen Konzentration an Tissue Factor sowie Phospholipiden und Calcium zu Plasma
und der darauffolgenden Messung der Menge an gebildetem Thrombin über chromogenes
oder flourogenes Substrat, mit der Möglichkeit der Bestimmung in Plasma (plättchenarm/-frei
oder plättchenreich) sowie in Vollblut. Die Darstellung des zeitlichen Ablaufs der
Thrombinbildung und der damit verbundenen Phasen der Gerinnung (Initiation, Amplifikation
und Propagation) erfolgt über ein Diagramm bzw. über die Thrombinbildungskurve, mit
u.a. den Parametern „Lag time“, „Peak“ sowie der Fläche unter der Kurve, welches als
ETP ein generelles Maß für die Thrombinbildung darstellt (<[Abbildung 1 ] > ). Für das ursprünglich aus aufwändigen manuellen Ansätzen bestehende und in den
1950er Jahren entwickelte Verfahren stehen mittlerweile Plattformen mehrerer Hersteller
zur Verfügung.[17 ] Zur Abschätzung der Blutungsneigung bzw. des Blutungsrisikos wurde die Methode des
TGA in Studien bei unterschiedlichen Kollektiven untersucht, so z.B. bei Patienten
mit Hämophilie,[18 ]
[19 ] kardiochirurgischen Patienten[20 ] sowie Patienten mit Thrombozytopenie oder hämatoonkologischen Erkrankungen.[21 ] Für Patienten unter Antikoagulation (größtenteils mit Vitamin-K-Antagonisten) zeigen
Studiendaten reduzierte Werte im TGA, weshalb die Methode Anwendung in einer Reihe
von Studien zur Untersuchung der Aufhebung einer Antikoagulation mit Fresh Frozen
Plasma (FFP), Prothrombinkomplexkonzentrat (PPSB) oder Factor Eight Inhibitor Bypassing
Activity (FEIBA) fand.[22 ] Für DOAK konnten Studiendaten ebenso einen Einfluss auf die Parameter des TGA zeigen.[23 ]
[24 ] Die Erfahrungen hinsichtlich der Anwendung von TGAs im Kontext mit DOAK und deren
Antidota außerhalb von Studien sind jedoch limitiert, der Stellenwert der Methode
in diesem Kontext vor allem für die klinische Anwendung ist nicht sicher zu beurteilen.
So konnten z.B. Pfrepper et al.[24 ] bei 380 Proben Korrelationen der Parameter „lag time“ und „time to peak“ mit DOAK-Plasmaspiegeln
zeigen, jedoch fand sich keine Relation zum ETP.[24 ] Auch die Daten anderer Arbeitsgruppen zeigen nur schwache Korrelationen der verschiedenen
Parameter der Thrombingenerierung zu DOAK-Spiegeln.[25 ] Herausforderungen bei einem möglichen zukünftigen klinischen Einsatz der Verfahren
sind auch weiterhin die erschwerte Vergleichbarkeit unterschiedlicher Messverfahren
bzw. Messsysteme und unterschiedlicher Laboratorien sowie die klare Relation der erhobenen
Parameter zum Outcome bzw. zu klinischer Blutungsneigung bzw. Blutstillung.
Abbildung 1 Die Parameter des Thrombingenerierungsassays (modifiziert nach 16).
Erwähnenswert zeigen sich dennoch die Ergebnisse der zweigeteilten, plazebokontrollierten
und randomisierten Andexanet Phase III Studie ANNEXA-A (Apixaban)/ANNEXA-R (Rivaroxaban),
die das ETP der Probanden als sekundären Endpunkt untersuchte.[14 ] DOAK-naive Probanden wurden zunächst über einen Zeitraum von vier Tagen durch die
kontrollierte Einnahme von 2 × 5 mg Apixaban oder 1 × 20 mg Rivaroxaban täglich in
einen bezüglich der Plasmakonzentration stabilen Zustand gebracht. An Tag 4 erfolgte
die randomisierte Administration von Andexanet oder Plazebo. Mehrere ETP-Messungen
zu vordefinierten Zeitpunkten wurden während der Studiendauer von 5 Tagen erhoben.
Die Thrombingenerierung der Probanden wurde als gemittelter ETP-Messwert über den
Zeitverlauf dargestellt. Die durch die Einnahme von Apixaban oder Rivaroxaban zunächst
verminderten mittleren ETP-Werte erreichten bereits wenige Minuten nach der Andexanet
Bolus-Gabe wieder den ETP-Normbereich (mittlerer ETP-Wert vor DOAK-Einnahme +/- zwei
Standardabweichung) und persistierten auf diesem Niveau für einige Stunden. Die jeweilige
ETP-Differenz zur Plazebo-Gruppe war innerhalb der ersten 12 Stunden nach Andexanet-Administration
signifikant (p < 0.001). Auch wenn bisher der Zusammenhang zwischen ETP-Werten und der Hämostase
noch nicht vergleichend untersucht wurde und die Studienaussagekraft durch die ETP-Messmethodik
der ANNEXA-A/R-Studie (plasmabasierter In Vitro Assay) limitiert zu bewerten sind,
zeigen diese Daten einen unmittelbaren Einfluss der Aufhebung der Faktor-Xa-Inhibition
durch Andexanet auf die potentielle Thrombingenerierung.[14 ]
Laboranalytische DOAK-Messungen vor und nach Einsatz von Andexanet
Laboranalytische DOAK-Messungen vor und nach Einsatz von Andexanet
Hinsichtlich der pharmakokinetischen Interaktionen zwischen DOAK und anderen Medikamenten
sind die Enzyme vom Typ Cytochrom-P450 und das Transportprotein P-Glykoprotein (P-gp)
von Bedeutung. Eine Hemmung führt zur Wirkverstärkung mit der Folge einer höheren
Blutungsneigung.[26 ] Zu den stärksten Hemmstoffen von CYP3A4 zählen die HIV-Protease-Inhibitoren Indinavir,
Nelfinavir, Ritonavir, die Makrolid-Antibiotika Erythromycin und Clarithromycin (auch
P-gp) sowie die Antimykotika Ketoconazol (auch P-gp), Fluconazol, Itraconazol (auch
P-gp) und Voriconazol.
HIV-Protease-Inhibitoren können die Blutspiegel der Gerinnungshemmer um den Faktor
2,6 ansteigen lassen. Weitere, wenn auch schwächere CYP3A4-Hemmer sind Cimetidin,
Verapamil (auch P-gp), die GrapefruitInhaltsstoffe Naringin und Bergamottin, Amiodaron
(auch P-gp), Ciclosporin (auch P-gp), Diltiazem, Fluvoxamin und Norfluoxetin, der
aktive Metabolit von Fluoxetin. Bei Letzteren besteht eine doppelte Interaktion, da
von den SSRI auch die Thrombozytenaggregation gehemmt wird.
Von den Faktor-Xa-Antagonisten hat Edoxaban das geringste Interaktionspotenzial, da
es zu weniger als 4 Prozent über Cytochrom-Enzyme abgebaut wird. Bei einigen P-gp-Hemmern
wie Ketoconazol gibt es in Kombination mit Edoxaban eine empfohlene Dosisreduktion
des DOAK von 60 auf 30 mg.
Zu beachten ist, dass die Induktion meist mehrere Tage bis zur klinisch relevanten
Ausprägung benötigt und bis zu sieben Tage nach dem Absetzen des Induktors wirken
kann. Induktoren von CYP3A4 sind die Antikonvulsiva Carbamazepin (auch P-gp), Oxcarbazepin,
Phenobarbital und Phenytoin sowie Dexamethason, Rifampicin (auch P-gp) und Hyperforin
aus Johanniskraut (auch P-gp).[26 ] Medikamenteninteraktionen, die zu einer Wirkverstärkung von DOAK führen, sollten
vor der Labormessung der DOAK-Spiegel geprüft (www.dosing.de oder www.dosing-gmbh.de ) und bei der Interpretation der Testergebnisse berücksichtigt werden, insbesondere
bei Blutungen und der Entscheidung für eine Reversierungstrategie.
Wann kann die Bestimmung der Anti-FXa-Aktivität nützlich sein?
VKA, die bis vor etwa 10 Jahren standardmäßig eingesetzt wurden, erforderten eine
regelmäßige Überwachung, da die Therapie innerhalb eines engen therapeutischen Bereichs
durchgeführt werden muss. Grundsätzlich besteht einer der Vorteile der DOAK darin,
dass sie im Gegensatz zu den VKA nicht überwacht werden müssen.
Die Konzentration eines DOAK zu bestimmen, kann in kritischen klinischen Situationen
nützlich sein. Dazu gehören z.B. anstehende chirurgische Eingriffe oder Notoperationen,
Traumata, akute Schlaganfälle oder andere thromboembolische Ereignisse, Überdosierungen
oder Blutungen. Mittlerweile gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Konzentration
der direkten Faktor-Xa-Inhibitoren im Blut zu bestimmen:
Welche Messmethoden gibt es aktuell?
Quantitative Messung der Anti-Faktor-Xa-Aktivität im Citratplasma
Diese Analyse stellt inzwischen die am weitesten verbreitete Methode zur DOAK-Quantifizierung
in der klinischen Routine dar. Jedes Labor mit einem Analysengerät, welches in der
Lage ist die klassischen Analyten für die Gerinnung (z.B. aPTT, Quick, Fibrinogen,
D-Dimere etc.) automatisiert zu messen, kann prinzipiell auch einen kalibrierten Anti-FXa
Test zur Verfügung stellen. Die Reagenzien haben mittlerweile eine hohe Anwenderfreundlichkeit
und sind zudem sehr stabil. So ist die Stabilität der Anti-FXa Teste in den Analysegeräten
bei einigen Anbietern über 3,5 Tage.[27 ]
[28 ]
Eine weitere Möglichkeit besteht darin diese Analysen mit einer bereits am Labor etablierten
NMH -Kalibration durchzuführen.[27 ] Da die Dosis-Wirkungsbeziehung bei den DOAK allerdings eine andere Charakteristik
als die von NMH aufweisen kann, eignet sich dieser Ansatz nur mit Einschränkungen.
Die Kenntnis der Übertragbarkeit auf die speziellen Analyten mit dem konkreten Test
und dem konkreten Gerät ist grundsätzlich immer notwendig.[27 ]
[28 ] Der Vorteil einer Messung der Anti-FXa-Aktivität im Citratplasma ist in Notfallsituationen,
dass prinzipiell NMH und direkte Faktor-Xa-Hemmer mit dem gleichen Reagenz gemessen
werden können (der Unterschied liegt lediglich in der Kalibrierung für jede Substanz).
Damit wären zumindest semi-quantitative Abschätzungen der Antikoagulations-intensität
möglich, ohne dass eine DOAK-spezifische Kalibration erforderlich ist.
Quantitative und qualitative DOAK-Messung mit Massenspektrometrie (MS)
Die Massenspektrometrische Analytik der DOAK stellt bis heute den Goldstandard dar.
Diese technisch sehr aufwendige Methode ist allerdings nur wenig verfügbar und im
Rahmen der Routinediagnostik daher nur bedingt geeignet. Es gibt allerdings inzwischen
breit aufgestellte Protokolle, die mittels einer Hochleistungsflüssigkeitschromatographie
(HPLC)-MS/MS eine parallele Bestimmung von direkten Faktor-Xa-Hemmern (Apixaban, Edoxaban,
Rivaroxaban) und Thrombin-Hemmern (Dabigatran und z.T. auch Argatroban) zu ermöglichen,
was vor allem für toxikologisch-forensische Fragestellungen, aber auch bei unklarer
Gerinnungsentgleisung mit vermuteter DOAK-Überdosierung von großer Bedeutung sein
kann.[29 ]
[30 ]
Nicht-spezifische Messung der Anti-FXa-Aktivität mit Viskoelastometrie
Eine weitere Möglichkeit bietet die Abschätzung einer DOAK-Aktivität aus citrathaltigem
Vollblut mittels viskoelastischer Messung. Die Verfügbarkeit viskoelastischer Verfahren
zur Messung in der Breite ist derzeit nicht gegeben. Zudem existieren unterschiedliche
Testsysteme, welche nicht alle zur Bestimmung von DOAK-Spiegeln geeignet sind. Daher
sind die Sensitivitäten und Spezifitäten zur Bestimmung von DOAK-Spiegeln sehr unterschiedlich
und für die jeweiligen Testverfahren anzugeben.
So wird z.B. über ein Russells Viper Venom (dRVV)-Reagenz der noch vorhandene Faktor
X der Probe aktiviert, welcher in der aktivierten Form dann Gerinnung und Gerinnselbildung
auslöst. Sensitivität und Spezifität werden für DOAK-Werte ≥ 50 ng/mL und ≥ 100 ng/mL
für den ClotPro® angegeben (z.B. für Apixaban ≥ 50 ng/mL und dRVV-Zeit > 136 s: Sensitivität
80% [95% KI 66–89%], Spezifität 88% [95% KI 71–96%])[30 ]
[31 ] und liegen derzeit noch am höchsten im Vergleich zu anderen viskoelastischen Messverfahren.[32 ] Inwieweit diese Analysen eine hinreichende Sicherheit und breite klinische Verfügbarkeit
bieten, bleibt weiterhin zu diskutieren.
Ausschluss relevanter DOAK-Konzentration mit Urin-Streifentest
Auch aus Urin kann mittlerweile eine Bestimmung der Konzentration der DOAK erfolgen.[33 ]
[34 ] Das Prinzip ist eine Messung über Farbindikatoren, nachdem der Chromophor eines
Faktor-Xa-spezifischen Peptids durch den Faktor Xa der Probe freigesetzt wird. Letztendlich
ist die Bestimmung des DOAK zwar möglich; eine Korrelation zur Blutkonzentration konnte
aber bisher nur eingeschränkt gezeigt werden. Erste Anwenderdaten deuten darauf hin,
dass ein negatives Testergebnis im Urin-Streifentest klinisch relevante DOAK-Konzentrationen
hinreichend sicher ausschließen kann,[35 ] wenn zudem sicher ist, dass der Patient in den letzten Stunden keine DOAK mehr eingenommen
hat. Einschränkungen der Methode bestehen in der Fehleranfälligkeit bei verfärbtem
Urin und im häufigen Auftreten einer Anurie bei Notfallpatienten.
Eine Übersicht zu den aktuellen DOAK-Test-Systemen zeigt <[Tabelle 4 ] > .
Tabelle 4
Testsysteme unter DOAK-Gabe und unter Andexanet-Gabe
aPTT
PT/Quick
TZ/dTZ
anti-FXa spezifisch
kalibriert
anti-FXa kalibriert mit
NMH
Massen-
spektrometrie
Dipstick
Visko-
elastizität
DOAK (aXa)
a)
a)
−
+ ++
+ +
+ + + +
b)
+
DOAK-AA
k.a.
k.a.
k.a
nur für veränderte Testbedingungen
k.a.
k.a.
k.a.
nur Spiking Experimente
a) Ausmaß der Testempfindlichkeit variiert stark in Abhängigkeit von Plasmaspiegel,
Testreagenz, Messinstrument, weiterer hämostaseologische Beeinflussung
b) Korrelation zwischen Konzentration im Urin und im Blut nicht geklärt
Rationale der Anti-FXa-Aktivitäten-Bestimmungen
Rationale der Anti-FXa-Aktivitäten-Bestimmungen
Mit all diesen verschiedenen Messmethoden wird im klinischen Alltag versucht, Antworten
darauf zu erhalten, ab welcher Konzentration des DOAK im Blut es zu einer Blutungsneigung
(positiver prädiktiver Wert [PPV]) in definierten Situationen kommt bzw. wann die
Medikation vor einem Eingriff beendet werden sollte, um hämorrhagische Komplikationen
zu minimieren. Weitere Studien sind hier wesentlich, um die Patientensicherheit zu
erhöhen. Mit der Zulassung von Andexanet kamen zudem drei neue Fragen auf:
Gibt es für die Indikationsstellung zum Einsatz von Andexanet einen klinisch sinnvollen
Cut-off-Wert für die Anti-FXa-Aktivität?
Werden durch die Gabe von Andexanet andere Laborparameter verfälscht oder Analysen
beeinträchtigt?
Können die Teste für die Anti-FXa-Aktivität eine zuverlässige Information über die
Effektivität einer Andexanet-Gabe geben bzw. helfen, eine trotz Andexanet-Gabe fortbestehende
Blutungsneigung zu klären?
Zu Frage 1 (Existieren sinnvolle Cut-off-Werte):
Die Cut-off-Werte zum Einsatz von Andexanet sind derzeit durch die ANNEXA-4-Studie
mitbestimmt. Die FDA hat für die Auswertung der ANNEXA-4-Studie und für die Durchführung
von ANNEXA-I gefordert, dass die Wirksamkeitsanalyse auf Patienten mit DOAK-Spiegeln > 75 ng/mL
zu fokussieren ist.[10 ]
[11 ]
Obwohl es derzeit keine definierten Grenzwerte für eine DOAK-Antagonisierung mit spezifischen
Antidots bei Blutungen gibt, empfehlen einzelne Fachgesellschaften wie beispielsweise
das International Council for Standardization in Haematology (ICSH) allgemein eine
Antagonisierung bei Dabigatran-, Apixaban- und Rivaroxaban-Werten > 50 ng/mL.[36 ]
Alle diese Fragen sind im Management akuter Notfallpatienten unter einer Therapie
mit direkten oralen Faktor-Xa-Hemmern häufig entscheidend – momentan sind die Antworten
darauf aber noch limitiert und die folgenden Aspekte sollten daher nicht als endgültig
oder vollständig interpretiert werden.
Zu Frage 2 (Einfluss von Andexanet auf Laborparameter und Testverfahren):
Klinisch bestehen die momentan bekanntesten und bedeutsamsten Interaktionen eines
Andexanet-Einsatzes mit anderen Gerinnungstests und der Problematik einer Steuerung
von unfraktioniertem Heparin (UFH), z.B. im Rahmen kardiochirurgischer Eingriffe.[37 ]
Die Fallbeschreibung eines Patienten unter Apixaban-Therapie mit einer kardiochirurgischen
Notfall-OP beschreibt die Probleme bei der gleichzeitigen Verwendung von Apixaban,
Andexanet und UFH.[37 ] Die Rolle des Antithrombins für die Einstellung der zielgerichteten Heparin-Konzentration
mittels aktivierter Gerinnungszeit (activated clotting time, ACT) steht im Mittelpunkt
der Publikation und wird in einem Editorial diskutiert.[38 ] Auch hier zeigt sich, dass die Wirkung des Andexanet bisher nur in Teilbereichen
untersucht ist und damit die Messbarkeit insgesamt erschwert wird.
Ausdrücklich abzuraten ist von einer Bestimmung der Anti-FXa-Aktivität nach erfolgter Andexanet-Gabe. Nachdem Andexanet zunächst das DOAK gebunden hat kommt es bei der
Vorbereitung der Blutprobe auf die Analyse zu einer starken Verdünnung der Probe,
wodurch es zu einer Dissoziation des Andexanet-DOAK-Komplexes und damit zu einem artifiziellen
Anstieg der Anti-FXa-Aktivität in der Blutprobe kommt. Hier können in der Zukunft
adaptierte Testverfahren, wie sie auch in der ANNEXA-4- und ANNEXA-I-Studie angewendet
wurden, zum Einsatz kommen. Ziel ist bei diesen Testen, die Verdünnungen im Testsystem
so weit wie möglich zu reduzieren.[39 ]
Zu Frage 3 (Korrelation zwischen gemessenen Anti-FXa-Aktivitätswerten und Therapieeffektivität)
Wie oben ausgeführt erreicht die Andexanet-Gabe bei über 80% der Patienten eine gute
klinische Blutstillung und eine ca. 70-90%ige Reduktion der Anti-FXa-Aktivität.[10 ]
[11 ] Trotzdem wird bei einem Teil der Patienten eine unzureichende Antagonisierung bzw.
eine fortbestehende Blutungsneigung beobachtet. Mögliche Risikofaktoren für ein Blutungsrezidiv
nach initialer Antagonisierung könnten dabei sehr hohe initiale Anti-FXa-Aktivitäten,
verlängerte DOAK-Halbwertszeiten und/oder zugrunde liegende Begleiterkrankungen sein,
die die initiale Blutung mitverursacht haben.
Patienten mit hohen initialen Anti-FXa-Aktivitäten in Bezug auf die eingesetzte Andexanet-Dosis
wurden in der ANNEXA-4-Studie gesondert ausgewertet: Hohe Spiegel waren definiert
als > 300 ng/mL für Apixaban (n = 9 Patienten) und > 210 ng/mL für Rivaroxaban (n = 35) bei einem Einsatz von niedrigdosierten Andexanet, bzw. Anti-FXa-Aktivität > 400 ng/mL
für Rivaroxaban (n = 5) bei Verwendung von hochdosierten Andexanet. Trotz der hohen initialen Anti-FXa-Aktivitäten
konnte durch Andexanet eine Reduktion der Anti-FXa-Aktivitäten um 94% bzw. 80% und
98% erzielt werden. Die hämostatische Wirksamkeit war dabei in 100% bzw. 74% und 100%
exzellent oder gut. Bei adäquater Dosierung von Andexanet scheinen daher auch hohe
Ausgangsspiegel von Apixaban und Edoxaban nicht zwingend zu einem klinisch unzureichenden
Andexanet-Effekt zu führen.[10 ]
Non-Responder innerhalb der ANNEXA 4-Studie (keine unmittelbare Blutstillung)
Non-Responder innerhalb der ANNEXA 4-Studie (keine unmittelbare Blutstillung)
Analysiert man sogenannte „Non-Responder“ (keine exzellente oder gute Wirksamkeit),
so zeigt sich, dass diese Patienten zwar im Mittel etwas höher liegende Anti-FXa-Aktivitäten
aufwiesen als in der Gesamtstudie (Apixaban-Non-Responder 179,7 ng/mL [95% Konfidenzintervall
KI, 141,9–253,2 ng/mL] versus 149,7 ng/mL im Gesamtergebnis bzw. für die Rivaroxaban-Non-Responder
260,4 ng/mL [95% KI, 154,0–297,1 ng/mL] versus 211,8 ng/mL) [10]. Doch der prozentuale
Abfall der Anti-FXa-Aktivitäten war bei den Non-Respondern nicht unterschiedlich zum
Gesamtergebnis: Apixaban -93,9 (95% KI,-95,4–-87,3) versus -92 (95% KI,-93–-91) und
für Rivaroxaban -89,5 (95% KI,-94,6–-77,5) versus -92 (-94–-88). Damit zeigt sich,
dass das so genannte Nicht-Ansprechen nicht durch höhere Baseline-Anti-FXa-Spiegel
oder geringere Effekte der Andexanet-Therapie zu erklären ist.[10 ]
Klinisch plausibel ist dagegen, dass die sehr unterschiedlichen Blutungsursachen,
Komorbiditäten und zusätzlichen Notfalltherapiemaßnahmen das Outcome über die alleinige
Senkung der Anti-FXa-Aktivitäten hinaus erheblich mitbestimmen. Daher ist in einer
receiver operating characteristic (ROC) Analyse auch kein starker Zusammenhang zwischen dem Abfall der Anti-FXa-Aktivitäten
und der hämostaseologischen Wirksamkeit bei allen Blutungstypen beobachtet worden.[10 ] Eine wechselseitige Beziehung zwischen dem Abfall der Anti-FXa-Aktivitäten und der
hämostaseologischen Wirksamkeit kann im Alltag durch weitere klinische Einflussfaktoren
zusätzlich abgeschwächt werden (<[Tabelle 5 ] > ).
Tabelle 5
Klinisch plausible Ko-Faktoren, die die Wirksamkeit von Andexanet vermindern können
Inhibitor
- Art der Blutung (arterielle vs. venös vs. diffus)
- Eingeschränkte Thrombozytenfunktion (angeboren oder erworben/medikamentös)
- Arzneimittelinteraktionen
- Nierenfunktion (Leberfunktion), u.a. mit sehr hohen Konzentrationen eines FXa-Inhibitors
- Rückverteilung eines FXa-Inhibitors aus tiefen Kompartimenten (möglicherweise besonders
relevant bei Edoxabana oder chronischen Überdosierungen)
- Blutungslokalisation
- Ausmaß einer traumatischen Gewebeschädigung
- Verbrauchskoagulopathie beim hämorrhagischen Schock
- Antihypertensive Kontrolle
a Derzeit keine EU-Zulassung für die Anwendung von Andexanet bei akuten lebensbedrohlichen
Blutungen unter Edoxaban, nur in Japan.
Daher ist es für das Management von Blutungsnotfällen klinisch bedeutsam, dass auch
nach einer erfolgreichen initialen Antagonisierung mit Andexanet eine weitere intensive
Überwachung und Therapie erfolgen, um die zahlreichen Folgekomplikationen der Blutung
zu beherrschen (Organschädigung, Infektion, thrombotisches Risiko bei der gleichzeitig
bestehenden Indikation zur Antikoagulation, Akute-Phase-Reaktion mit Hyperkoagulabilität,
Verbrauch von Gerinnungsfaktoren, Verbrauch von Gerinnungsinhibitoren etc.). Gleichzeitig
muss in dieser Phase entschieden werden, ob, wann und in welcher Intensität eine klinisch
prinzipiell weiterhin indizierte Antikoagulation nach der Blutung wieder eingeleitet
werden soll.
Indikationsstellung zum Einsatz von Andexanet
Indikationsstellung zum Einsatz von Andexanet
Wie bereits diskutiert ist die Indikationsstellung zum Einsatz von Andexanet und die
Andexanet-Dosierung im Wesentlichen davon abhängig, wie hoch die zu erwartende in
vivo Plasmakonzentration des Faktor-Xa-Hemmers zum Zeitpunkt des Notfalls ist. Ausschlaggebende
Kriterien (auch in der Andexanet-Fachinformation benannt) sind Art, Dosis und letzter
Einnahmezeitpunkt des DOAK. Sind all diese Informationen vorhanden, kann die Abschätzung
möglicher DOAK-Spiegel und damit der Indikation zum Einsatz von Andexanet pragmatisch
und ohne Zeitverlust vorgenommen werden. Im klinischen Alltag sind diese Informationen
jedoch oft unvollständig oder nur unzuverlässig zu erheben (Fremdanamnese, intubierter
Patient, Aphasie, Demenz etc.). Idealerweise würde dann eine schnelle Messung der
Anti-FXa-Plasmaspiegel helfen, allerdings sind diese nicht in allen Notaufnahmen rund
um die Uhr verfügbar und selbst bei Verfügbarkeit kann die Analyse länger dauern als
die Entscheidung zum Einsatz von Andexanet in der Notsituation gestattet.
Zu diesem Zweck kann es hilfreich sein, weitere Informationen in die Abschätzung möglicher
DOAK-Spiegel einzubeziehen. Dazu können die folgenden Annahmen geeignet sein:
Relevante DOAK-Plasmaspiegel liegen in den ersten 12–18 Stunden nach der letzten DOAK-Einnahme
vor, klingen aber langsam ab[28 ]
Besonders hohe DOAK-Plasmaspiegel können aus einer Akkumulation bei eingeschränkter
Nierenfunktion resultieren, wodurch sich auch die Abklingdauer der DOAK-Wirkung deutlich
verlängern kann[40 ]
Aus diesen Annahmen ergibt sich, dass einerseits ein relevanter DOAK-Spiegel (und
damit ein Beitrag des DOAK zur Blutung) unwahrscheinlich ist, wenn die letzte Einnahme > 18
Stunden zurückliegt und eine geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) > 50 mL/min
(Akkumulation unwahrscheinlich) vorliegt. Wesentlich unterstützt wird die Annahme,
wenn ein Anti-FXa-Plasmaspiegel gemessen werden kann. Auch wenn dieser auf ein NMH
oder UFH kalibriert ist, kann gemeinsam mit dem Labor und je nach Reagenz und Gerät
eine Abschätzung über die Restkonzentration des DOAK gemacht werden.
CE-zertifiziert ist auch der oben angeführte Urin-Streifentest. Bei negativem Ergebnis
im Urin-Streifentest weisen erste wenige Daten darauf hin, dass bei einem Teil der
Proben eine klinisch relevante DOAK-Konzentration ausgeschlossen werden kann und somit
eine Andexanet-Gabe unnötig ist.[35 ]
Erste Daten wurde hierzu auf dem ISTH-Kongress 2022 in London vorgestellt und ein
entsprechender Algorithmus befindet sich derzeit in einer multizentrischen Validierung.[41 ] Die <[Abbildung 2 ]
> versucht Anwendungshinweise für den Gebrauch von Andexanet nach dem derzeitigen Stand
zusammenzufassen.
Abbildung 2 Anwendungshinweise für den Gebrauch von Andexanet.
Fazit zu Andexanet:
Andexanet wirkt schnell und spezifisch bei lebensbedrohlichen oder unkontrollierbaren
Blutungen unter Apixaban und Rivaroxaban - Edoxaban ist weiterhin in Prüfung. Das
Wiedererlangen einer guten Hämostase gelingt bei über 80% der betroffenen Patienten.
Die Indikationsstellung sollte kritisch erfolgen, da neben dem Thromboembolierisiko
der Patienten und den hohen Therapiekosten von Andexanet auch Folgetherapien mit Heparin-Einsatz
(wie bspw. kardiochirurgischer Eingriffe und ECMO) zu berücksichtigen sind.
Zur Indikationsstellung sind die Art des DOAK, die Dosis und der letzte Einnahmezeitpunkt
als wesentlichste Determinanten zu nennen. Jedoch können auch die eGFR, ein (unspezifischer)
Anti-FXa-Spiegel oder der Urin-Streifentest in Einzelfällen einbezogen werden.
Bei der Entscheidung zum Einsatz von Andexanet im Notfallmanagement haben die ärztliche
Expertise und die Handlungsdringlichkeit Vorzug gegenüber den labortechnischen Parametern.
Nach dem Einsatz von Andexanet sollten keine Tests zur Kontrolle der Anti-FXa-Aktivität
erfolgen, da diese falschhohe Werte aufweisen und nicht sicher interpretierbar sind.