Key words
forensic age diagnostics - skeletal age - ossification stages - forensics
Einleitung
Neben zahlreichen klinischen Fragestellungen, die schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts
immer wieder Abschätzungen des Skelettalters erfordern [1], stieg innerhalb des letzten Jahrzehntes auch in Europa der Bedarf nach Skelettaltersschätzungen
im juristischen Kontext [2]
[3]. Bestehen Zweifel am chronologischen Alter einer Person, z. B. im Falle von jugendlichen
Geflüchteten mit fehlenden oder ungültigen Identitätsdokumenten, so können Gerichte
und Behörden medizinische Sachverständige mit der Erstattung altersdiagnostischer
Gutachten beauftragen, wenn eine anderweitige rechtsgültige Überprüfung der Altersangaben
nicht möglich erscheint [4]
[5]. Dabei ist zu beachten, dass Ärzte, die im Auftrag staatlicher Institutionen eine
altersdiagnostische Begutachtung durchführen (meist Spezialisten aus Rechtsmedizin,
Radiologie oder Zahnmedizin), keinen Behandlungsvertrag im Sinne eines Arzt-Patienten-Verhältnisses
schließen. Es handelt sich vielmehr um ein öffentlich-rechtliches Vertragsverhältnis
zwischen medizinischen Sachverständigen und beauftragender Institution (Ärztin/Arzt
in der Rolle des Sachverständigen) [6].
Ziel einer Forensischen Altersdiagnostik ist nicht die tag- oder monatsgenaue „Altersbestimmung“,
sondern der Nachweis des Überschreitens juristisch relevanter Altersgrenzen mit einem
bestimmten Beweismaß (daher: forensische „Altersschätzung“!) [7]. Dahinter steht die Tatsache, dass in Deutschland, ebenso wie auch in zahlreichen
anderen Ländern, verschiedene juristische Entscheidungen von der Über- oder Unterschreitung
gesetzlich definierter Altersgrenzen abhängen, z. B. der Anspruch auf Unterkunft und
finanzielle Ressourcen bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten nach Inobhutnahme
durch das Jugendamt oder die Anwendung des (milderen) Jugendstrafrechts bei noch minderjährigen
Angeklagten. Die juristisch relevanten Altersgrenzen sind in Deutschland das 14.,
18. und 21. Lebensjahr und betreffen verschiedene zivil- und strafrechtliche Fragestellungen
(Übersichten bei [4]
[5]
[8]). Dabei ist es – z. B. beim Thema Volljährigkeit – unerheblich, wie genau das Lebensalter
geschätzt werden kann, denn rechtsrelevant ist nicht die Frage, ob die untersuchte
Person genau 19,5 Jahre oder 25,7 Jahre alt ist, sondern, ob das Überschreiten des
18. Lebensjahres zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, und genau das ist möglich.
In einem altersdiagnostischen Gutachten sind zumeist das wahrscheinlichste Alter und/oder
das absolute Mindestalter einer Person anzugeben, z. T. soll auch zu angeblichen Geburtsdaten
Stellung genommen werden [4]
[5]
[9]. Das absolute Mindestalter entspricht dem Alter der jüngsten Person der Referenzpopulation,
die die entsprechende Merkmalsausprägung aufwies [4]. Bei der synoptischen Betrachtung mehrerer Merkmale ist aus denklogischen Gründen
stets das höchste festgestellte Mindestalter maßgeblich und nicht das niedrigste [5]
[10].
Prinzip der Altersdiagnostik und Einflussfaktoren
Prinzip der Altersdiagnostik und Einflussfaktoren
Die klassische forensische Altersschätzungspraxis basiert auf der wissenschaftlich
begründeten Anwendung der bei allen Menschen in identischer Weise ablaufenden Entwicklung
verschiedener Reifeindikatoren, z. B. Zahn- und Skelettentwicklung [4]. Dabei werden definierte Entwicklungsstadien durchlaufen und können mittels bildgebender
Verfahren dokumentiert werden [4]
[9]. Durch Anwendung von Referenzstudien an Probanden mit gesichertem Lebensalter wird
eine Altersschätzung von Personen mit unbekanntem Lebensalter möglich.
Die ethnische Zugehörigkeit bzw. genetisch-geografische Herkunft einer Person hat
nach derzeitigem wissenschaftlichem Kenntnisstand keinen relevanten Einfluss auf die
Reihenfolge der definierten Stadien der Skelettreifung [11]
[12], sodass die einschlägigen Referenzstudien auf andere ethnische Gruppen übertragbar
sind [13]. Besonderheiten bestehen jedoch bei der hier nicht näher betrachteten Weisheitszahnmineralisation,
bei welcher daher populationsspezifische Referenzstudien verwendet werden müssen [14]
[15].
Anders als bei der ethnischen Zugehörigkeit kann der sozioökonomische Status populationsspezifische
Unterschiede im zeitlichen Verlauf der Skelettreifung bedingen (Entwicklungsverzögerung
bei niedrigerem sozioökonomischem Status) [11]
[16]. Dies ist in der Forensischen Altersdiagnostik zu berücksichtigen und gelingt durch
die Nutzung von Referenzstudien, die an Populationen mit höherem sozioökonomischem
Status erhoben wurden. Dadurch wird eine altersdiagnostisch begutachtete Person mit
niedrigerem sozioökonomischem Status eher jünger geschätzt als sie eigentlich ist,
was bei den allermeisten zivil- und strafrechtlichen Fragestellungen keinen Nachteil
für die untersuchte Person darstellt [11]. Eine Ausnahme bildet allenfalls der Bereich der Sportwettkämpfe, wo „falsch zu
niedrige“ Altersdiagnosen in bestimmten Situationen nachteilhaft sein können [17].
Vorgehen in der forensischen Altersschätzung
Vorgehen in der forensischen Altersschätzung
Die Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik (AGFAD) der Deutschen Gesellschaft
für Rechtsmedizin (DGRM) empfiehlt bei Vorliegen einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage
für die Anwendung von Röntgenstrahlen ein dreistufiges Vorgehen [9]:
-
Anamneseerhebung und körperliche Untersuchung dienen v. a. dem Ausschluss von Krankheiten
und Medikationen, die mit einer Akzeleration körperlicher Entwicklungsmerkmale einhergehen
können (z. B. Pubertas praecox) [18]. Das Nichterkennen von Akzelerationsfaktoren kann zu einer juristisch nachteilhaften
Überschätzung des Lebensalters führen. Dies ist strengstens zu vermeiden. Werden keine
Auffälligkeiten festgestellt, ist die Voraussetzung gegeben, um vom biologischen Alter
(z. B. Zahnalter oder Skelettalter) auf das chronologische Alter schließen zu können.
Zusätzlich werden anthropometrische Maße sowie äußerlich erkennbare sexuelle Reifezeichen
erfasst.
-
Es folgt die Röntgenuntersuchung der linken Hand und die Orthopantomographie (OPG)
des Kiefers. Letztere dient v. a. der radiologischen Evaluation der Weisheitszahnmineralisation,
auf die im vorliegenden Beitrag nur marginal eingegangen und bzgl. näherer Details
auf andere Arbeiten verwiesen wird [5]
[14]
[15]. Nach AGFAD wird bei dieser Untersuchungsstufe auch eine zahnärztliche Inspektion
der Mundhöhle empfohlen.
-
Stellt die (Kinder-)Radiologie die abgeschlossene Entwicklung des Handskeletts fest,
schließt sich als dritte Untersuchungsstufe eine Computertomographie (CT) der Sternoclaviculargelenkregion
an. Dies ist erforderlich, da sowohl die Wachstumsfugen von Hand und Handgelenk als
auch die Weisheitszahnmineralisation bereits vor dem 18. Lebensjahr vollständig abgeschlossen
sein können [19]
[20]. Nur mithilfe einer Bewertung des später vollendeten Ossifikationsprozesses der
medialen Claviculaepiphysen sind Aussagen zum 18. und 21. Lebensjahr möglich [21].
Klassische radiologische Methoden
Klassische radiologische Methoden
Da zwischen den Reifungsvorgängen verschiedener Teile des menschlichen Skeletts sehr
enge Beziehungen bestehen, kann der Reifezustand einzelner definierter Skelettabschnitte
als Ausdruck der allgemeinen Skelettreife aufgefasst werden [22]
[23]. Die Ossifikation des Handskeletts wird als repräsentativ für die gesamte Skelettreifung
– und damit auch für das sog. Skelettalter – betrachtet [24]
[25]
[26]. Neben dem aus diesem Grund angezeigten Handröntgen ist für die Forensische Altersdiagnostik
entsprechend der oben beschriebenen AGFAD-Empfehlungen auch die CT der medialen Claviculaepiphysen
von Bedeutung [9].
Handröntgen
Umfassende Übersichten und Hintergründe zur Röntgenuntersuchung von Hand und Handgelenk
im Kontext der forensischen Altersschätzung finden sich bei Schmidt et al. [23] und bei Schmeling et al. [4]
[5]. Grundsätzlich erfolgt die standardisierte projektionsradiographische Aufnahme der
linken Hand im dorsovolaren Strahlengang. Die distalen Anteile von Radius und Ulna
müssen mit abgebildet sein, da die Fusion dieser Epiphysen den Reifungsprozess des
gesamten Handskeletts beendet und daher von großer Bedeutung ist. Das Handradiogramm
ist aus einigen Gründen für die Forensische Altersdiagnostik besonders geeignet: relativ
geringe interindividuelle Variabilität, hohe Anzahl an bewertbaren Ossifikationszentren,
gute Zugänglichkeit für standardisierte röntgenologische Darstellung und sehr geringe,
körperstammferne Strahlenexposition [23].
Zur Bestimmung des Handskelettalters werden Form und Größe der einzelnen Knochenelemente
sowie der Ossifikationsgrad der Epiphysenfugen beurteilt. Hierfür stehen Atlasmethoden
(Vergleich des erstellten Handradiogramms mit Standardaufnahmen [24]
[25]
[27]) und Einzelknochenmethoden (z. B. Reifegradbestimmung von Ulna, Radius oder Knochenelementen
des I., III. und V. Strahls [26]
[28]
[29]
[30]) zur Auswahl. Planimetrische Methoden konnten sich nicht durchsetzen. Da der höhere
Zeitaufwand der Einzelknochenmethoden die Aussagegenauigkeit nicht wesentlich verbessert,
werden die etablierten Atlasmethoden von Greulich u. Pyle [24] und von Thiemann et al. [25] für die forensische Altersschätzungspraxis empfohlen [31]. Sie sind heute trotz früher eintretender Pubertät weiter valide einsetzbar [32]. Der Einsatz computerassistierter Systeme zur Altersschätzung ist nach Meinung der
Autoren für den Gutachtenfall im Rahmen der forensischen Altersdiagnostik (bislang)
nicht zu empfehlen.
Die am weitesten verbreitete Atlasmethode zur Bestimmung des Skelettalters ist das
Verfahren nach Greulich u. Pyle [24]. Der Atlas enthält nach Geschlechtern getrennt die jeweils repräsentativsten von
100 Handradiogrammen altersidentischer Kinder und Jugendlicher einer sozioökonomisch
hochentwickelten Population aus Cleveland, USA, zwischen 0 und 19 Jahren (männliche
Individuen) bzw. zwischen 0 und 18 Jahren (weibliche Individuen), die in den 1930er
Jahren angefertigt wurden. Zur Bestimmung des Handskelettalters wird das zu beurteilende
Handradiogramm mit den alters- und geschlechtsspezifischen Referenzaufnahmen des Atlas
visuell verglichen. Bei der Bewertung des Handskelettalters ist zu beachten, dass
eine große physiologische Schwankungsbreite vorliegt. Die beim Vorliegen einer dissoziierten
Reifung bestehenden Schwierigkeiten in der Diagnose des Handskelettalters (z. B. unterschiedlicher
Reifegrad zwischen Fingerepiphysen und Carpalia) spielen bei fortgeschrittener Skelettentwicklung
– und damit in der Forensischen Altersdiagnostik – allerdings in der Regel keine wesentliche
Rolle mehr.
Für die weitere Nutzung des (kinder-)radiologischen Befundes nach Greulich u. Pyle
[24] ist im Rahmen der Forensischen Altersdiagnostik die Anwendung von forensischen Referenzstudien
erforderlich, die einerseits die Greulich/Pyle-Methode verwendet haben und andererseits
auch skelettaltersspezifische Streuungsmaße angeben [19]
[33]. Erfüllt das zu beurteilende Handradiogramm z. B. die Reifekriterien des „MALE STANDARD
26“ (= Handskelettalter von 15 Jahren), aber noch nicht diejenigen des „MALE STANDARD
27“ (= Handskelettalter von 15,5 Jahren), so wird die Aufnahme dem Handskelettalter
von 15 Jahren zugeordnet. Nach Tisè et al. [19] wird nun das mittels Greulich/Pyle-Methode bestimmte „Handskelettalter 15 Jahre“
bei männlichen Individuen frühestens mit einem chronologischen Alter von 13,8 Jahren
beobachtet, spätestens mit 16,3 Jahren und im Median mit 15,1 Jahren (Interquartilsabstand
0,6 Jahre). Das bedeutet, dass das in diesem Fall unter Anwendung der Referenzdaten
von Tisé et al. [19] festgestellte Ergebnis der Skelettaltersbestimmung („Handskelettalter 15 Jahre“)
also auch bei Personen unterhalb der juristisch relevanten Altersgrenze von 14 Jahren
vorkommt und somit – bei alleiniger Betrachtung des Altersindikators „Handskelettalter“
– die untersuchte Person das 14. Lebensjahr nicht mit der im Strafrecht erforderlichen
an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit überschritten hat (Mindestalterkonzept
nach Schmeling et al. [4]). Weitere Fallbeispiele zeigt [Abb. 1].
Abb. 1 Handradiogramm in der Forensischen Altersdiagnostik. a Linksseitiges Handradiogramm eines 13 Jahre und 10 Monate alten Jungen aus der klinischen
Routinediagnostik. Die Aufnahme erfüllt bei Anwendung der Greulich/Pyle-Methode die
Kriterien des „MALE STANDARD 23“ (= Handskelettalter von 13 Jahren). Die Kriterien
des „MALE STANDARD 24“ (= Handskelettalter von 13,5 Jahren) werden noch nicht erfüllt.
Wäre das Alter dieser Person unbekannt und würde die Frage nach dem strafrechtlich
relevanten vollendeten 14. Lebensjahr bestehen, so könnte im vorliegenden Fall gemäß
einschlägiger Referenzliteratur nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
belegt werden, dass die betroffene Person bereits strafmündig ist. b Linksseitiges Handradiogramm einer männlichen Person mit unbekanntem Alter. Das Handskelett
ist vollständig ausgereift, insbesondere die beiden distalen Epiphysenfugen von Radius
und Ulna sind vollständig ossifiziert. Die Aufnahme erfüllt somit bei Anwendung der
Greulich/Pyle-Methode die Kriterien des im Atlas zuletzt genannten „MALE STANDARD
31“ (= Handskelettalter von 19 Jahren). Nach Tisè et al. [19] kann ein solches „Handskelettalter 19 Jahre“ bei Frühentwicklern bereits mit einem
chronologischen Alter 16,1 Jahren vorkommen. Somit kann Volljährigkeit (vollendetes
18. Lebensjahr) bei Vorliegen einer abgeschlossenen Handskelettentwicklung nicht zweifelsfrei
angenommen werden. Es ist daher die zusätzliche Untersuchung der medialen Schlüsselbeinenden
mittels CT indiziert.
Für die finale Altersdiagnose ist jedoch i. d. R. nicht allein das Handskelettalter
von Bedeutung. Gemäß der o. g. AGFAD-Empfehlungen ist noch mindestens ein weiteres
Entwicklungssystem zu berücksichtigen, üblicherweise die Weisheitszahnmineralisation,
sofern diese im OPG beurteilbar ist, und – bei abgeschlossener Handskelettentwicklung
– der Ossifikationsgrad der medialen Claviculaepiphysen.
CT der medialen Claviculaepiphysen
Die Clavicula des Menschen weist als erster Knochen ein primäres und als letzter Knochen
ein sekundäres Ossifikationszentrum (Epiphyse) auf [34]. Da bei Frühentwicklern sowohl die Handskelettentwicklung als auch die Weisheitszahnmineralisation
bereits vor dem 18. Lebensjahr vollständig abgeschlossen sein können ([Abb. 1b]) [19]
[20], ist zu Fragen des abgeschlossenen 18. oder 21. Lebensjahres eine native CT-Untersuchung
der medialen Claviculaepiphysen (MCE) mit Darstellung im Knochen- und Weichteilfenster
erforderlich. Die Beurteilung des Ossifikationsgrades der MCE erfolgt mittels Zuordnung
zu einem der fünf Hauptstadien nach Schmeling et al. (2004) [35] und zusätzlich – bei Vorliegen des Hauptstadiums 2 oder 3 – mittels weiterer Subklassifizierung
nach Kellinghaus et al. (2010) [36] zu den Unterstadien 2a, 2b oder 2c bzw. 3a, 3b oder 3c ([Abb. 2]). Für die sichere Bestimmung der Hauptstadien wurde ein eigener Algorithmus vorgeschlagen
[37]. Neben der axialen Ansicht muss die coronare Betrachtungsebene bei der Stadienbestimmung
berücksichtigt werden [38].
Abb. 2 Etabliertes Klassifikationssystem für die mediale Claviculaepiphyse in der Forensischen
Altersdiagnostik. Die erste Reihe zeigt die fünf Hauptstadien nach Schmeling et al.
[35]: 1 = Epiphyse nicht ossifiziert; 2 = isoliertes Ossifikationszentrum der Epiphyse;
3 = partielle knöcherne Fusion zwischen epiphysärem Ossifikationszentrum und Metaphyse;
4 = Epiphyse vollständig ossifiziert und Epiphysenfugennarbe noch erkennbar; 5 = Epiphyse
vollständig ossifiziert und Epiphysenfugennarbe nicht mehr erkennbar. Die zweite und
dritte Reihe zeigen die Unterstadien nach Kellinghaus et al. [36]: 2a = Länge der ossifizierten Epiphyse beträgt maximal ein Drittel der Metaphysenbreite;
2b = Epiphysenlänge beträgt mehr als ein Drittel und maximal zwei Drittel der Metaphysenbreite;
2c = Epiphysenlänge beträgt mehr als zwei Drittel der Metaphysenbreite; 3a = Die knöcherne
Fusionsstrecke zwischen Epiphyse und Metaphyse beträgt maximal ein Drittel der Epiphysenfuge;
3b = Die knöcherne Fusionsstrecke zwischen Epiphyse und Metaphyse beträgt mehr als
ein Drittel und maximal zwei Drittel der Epiphysenfuge; 3c = Die knöcherne Fusionsstrecke
zwischen Epiphyse und Metaphyse beträgt mehr als zwei Drittel der Epiphysenfuge.
Da die Schichtdicke der CT-Aufnahmen einen erheblichen Einfluss auf die Stadienbestimmung
ausübt, dürfen die rekonstruierten Schichten maximal 1 mm dick sein [39]. Die Qualifikation des Befundenden spielt eine entscheidende Rolle: Unerfahrene
tendieren z. B. dazu, diverse anatomische Normvarianten der MCE ([Abb. 3]) unzulässigerweise einem der klassischen Haupt- oder Unterstadien zuzuordnen. Dies
ist in dieser Situation aber nicht möglich, da nicht bekannt ist, ob die anatomischen
Normvarianten denselben Korrelationen zwischen Entwicklungsgeschwindigkeit und morphologischer
Erscheinung unterliegen wie die typischen stempelförmigen MCE, für die die Haupt-
oder Unterstadien entwickelt wurden [40]. Die Stadienbestimmung bei den MCE sollte auch aus diesem Grund nach Möglichkeit
immer im Konsensus von mindestens zwei Befundenden und nur von Befundenden mit entsprechend
hohem Grad an spezifischer Qualifikation durchgeführt werden [40].
Abb. 3 Anatomische Normvarianten der medialen Claviculaepiphyse. a Fischmaulform. b Schüsselform mit multiplen Knochenkernen.
Mittlerweile wurde eine Vielzahl von forensischen CT-Studien zur MCE-Ossifikation
publiziert, sodass diese Untersuchungsmethode aus Autorensicht auf einer sehr soliden
Datenbasis steht [36]
[41]
[42]
[43]
[44]
[45]. Aus der Studienlage ergibt sich, dass bei Vorliegen der Stadien 3c, 4 oder 5 das
18. Lebensjahr bei beiden Geschlechtern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
als überschritten betrachtet werden kann. Die Stadien 4 und 5 belegen bei beiden Geschlechtern
ein abgeschlossenes 21. Lebensjahr.
Kritiker der Forensischen Altersdiagnostik haben wiederholt die Studien von Bassed
et al. (2011) [46] und Pattamapaspong et al. (2014) [47] angeführt, um das Vorkommen der Stadien 3c und 4 auch unterhalb des 18. Lebensjahres
zu belegen. Allerdings ist an verschiedener Stelle bereits aufgezeigt worden [21]
[42]
[48]
[49], dass diese beiden Arbeiten teils gravierende methodische Mängel und systematische
Fehler aufweisen, z. B. das Nicht-Erkennen bzw. das unzulässige Bewerten anatomischer
Normvarianten, was zu zahlreichen Fehlbestimmungen geführt haben dürfte. Auch Gerichte
(z. B. das OVG Bremen) halten diese Studien für nichtbeachtenswert, da z. B. die Arbeit
von Bassed et al. (2011) [46] als einzige von über 40 Studien mit mehr als 15 000 Probanden zu solchen Ergebnissen
komme [50]. Die beiden o. g. Arbeiten können daher nicht als Referenzstudien für die Forensische
Altersdiagnostik herangezogen werden.
In der aktuell gültigen AGFAD-Empfehlung wird neben der CT auch die projektionsradiografische
Untersuchung zur Bewertung der MCE als gleichwertige Alternative benannt [9]. Die MCE in Standard-posterior-anterior-Röntgenaufnahmen, auf denen auch sämtliche
radiographische Referenzdaten zu den MCE beruhen, sind jedoch häufig wegen Superimpositionsphänomenen
(z. B. Überlagerung von MCE und Wirbelsäule) nicht auswertbar. In der Praxis werden
dann häufig ergänzende Schrägaufnahmen gefertigt (left anterior oblique [LAO] und
right anterior oblique [RAO]), um die MCE beider Seiten beurteilen zu können [51]. Eine große Vergleichsstudie an mehr als 800 Schlüsselbeinen hat jedoch gezeigt,
dass diese Vorgehensweise nicht selten zu falsch-hohen Ossifikationsstadien führt
(z. B. Stadium 5 in LAO statt Stadium 3 in PA), wodurch strikt zu vermeidende Altersüberschätzungen
eintreten [52]. Daraus wurde geschlussfolgert, dass die MCE-Referenzdaten der PA-Aufnahmen nicht
für Schrägaufnahmen zulässig sind und dass – sofern die radiologischen Untersuchungen
zur Forensischen Altersdiagnostik im Vorfeld geplant werden können – die CT als Methode
der Wahl und die projektionsradiographische Untersuchung als obsolet betrachten werden
müssen [52].
Indikationsstellung und strahlenschutzrechtliche Aspekte
Indikationsstellung und strahlenschutzrechtliche Aspekte
Gemäß § 83 Abs. 1 des seit 2017 geltenden Strahlenschutzgesetzes (StrlSchG) darf ionisierende
Strahlung wie Röntgenstrahlung in Deutschland grundsätzlich nur (1.) „im Rahmen einer medizinischen Exposition“ oder (2.) „im Rahmen der Exposition der Bevölkerung zur Untersuchung einer Person in durch
Gesetz vorgesehenen oder zugelassenen Fällen oder nach Vorschriften des allgemeinen
Arbeitsschutzes oder nach Einwanderungsbestimmungen anderer Staaten (nichtmedizinische
Anwendung)“ zum Einsatz kommen. Da es sich bei den für die Forensische Altersdiagnostik erforderlichen
Röntgenuntersuchungen nicht um medizinisch indizierte Untersuchungen handelt, fallen
diese unter Punkt 2.
Im Fall der röntgenologischen Untersuchungen bei Altersschätzungen im Strafverfahren
geschieht dies auf der Grundlage des § 81a der Strafprozessordnung (StPO). Im Zivilrecht
kommen je nach Fragestellung diverse andere gesetzliche Ermächtigungsgrundlagen in
Betracht, z. B. im Zusammenhang mit Inobhutnahmen und der Gewährung von Sozialleistungen:
§ 42 f SGB VIII und § 62 SGB I [50] (Übersichten bei [4]
[5]
[8]). Der medizinische Sachverständige sollte darauf achten, dass der richterliche Beschluss
oder behördliche Antrag zur Durchführung einer Forensischen Altersdiagnostik die jeweilige
einschlägige gesetzliche Ermächtigungsgrundlage und den Untersuchungsumfang umfassend
und dezidiert benennt [8].
In jedem Fall hat nach § 83 Abs. 2 StrlSchG ein „Arzt oder Zahnarzt mit der erforderlichen Fachkunde im Strahlenschutz“ die „rechtfertigende Indikation“ zu stellen. Dort heißt es weiter: „Die rechtfertigende Indikation erfordert bei nichtmedizinischen Anwendungen die Feststellung,
dass der mit der jeweiligen Untersuchung verbundene Nutzen gegenüber dem Strahlenrisiko
überwiegt.“ Vergleiche der effektiven Strahlendosen der zur Forensischen Altersdiagnostik eingesetzten
Röntgenuntersuchungen (z. B. Handradiogramm: 0,0001 mSv, OPG: 0,026 mSv, CT Claviculae:
0,4 mSv) mit denjenigen natürlicher und zivilisatorischer Strahlenexpositionen (z. B.
durchschnittliche natürliche Strahlenexposition in Deutschland pro Jahr: 2,1 mSv)
haben gezeigt, dass eine oberhalb üblicher Alltagsrisiken liegende Gesundheitsgefährdung
durch die röntgenologischen Untersuchungen der Forensischen Alltagsdiagnostik nicht
anzunehmen ist [53]
[54].
Alternative radiologische Methoden und Ausblick
Alternative radiologische Methoden und Ausblick
Neben Handskelett und Schlüsselbeinen werden im Rahmen stetiger Forschungsbemühungen
auch andere Bestandteile des Skelettsystems als Altersindikatoren für die Forensische
Altersdiagnostik in Erwägung gezogen. Beispielsweise erwies sich die Apophyse der
Crista iliaca als geeignet für Aussagen zum 14. und 16. Lebensjahr [55]
[56]. Aufgrund der hohen Strahlenexposition der Gonadenregion kommt dieser Altersindikator
jedoch in der Praxis in Deutschland im Wesentlichen nur zum Einsatz, wenn bereits
im Vorfeld identitätsgesicherte Aufnahmen mit bekanntem Entstehungsdatum vorliegen.
Bei forensischen Altersschätzungen ohne Rechtsgrundlage für Röntgenuntersuchungen
stehen die röntgenstrahlenfreien bildgebenden Verfahren im Fokus. Für die sonographische
Beurteilung der Ossifikation verschiedener Skelettregionen existieren erste Referenzstudien,
die Aussagen zum vollendeten 14. und 18. Lebensjahr zulassen (Zusammenfassung bei
[57]). Die altersdiagnostische Evaluierung der Magnetresonanztomographie (MRT) ist Gegenstand
zahlreicher internationaler Untersuchungen und einer der aktuellen Forschungsschwerpunkte
in der Forensischen Altersdiagnostik (Übersicht bei [58]).
Betreffend die MRT wurden in der Vergangenheit zumeist T1-gewichtete MR-Sequenzen
verwendet, um bei entsprechend guter Detail- und Kontrastauflösung knöcherne Strukturen
optimal darzustellen und zu analysieren. Der zweifelsfreie Nachweis des vollendeten
18. Lebensjahres gelingt – wie beim CT – auch mit Hilfe von MRT-Untersuchungen der
Schlüsselbeine [59]
[60]
[61]. In der Praxis hat sich die MRT der MCE jedoch bislang nicht etabliert, da im Vergleich
zum CT eine deutlich schlechtere Referenzdatenlage besteht und dementsprechend bislang
keine AGFAD-Empfehlung vorliegt. Auch die längeren Scanzeiten, etwaige Kontraindikationen,
die höheren Kosten und die vermehrt erforderliche Compliance zur Vermeidung von Bildartefakten
(und damit die Gefahr der Unauswertbarkeit) dürften dazu geführt haben, dass bei rechtlich
gegebener Anwendbarkeit von Röntgenstrahlen die CT gegenüber der MCE nach wie vor
bevorzugt wird.
Als besonders zukunftsfähig erscheint ein 2018 von Vieth et al. [62] vorgeschlagenes 5-stufiges Klassifikationssystem (Stadium 2 bis 6), welches im 3-Tesla-MR-Scanner
neben einer T1-gewichteten auch eine T2- oder Protonendichte-gewichtete MR-Sequenz
mit Fettsättigung erfordert ([Abb. 4]). Die Autoren konnten zeigen, dass unter Anwendung dieses Klassifikationssystems
der sichere Nachweis des vollendeten 18. Lebensjahres auch an den beiden Epiphysen
des Kniegelenkes (proximale Tibiaepiphyse [PTE] und distale Femurepiphyse [DFE]) potenziell
möglich ist [62]. Inzwischen liegen erste Validierungsstudien bei 1,5 Tesla [63]
[64] und 0,31 Tesla („low-field“ MRT) [65] vor. Die aktuelle Datenlage deutet darauf hin, dass das Stadium 6 in der PTE (bei
männlichen Individuen) und das Stadium 6 in der DFE (bei beiden Geschlechtern) ausschließlich
oberhalb des 18. Lebensjahres vorkommen [62]
[63]
[64]. Diese relativ neuartige Methodik scheint nicht nur für Situationen geeignet, in
denen sich die Anwendung von Röntgenstrahlung verbietet, sondern auch, wenn die CT
der Schlüsselbeine aufgrund beidseitiger Normvarianten für eine Altersschätzung nicht
verwendbar ist.
Abb. 4 Fünf Stadien umfassendes MRT-Klassifikationssystem nach Vieth et al. [62] (Stadien 2 bis 6), hier am Beispiel für die distale Femurepiphyse: 2 = eine kontinuierliche,
intermediäre Bande in T1 und zwei kontinuierliche oder diskontinuierliche hyperintense
Linien in T2/PDFS; 3 = eine diskontinuierliche, intermediäre Bande in T1 und zwei
hyperintense, sporadisch zusammenlaufende Linien in T2/PDFS; 4 = eine diskontinuierliche,
intermediäre Linie mit dickeren hypointensen Abschnitten in T1 und eine dünne, diskontinuierliche
Linie in T2/PDFS; 5 = eine kontinuierliche, intermediäre Linie in T1 und eine diskontinuierliche,
hyperintense Linie in T2/PDFS; 6 = eine kontinuierliche, intermediäre Linie in T1
und kein hyperintenses Signal mehr in T2/PDFS.