Einleitung
Die internationale SARS-Cov-2 Pandemie hat weitreichende Veränderungen in
allen Teilen des Gesundheitssektors verursacht. Gerade in der Anfangszeit der
Pandemie im Frühjahr 2020 war zu beobachten, dass viele als
“elektiv” eingestufte ärztliche Vorstellungen verschoben
wurden. Ältere Menschen und Menschen mit Demenz wurden dabei von den
direkten gesundheitlichen und indirekten sozialen/gesellschaftlichen Folgen
besonders stark getroffen [11]
[21]. Erschwerend war zu beobachten, dass
Menschen mit Demenzerkrankung weniger Zugang zu Informationen haben und Infektions-
und Quarantänemaßnahmen schlechter umsetzen können, was
wiederum das Infektionsrisiko und letztlich die Mortalität deutlich
erhöht [6]
[30]. Während der
Lockdown-Maßnahmen war eine signifikante allgemeine
Funktionsverschlechterung bei diesen Patient*innen zu beobachten, welche
zumindest teilweise Folge der sozialen Distanzierung (engl. social distancing) ist
[3]
[29].
Es existieren vielfältige Berichte, dass Telemedizin auch bei älteren
Menschen mit einer neurodegenerativen Erkrankung (z. B. Alzheimer und
Parkinson) eingesetzt werden kann [1]
[18]
[31].
Dabei bestehen zwar typische Probleme bei der Akzeptanz dieses Verfahrens bei
Therapeut*innen und Patient*innen; die zunehmende Verbreitung von
schnellem Internet und mobilen Endgeräten kommt aber einer verbesserten
Verfügbarkteit, Vertrautheit und Akzeptanz deutlich zugute [25].
Als Gedächtniszentrum des Universitätsklinikums Jena haben wir
bereits zu Beginn des Pandemiegeschehens im Frühjahr 2020 mit der
regulären Einführung einer Video-/Telefonsprechstunde in
Thüringen begonnen. Dabei haben wir neben der regulären Betreuung
von Patient*innen mit Verdacht auf sowie bekannter Demenzerkrankung
systematisch untersucht, wie hoch die Akzeptanz und Zufriedenheit von
Patient*innen und Angehörigen mit dem neuen Medium einer
Videosprechstunde sind.
Unsere Implementation im Alltag, Untersuchungen zur Praktikabilität und
insbesondere der Patient*innenzufriedenheit sollen in dieser Arbeit
vorgestellt und diskutiert werden.
Methodik
Teilnehmer
Untersucht wurden Patient*innen, die sich im Gedächtniszentrum
des UKJ im Zeitraum 04/2020 bis 04/2021 vorstellten. Insgesamt
wurden 90 Patient*innen, davon 50 regulär vor Ort (F2F) und 40
als reine Videokonsultation (VC), untersucht. Alter und Geschlecht beider
Gruppen war vergleichbar (71.4 vs. 72.3 Jahre, 52 vs. 50% weiblich (F2F
vs. VC)); retrospektiv war der MMST in beiden Gruppen vergleichbar (VC 26.1 vs.
F2F 24.5/30 Punkte; Unterschied nicht signifikant). Eingeschlossen
wurden Patient*innen, bei denen eine erste ambulante Vorstellung
(einschließlich Erstvorstellung) bei Verdacht auf demenzielle
Entwicklung oder bei bekannter leichter Demenz geplant war. Ausschlusskriterien
waren eine relevante Sprachstörung, fehlende
Einwilligungsfähigkeit, mittelschweres oder schweres demenzielles
Syndrom, relevante psychiatrische Komorbidität (z. B. schwere
Depression), schwerwiegende Seh-/Hörstörung bzw.
motorische Beeinträchtigung.
Die Studie wurde von der lokalen Ethikkommission genehmigt und in
Übereinstimmung mit der Helsinki-Erklärung II
durchgeführt.
Durchführung
Rekrutierung
Im Rahmen unserer praktischen Routine wurden alle Patient*innen 4
Wochen vor einem geplanten Visitentermin telefonisch kontaktiert und, wenn
möglich, wurde für den geplanten Termin eine
Videokonsultation vereinbart. Informationsmaterial für die geplante
Studie wurden den Patient*innen im Vorfeld postalisch zugestellt und
eine prinzipielle Bereitschaft für die Teilnahme an der Studie im
Anschluss telefonisch abgefragt.
Im Falle einer geplanten Videokonsultation wurde in der Woche vor der
geplanten Untersuchung eine Video-Testverbindung aufgebaut, um
mögliche technische Probleme am Untersuchungstag zu minimieren.
Insgesamt wurden im Studienzeitraum 04/2020–04/2021
90 Patienten untersucht. Bei 40 Patient*innen konnte eine
Videokonsultation (VC) durchgeführt werden. Die übrigen 50
Patient*innen wurden in einem regulären Vorort-Termin (F2F)
untersucht (Gründe für die Teilnahme als F2F: fehlende
technische Voraussetzungen und/oder bei der Testschaltung war die
Videoverbindung nicht herstellbar,
Patient*innen/Angehörige wollten an der Untersuchung
teilnehmen und hatten aber Bedenken gegenüber der VC).
Ablauf
Bei F2F und VC Vorstellung erfolgte die Vorstellung in der Reihenfolge: 1)
neuropsychologische und anschließend 2) ärztliche
Vorstellung mit jeweils standardisierten Testverfahren bzw.
Interviewleitfaden.
In [Abb. 1] sind schematisch
Durchführung und Planung der Videokonsultationen dargestellt.
Abb. 1 Planung und Ablauf der Videokonsultationen.
Patient*innen und deren Angehörige wurden im Vorfeld durch
eine medizinische Fachangestellte (MFA) telefonisch kontaktiert und es wurde
die Möglichkeit der Durchführung einer Videosprechstunde
erörtert. Bei Zustimmung und Vorliegen der technischen und formalen
(Ein-/Ausschlusskriterien) Voraussetzungen wurde dann eine Testschaltung
vereinbart, die vor dem eigentlichen Termin lag. Zum Termin wurde dann die
Verbindung durch das Personal vorbereitet und es erfolgte standardisiert das
Gespräch: 1) Begrüßung und Erklären des
Ablaufes durch eine MFA, 2) neuropsychologische Anamnese und Untersuchung,
3) ärztliches Gespräch und 4) die Beendigung des Kontaktes
durch eine Sozialarbeiterin (hier konnte ggf. ein Folgetermin für
eine ausführlichere Beratung ausgemacht werden) sowie 5) Assessment
der Bewertung des Kontaktes durch Patient*innen und
Angehörige.
Tab. 1 Demographische Daten und Ergebnisse der
neuropsychologischen Testung.
|
F2F vor Ort-Konsultation
|
VC Videokonsultation
|
N
|
50
|
40
|
Geschlecht
|
26w, 24m
|
19w, 19m
|
Alter (in Jahren)
|
71.4±8.9
|
72.3±9.6
|
MMST
|
26.1±4.5
|
24.4±4.7
|
ACE-III *
|
76.4±14.1
|
82.6±10.1
|
Videokonsultation
Für die Videokonsultation wurde die Software RED connect der Firma
RED medical (www.redmedical.de) verwendet. Die Endgeräte der
Patient*innen waren zu über 80%
Laptops oder Desktopcomputer mit Windows 7 (oder höher). Vereinzelt
wurden Tablets mit iOS oder Android verwendet.
Datenerhebung
Neuropsychologische Untersuchung
In der neuropsychologischen Vorstellung erfolgte zuerst eine Kurzanamnese der
für die Einschätzung kognitiver Leistungen relevanten
soziodemographischen und klinischen Daten und eine Erfassung der subjektiven
kognitiven Beschwerden. Danach folgte eine standardisierte Testung mit
neuropsychologischen Verfahren. Es wurde bei allen Patient*innen der
MMST (Mini-Mental State Examination) [9] sowie der ACE-III (Addenbrooke`s Cognitive
Examination) [22] verwendet. Beide
Testverfahren wurden bereits auf ihren Einsatz im telemedizinischen Setting
hin untersucht [7]
[15]. Für den ACE-III gibt es
spezifische Instruktionen für den telemedizinischen Einsatz.
Neurologische Untersuchung und Anamnese
Die ärztlich-neurologische Vorstellung erfolgte nach einem
standardisierten Interview, in dem aktuelle Beschwerden, Vorerkrankungen,
Sozialanamnese und Medikation erfragt sowie eine orientierende neurologische
Untersuchung durchgeführt wurden. Anschließend wurden mit
Patient*innen und ggf. den Angehörigen weitere diagnostische
Schritte und Therapie besprochen.
Bewertung Kognition und technischer Ablauf
Im Anschluss an die Vorstellung (F2F und VC) wurde wurde von jedem
Untersucher getrennt (Neuropsychologe/in und
Arzt/Ärztin) eine Arbeitsdiagnose formuliert und es erfolgte
eine kurze Einschätzung von Kognition, Psychomotorik und Sprache. Im
Falle einer VC wurde zudem der technische Ablauf bewertet. In [Abb. 2] ist das Assessment
entsprechend dem verwendeten standardisierten Interviewleitfaden
dargestellt.
Abb. 2 Kurzeinschätzung des
Patient*innenkontaktes.
Die Einschätzung des Patient*innenkontaktes erfolgte durch
die Untersucher*innen direkt im Anschluss an die Untersuchung/den
Kontakt. Unter „Kurze Einschätzung” wurde der
allgemeine Eindruck von dem Patienten/der Patientin wiedergegeben
(Mehrfachauswahl möglich). Unter Einschätzung zum
Ablauf wurde der technische Ablauf aus Sicht der
Untersucher*innen bewertet.
Am Ende des Termins erfolgte eine abschließende Evaluation der
Sprechstunde durch die Patient*innen (im Beisein der
Angehörigen) mit Hinblick auf allgemeinen Ablauf und
Patient*innenzufriedenheit. Dabei verwendeten wir einen Fragebogen
mit 12 Items in Anlehnung an McKinley und Kollegen [23] (vergleiche [Abb. 3]). Zudem wurden allgemeine und
konkrete technische Probleme erfragt.
Abb. 3 Assessment der Patient*innenzufriedenheit.
Direkt im Anschluss an die Videosprechstunde wurde die
Patient*innenzufriedenheit anhand von 12 Items erfragt. Bewertet
wurde auf einer Skala von 1 (trifft nicht zu) bis 5 (trifft stark zu).
Statistische Auswertung
Die Auswertung der soziodemographischen Daten sowie der numerischen Ergebnisse
der neuropsychologischen Testung (MMST und ACE) erfolgten mittels deskriptiver
Statistik; auf Gruppenunterschiede wurde mittels T-Tests für
unabhängige Stichproben untersucht.
Für die Auswertung der Fragebogen-Items in Ordinalskala mit Bewertung 1
bis 5 erfolgten U-Tests zum Test auf Unterschied zwischen den Gruppen. Die
Signifikanz wurde ab einem p≤0.05 (Bonferroni-korrigiert für
multiple Vergleiche) festgestellt.
Die Überprüfung der Übereinstimmung zwischen der
Untersucher*innenbewertung (ärztlich und neuropsychologisch
getrennt) zum Vorliegen/Schweregrad einer Demenzerkrankung und den
Testergebnissen im MMST und ACE erfolgte mittels Korrelationsberechnung
für beide Gruppen getrennt. Da die Einschätzung ordinalskaliert
mit folgenden Werten vorlag: 0 – keine Demenz, 1 – MCI (leichte
kognitive Beeinträchtigung), 2 – leichte Demenz, 3 –
mittelschwere Demenz, 4 – schwere Demenz erfolgte eine Rangkorrelation
nach Spearman.
Für den Vergleich von zwei Korrelationskoeffizienten erfolgte die
Fisher-R-Z-Transformation und anschließend der Vergleich der beiden
entsprechenden Z-Werte der VC und der F2F Gruppe mittels folgender Formel [8]:
Legende: Z1/2 – transformierte R-Werte, N1/2
– Gruppengröße
Statistische Berechnungen wurden mit SPSS v.23 durchgeführt; Werte ab
einem Signifikanzniveau von 0.05 wurden als signifikant betrachtet.
Ergebnisse
Soziodemographische Daten und objektive statistische Testung
Dabei zeigten sich in T-Tests (für ungepaarte Stichproben,
p≤0.05) für Alter und MMST kein signifikanter Unterschied; im
ACE-III erreichte die VC-Gruppe (mit 82.6 vs 76.4) allerdings einen
höheren Wert als die F2F Gruppe.
Effekt Untersuchungssetting auf die klinische Einschätzung sowie die
neuropsychologischen Testergebnisse
Um die Frage zu beantworten, wie gut die klinische Einschätzung durch den
behandelnden Arzt mit der objektivierbaren neuropsychologischen Testung
übereinstimmt und ob die Höhe der Übereinstimmung vom
Untersuchungssetting abhängt, wurden die Ergebnisse der
neuropsychologischen Testung (MMST und ACE-III) mit der klinischen
Einschätzung des Vorliegens/Schweregrades einer Demenz korreliert.
Unabhängig vom Untersuchungssetting ergaben sich jeweils hohe
Korrelationen zwischen der ärztlichen Einschätzung und MMST
(0.80) und ACE-III (0.88). Dabei gab es keinen signifikanten Einfluss der
Untersuchungsmodalität.
Patientenzufriedenheit
Die 12 Items zur Bewertung der Patientenzufriedenheit (in Anlehnung an McKinley
et al. [23]) mit ordinalskalierten
Antwortmöglichkeiten zwischen 1 (trifft nicht zu) und 5 (trifft voll zu)
ergab bei den Fragen 1 bis 12 keinen signifikanten Unterschied (Mann-Whitney-U
Test, p≤0.05 Bonferroni-korrigiert für multiple Vergleiche)
zwischen VC und F2F Kontakt; in beiden Gruppen antworteten die Befragten
zumindest 85% mit 4 (trifft stark zu) oder mehr.
Unkorrigiert für multiple Vergleiche, zeigte sich bei Frage 2
(“Waren Sie mit der Beratung und den Empfehlungen
zufrieden?”) ein Unterschied zwischen beiden Gruppen. Beide Gruppen
bewerteten den Kontakt in mehr als 95% der Fälle mit mindestens
3 (etwas zutreffend). Allerdings antworteten nur 86 % der VC Gruppe mit
mindestens 4 (trifft stark zu), während 94 % der F2F Gruppe
dementsprechend antworteten. Während wiederum im F2F Kontakt immerhin 2
Patienten bei dieser Frage mit 1 (nicht zutreffend) antworteten, antworteten
alle Patienten im VC mindestens mit 2 (kaum zutreffend). [Abb. 4] zeigt eine Zusammenfassung dieser
Ergebnisse.
Abb. 4 Patientenzufriedenheit VC vs F2F.
Technischer Ablauf
Der technische Ablauf wurde nur im Falle der VC bewertet.
Neuropsycholog*in und Ärzt*in bewerteten im Anschluss an
den Untersuchungstermin. [Abb. 5] zeigt
die Ergebnisse.
Abb. 5 Bewertung Videokonsultation und technischer Ablauf.
Abkürzung: NP: Neuropsycholog*in.
Hier wurde der technische Ablauf im überwiegenden als gut (3 und mehr)
bewertet (Neuropsycholog*in 85.8% und Ärzt*in
92.1%). In 97.3% der Einschätzungen zur
Neuropsychologischen Vorstellung und 92.1% der Einschätzungen
zur ärztlichen Vorstellung wurde das Videokonsil als der Symptomatik der
Patient*innen angemessen eingeschätzt.
Checkliste zur optimalen Durchführung
In [Abb. 1] wurde der prinzipielle Ablauf
der Videokonsultation mit Vorbereitung und Durchführung bereits
zusammengefasst. Im Laufe unserer Arbeit haben wir zudem eine Checkliste
erarbeitet, die in Vorbereitung der Videokonsultation zum Einsatz kam; siehe
[Tab. 2].
Tab. 2 Checkliste für die Vorbereitung einer
Videokonsultation.
|
Gedächtniszentrum / Personal
|
Patient
|
Beide
|
Notwendig
|
□ Datenschutz-kompatible Videosoftware
□ Erfahrung mit der Software
□ Kamera auf Augenhöhe /
Oberkörper darstellbar
□ laute und deutliche Aussprache
|
□ schriftliche Informationen erhalten
□ bewegliche Kamera
□ ganzer Körper in Kamera
sichtbar
□ Telefon für schnelle
Rückfragen in der Nähe
|
□ Video-Gerät / Webcam
□ schnelles Internet
□ gute Beleuchtung und ruhige Umgebung
|
Wünschens-wert
|
□ 2-Monitor Arbeitsplatz
□ Einfacher Zugang zum Videokonsil
für den Patienten (z.B. durch Link per Mail)
□ einfache Software
□ Testverbindung bereits erfolgreich
durchgeführt
|
□ Angehöriger anwesend
□ fester Stuhl mit Armlehne
□ großer, gut beleuchteter Raum
|
□ großer Monitor
□ High-definition Webcam
□ Umgebungsgeräusche /
Ablenkung reduzieren
|
Diskussion/Schlussfolgerungen
Zusammenfassend konnten wir bei Patient*innen mit beginnenden kognitiven
Defiziten erfolgreich eine Videosprechstunde in unserem multidisziplinären
Gedächtniszentrum etablieren. Dabei konnten wir insbesondere etablierte
neuropsychologische Testungen und den Arztkontakt erfolgreich in diesem Setting
umsetzen. Die Patientenzufriedenheit war hier auf dem Niveau des regulären
Vorortkontaktes. Offensichtliche Vorteile waren, dass der Termin für den
Patienten deutlich flexibler war und Anreise und Wartezeiten komplett vermieden
werden konnten. Wenn erst einmal die technische Hürde überwunden
war, lief die Videokonsultation routiniert ab und dauerte im Schnitt 55–60
Minuten.
Ärzt*innen und Neuropsycholog*innen bewerteten die
Aussagekraft in der Beurteilung der Patient*innen durchweg als hoch.
Insbesondere die Möglichkeit, auch neuropsychologische Tests (MMST und ACE
III) durchführen zu können, ermöglicht auch die Erhebung von
objektivierbaren Befunden und Verlaufskontrollen.
Teleneurologie bei Demenzerkrankungen
Telemedizin hat sich in den letzten Jahren als integraler Bestandteil bei der
Versorgung von Patienten mit akutem neurologischen Erkrankungsbild, allem voran
dem Schlaganfall, etabliert. Bei anderen Erkrankungen, insbesondere chronischen
und neurodegenerativen, wie beispielsweise einer Demenzerkrankung oder einer
Parkinsonerkrankung, ist die Bedeutung weniger klar.
Für die Behandlung des Schlaganfalls gibt es klare Evidenz, dass
Telemedizinnetzwerke die Behandlung des individuellen Patienten und dessen
Outcome verbessern. Während für den Telestroke-Bereich das
Outcome durch harte Fakten wie Lysezeit oder time-to-groin bzw. das funktionelle
Outcome gut beschrieben werden kann, ist dies bei der Anwendung von Telemedizin
bei Demenzerkrankungen schwieriger möglich. Zum einen fehlen hier noch
qualitativ hochwertige Studien, die eine Verbesserung des individuellen
Krankheitsverlaufes nachweisen können [31]. Zum anderen sind derzeit verfügbare Therapien nur wenig
wirksam [13].
Es bestehen auch ganz andere Probleme, wie das Alter der Patienten, kognitive
Beeinträchtigungen sowie damit verbundene Hürden im Umgang mit
der Technik. Nicht selten spielt auch Angst vor dem neuen Medium eine
entscheidende Rolle. Aus diesen Gründen sind bei der Behandlung von
Demenzerkrankungen andere Maßstäbe anzulegen. Besonders in
ländlichen Strukturen, bei denen der Weg zum nächstgelegenen
Spezialisten Stunden in Anspruch nehmen kann und natürlich auch nur
begrenzte Kapazitäten (Termin beim Experten,
Transportmöglichkeiten, etc.) vorhanden sind, ermöglicht die
Durchführung einer Videosprechstunde eine hochflexible und individuelle
Behandlung für viele Patienten [32]. Gerade für ältere Patienten, die häufig
nicht mobil sind und für die die Anreise eine körperliche
Strapaze darstellt, kann die Vorstellung im Rahmen einer Videosprechstunde eine
willkommene Alternative darstellen. Auch die Angehörigen, die sich
häufig für einen Arztbesuch den ganzen Tag Urlaub nehmen
müssen, um den Patienten/die Patientin zu begleiten,
können ihre Zeit dadurch deutlich flexibler einteilen. Der
ärztliche Kontakt und die neuropsychologische Untersuchung im
entspannten häuslichen Umfeld könnte außerdem dazu
beitragen, die aktuellen Probleme der Patient*innen deutlich besser zu
erkennen und zu charakterisieren. Zeitgleich kann der/die
Untersucher/in die häuslichen Gegebenheiten wahrnehmen und
gegebenenfalls in der Diagnosestellung bzw. den Therapieempfehlungen
berücksichtigen; beispielsweise bei Empfehlungen zur Sturzprophylaxe
[5]
[16]
[17]
[25].
Demenzerkrankungen unter Pandemiebedingungen
Patient*innen mit Demenzerkrankungen waren durch die COVID-19-Pandemie
auf vielen Ebenen deutlich schwerer betroffen, als die übrige
Bevölkerung [2]
[30]. Neben einer deutlich erhöhten
Mortalität kamen zudem Folgen einer prolongierten sozialen Isolation
hinzu [11]
[21]. Menschen mit Demenzerkrankung hatten u. a. deutlich
erschwerten Zugang zu Informationen rund um die Pandemie [2].
Um Menschen auch unter Pandemiebedingung Arztbesuche ohne Risiko einer Infektion
zu ermöglichen, haben viele Health-Care-Anbieter begonnen,
Videosprechstunden anzubieten. Dabei scheinen Videosprechstunden reinen
Telefonsprechstunden überlegen zu sein, da die soziale Interaktion
deutlich intensiver ist und besser geeignet ist, um negative Auswirkungen des
social-distancing zu überwinden [12]. Telemedizin wird auch bei
Patient*innen mit Demenzerkrankung und deren Angehörigen in der
Pandemie gut akzeptiert wird und kann die Lebensqualität verbessern
[14].
Objektivierbare Untersuchungsergebnisse
Es zeigt sich, dass diagnostische Tests eine hohe Genauigkeit und
Reliabilität auch im telemedizinischen Setting haben und daher in der
standardisierten Testung angewendet werden können [16]
[19]
[20]
[27]. Gerade als Screeningwerkzeug, um ggf.
weiterführende Diagnostik einzuleiten, welche dann an einem
spezialisierten Zentrum erfolgen sollte, können Videosprechstunden
sinnvoll eingesetzt werden.
Die von uns eingesetzten Testverfahren MMST und ACE-III ließen sich im
Rahmen unserer Untersuchung gut einsetzen, wenn die technische Verbindung stand
und bei den Patienten noch kein schweres manifestes dementielles Syndrom
bestand. Probleme mit schlechter Audio- und Videoverbindung ließen sich
im Regelfall rasch lösen (z. B. neue Verbindung herstellen). Nur
in Ausnahmefällen beschrieben die behandelnden
Ärzt*innen, dass der klinische Eindruck aus der
Videosprechstunde nicht ausreichend war und ein Vorort-Termin geplant werden
sollte. Hierfür spricht die hohe Übereinstimmung zwischen der
Einschätzung des klinischen Schweregrades durch die
Ärzt*innen und dem erhobenen neuropsychologischen Befund. Die
betreuenden Ärzt*innen und Neuropsycholog*innen
empfanden den Videokontakt als den Beschwerden des Patienten angemessen ([Abb. 5]).
Patientenzufriedenheit und -nutzen
Wir konnten insgesamt eine hohe Patientenzufriedenheit in der Videosprechstunde,
vergleichbar zum direkten Patientenkontakt, nachweisen. Auch andere Studien
konnten nachweisen, das Patient*innen mit Demenzerkrankung und
Angehörige eine ähnliche Zufriedenheit in beiden Settings haben
[16]
[24]
[25]. Gefragt, ob ein
Patient mit der Beratung und Behandlung zufrieden war, wurde allerdings von
weniger Patienten innerhalb der Videosprechstunde mit maximaler Zufriedenheit
beantwortet ([Abb. 4]), die
Effektstärke dieses Unterschiedes war allerdings gering (nach Korrektur
für multiple Vergleiche gab es keinen signifikanten Unterschied mehr).
Nachträgliche Befragungen zeigen zudem, dass auch die weiteren
Behandler*innen mit einer telemedizinischen Behandlung im Rahmen einer
Demenzerkrankung zufrieden sind [5]
[33]. Eine Studie konnte zeigen, dass mehr
als 90 % der Empfehlungen, die von einer virtuellen
Gedächtnisklinik gemacht werden, auch beim behandelnden lokalen Arzt
umgesetzt werden [5].
Die Beobachtung, dass Patient*innen gleichartig zufrieden sind mit
Televisiten und Vor-Ort-Vorstellungen [26], muss mit den erheblichen Vorteilen des telematischen Formates
abgewogen werden.
Patient*innen und Angehörige sind deutlich flexibler in ihrem
Zeitmanagement und Ressourcen für Transport müssen nicht
aufgewendet werden. Gerade bei älteren, immobilen Patient*innen,
bei denen mglw. sogar ein Krankentransport notwendig wäre,
können in der häuslichen Umgebung untersucht werden. Die
Einsparung durch die fehlenden Transportkosten ist zwar global schwer zu
kalkulieren, es gibt aber Regionen, in denen Ersparnisse von mehr als einer
Stunde und teils hunderten Kilometern Fahrt pro Vorstellung resultieren [26]
[34].
Ein wesentlicher Motivationsgrund für die Einführung der
Videosprechstunde war die Vermeidung bzw. Reduktion der Exposition einer
SARS-Cov-2 Infektion. Analog hierzu kann die telemedizinische Vorstellung
helfen, andere Infektionserkrankungen bei älteren und vulnerablen
Menschen (z. B. Influenza) zu vermeiden [28].
Weiterhin sollte im Hinblick auf die Interpretation der Patientenzufriedenheit
auch bedacht werden, dass sich die grundsätzliche Akzeptanz von
Videokonsultationen perspektivisch weiter erhöhen wird. Insbesondere
werden auch ältere Patient*innen und deren Angehörige in
den kommenden Jahren mehr eigene digitale Kompetenz und Akzeptanz
entwickeln.
Teleneurologie kann zukünftig die Behandlung gerade von älteren
und immobilen Menschen nachhaltig verbessern. Die auch über die Pandemie
hinausgehende Implementation einer Videosprechstunde an unserem
Gedächtniszentrum sehen wir somit als sinnvolle Bereicherung unseres
Behandlungsspektrums bei Patient*innen mit Risiko üfr
Demenzerkrankung. Aus persönlicher Erfahrung können wir
berichten, dass diese auch praktikabel ist. Mit Teleneurologie können
wir Patienten in ihrem Zuhause untersuchen und betreuen, können ihnen
spezifische Hilfsangebote (Sozialmedizin) anbieten und möglicherweise
Patient*innen betreuen, die sonst nicht erreichbar gewesen
wären. Im Rahmen der Erweiterung unseres Behandlungsspektrums durch
regelmäßige Videovisiten konnten wir bei einigen Patienten die
Vorstellungsfrequenz erhöhen und gleichzeitig die Dauer eines Kontaktes
reduzieren. Was insbesondere bei kurzen Verlaufskontrollen, z. B. bei
Neu-Eindosierungen von Medikamenten oder etwaigen Nebenwirkungen, von den
Patienten sehr gerne angenommen wurde.
Gerade für die Reduktion von Krankenhauseinweisungen und die Vermeidung
von unnötigen Komplikationen (z. B. iatrogene Polypharmazie)
könnte dieses neue Medium sehr hilfreich sein [10]. Je mehr Telemedizin Einsatz auch bei
neurodegenerativen Erkrankungen findet, desto früher besteht die
Möglichkeit, hochwertige Studien zu diesem Thema anfertigen zu
können.
Einschätzung der Autor*innen zur telemedizinischen Behandlung
von Demenzerkrankungen
Die Autoren konnten in den letzten Jahren vielfältige Erfahrungen mit der
medizinischen Behandlung von Patienten mit neurologischen Erkrankungsbild
sammeln. Die Behandlung von Patienten mit Demenzerkrankungen stellt dabei ein
anderes Spektrum dar, als beispielsweise bei der Betreuung von akuten
Schlaganfällen. Bei der Einschätzung eines akuten Schlaganfalles
können wir aus der Kombination der klinischen Präsentation und
der medizinischen Beurteilung von akuter Schlaganfallbildgebung (CCT oder CMRT)
eine zeitnahe und präzise Einschätzung des aktuellen Defizits
und akuter Handlungsempfehlungen (z. B. Indikation zur systemischen
Thrombolyse-Therapie oder Thrombektomie) vornehmen.
Die Vorstellung eines Patienten mit Demenzerkrankung oder Risiko für eine
Demenzerkrankung bildet hierbei vielmehr die Vorstellung eines ambulanten
Arzttermines ab. Hier stehen typischerweise chronische Probleme, teilweise auch
sozialmedizinischer Art, im Vordergrund. Wir glauben, dass die reine
Videokonsultation nicht komplett die Vorstellung bei einer erfahrenen
Neurolog*in/Neuropsycholog*in im Rahmen der Diagnostik
bei neurodegenerativen Erkrankungen ersetzen kann. Selbstverständlich
kann auch durch die Videosprechstunde keine leitliniengerechte Demenzdiagnostik
einschließlich der notwendigen apparativen Diagnostik (z. B.
Labor und Liquordiagnostik, Bildgebung, differenzierte neuropsychologische
Diagnostik) komplett abgebildet werden. Dennoch ergibt sich hier eine
alternative Möglichkeit, einen objektivierbaren neuropsychologischen und
neurologischen Befund zu erheben, von dem ausgehend dann weitere diagnostische
und therapeutische Schritte geplant werden können. So können
beispielsweise weitere unnötige Arztbesuche verhindert bzw. zeitnaher
ein relevanter Besuch eingeleitet werden. Sinnvoll erscheint uns dieses Format
auch für typische Verlaufskontrollen, bei denen unter anderem die
Progredienz der Demenzerkrankung eingeschätzt werden soll. Neben
ökonomischen Aspekten ergeben sich direkte Vorteile für den
Patienten, da wir in der Lage sind, Videosprechstunden deutlich flexibler
anzubieten. Unnötige Anreise und Wartezeiten entfallen. Das Risiko einer
Infektion, gerade in Pandemie-Zeiten, ist für Patienten und Behandler
reduziert. Ein weiterer nicht unerheblicher Faktor, der gerade für eine
Universitätsambulanz vorteilhaft sein kann, ist, dass die
Videokonsultation auch unabhängig vom Arbeitsplatz des Behandlers
(z. B. im Homeoffice) ist und zusätzlich mit Aspekten des
Arbeitsschutzes (z. B. in der Schwangerschaft) vereinbar ist.
Als wesentliches Hindernis für die Durchführung einer
Videosprechstunde zeigte sich innerhalb unserer Studie das Fehlen von geeigneter
Breitband-Internetverbindung bzw. geeigneter Hardware. Gerade im
ländlich geprägten Thüringen war die fehlende
Verfügbarkeit eines entsprechenden Internetanschlusses häufig
Ursache für die Nichtdurchführbarkeit einer Videosprechstunde.
In den folgenden Jahren soll die telemedizinisch gestützte
Patient*innenversorgung im ländlichen Thüringen auch im
Bereich der Demenzdiagnstik im Rahmen eines BMBF-geförderten
WeCaRe-Bündnisses [4] deutlich
vorangetrieben werden.
Während unserer Studie wurden im Wesentlichen Patient*innen mit
Demenzverdacht bzw. im Stadium einer leichten Demenz untersucht. Aus unserer
Erfahrung zeigt sich, dass bei zunehmenden kognitiven Defiziten das Medium der
Videosprechstunde eine zunehmende Hürde in der Kommunikation zwischen
Patient*in und betreuender Arzt*in darstellt. In diesem Fall
kann jedoch häufig durch Einbeziehung der Angehörigen ein
sinnvoller Kontakt aufgebaut werden. Hier steht dann jedoch weniger die
neuropsychologische Diagnostik als die Therapie der Erkrankung sowie die
sozialmedizinische Beratung der Angehörigen im Vordergrund.
Erkrankungen, welche mit einem anderen Spektrum an Psychopathologie einhergehen,
wie beispielsweise eine schwere Depression oder frontale
Disinhibitionsphänomene im Rahmen einer FTLD Spektrumserkrankung,
können im Rahmen einer Videosprechstunde betreut werden, diffizile
neuropsychologische Diagnostik ist hier unserer Erfahrung nach nicht
realisierbar.
Limitationen
Ziel dieser Studie war eine praxisnahe Beurteilung der Durchführbarkeit
von Videosprechstunden im Rahmen einer Erstvorstellung von Patient*innen
mit Demenzverdacht in unserer universitären Gedächtnisambulanz.
Erhoben wurden daher Parameter zur Durchführbarkeit und zu technischen
Abläufen durch unser Personal sowie eine Erhebung von Fragen mit
Relevanz für die Zufriedenheit der Patient*innen. Mit dieser
Arbeit wollen wir vornehmlich unsere Implementation vorstellen und auftretende
Probleme beschreiben. Die Einteilung in die Gruppen VC und F2F ist daher
primär davon geprägt gewesen, ob die technische Umsetzung einer
Videosprechstunde überhaupt möglich ist. Eine Randomisierung ist
hier nicht erfolgt. Das Erfragen der Patientenzufriedenheit geschah zudem sofort
im Anschluss an den jeweiligen Kontakt ohne Möglichkeit einer Reflexion
des Ablaufes seitens Patient*innen und Angehörigen. Zu bemerken
ist hier, dass es einen möglichen Bias gibt, da im Fall der
Videosprechstunde im Vorfeld mit dem Patienten und den Angehörigen
Kontakt aufgenommen wurde; dies könnte möglicherweise zu einer
Verzerrung der Bewertung der Zufriedenheit geführt haben. Weiterhin
verglichen wir hier die Ergebnisse der ärztlichen und
neuropsychologischen Einschätzung und Testung nur zwischen den beiden
Modalitäten und Gruppen (VC und F2F); eine individuelle
Überprüfung der Einschätzung im Verlauf (also
Überprüfung eines VC durch nachfolgende F2F Vorstellung)
erfolgte nicht.
Fazit für die Praxis
Aktuell stellt die Durchführung einer Videosprechstunde eine kleine
logistische Herausforderung dar und die Zeitersparnisse für die
Patient*innen addieren sich, zumindest teilweise, auf die Vorbereitung.
Um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten, war es in unserem
Setting notwendig, im Vorfeld Kontakt zu Patient*innen und
Angehörigen aufzunehmen, eine Testverbindung aufzubauen und
gegebenenfalls sogar technische Hilfestellung zu geben. Nachdem wir in den
Abläufen gut eingespielt waren, stellte die eigentliche
Durchführung am Untersuchungstag keine größere
Herausforderung dar und auch die Zeit des Patientenkontaktes war vergleichbar
mit einem vor-Ort-Termin. Wenn wir erstmal bei einer Patient*in
erfolgreich eine Videosprechstunde durchgeführt hatten, gestaltete sich
eine Folgetermin typischerweise viel unkomplizierter.
Wir glauben, dass wir mit dem Angebot von Videosprechstunden zum einen zeitlich
flexiblere Termin anbieten können und unnötige Fahrtwege
vermeiden können. Wir haben Videosprechstunden zur Erstvorstellung bei
Patienten mit Demenzverdacht fest in unsere tägliche Routine
übernehmen können und planen, ausgehend von diesem ersten
Patientenkontakt, gezielt weitere diagnostische und therapeutische Schritte.
Zudem empfinden wird die Möglichkeit einer Videosprechstunde gerade
unter Pandemiebedingungen als guten Kompromiss bei der Behandlung von
älteren und oft multimorbiden Patienten, um diese vor Risiken zu
schützen.