Schlüsselwörter Diabetes mellitus - Komplikationen - Routinedaten - Retinopathie - Polyneuropathie
Key words diabetes mellitus - complications - routine data - retinopathy - polyneuropathy
Einleitung
Neben Primärdaten aus Gesundheitsbefragungs- und Untersuchungsstudien werden
zunehmend Sekundärdaten insbesondere der gesetzlichen Krankenversicherung
(GKV) für die Beantwortung von epidemiologischen Fragestellungen genutzt. So
werden die Daten für deskriptive Analysen zur Schätzung der
Inzidenz, Prävalenz und Mortalität von Krankheiten verwendet [1 ], aber auch zur Beantwortung kausaler
Fragestellungen wie beispielsweise der Entstehung des Diabetes nach einer
COVID-19-Erkrankung [2 ].
Bei den meisten Analysen stehen dabei die Diagnosedaten aus dem ambulanten und
stationären Sektor verschlüsselt gemäß der
Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter
Gesundheitsprobleme (ICD) im Fokus [3 ]. Da
diese Daten jedoch primär zu Abrechnungszwecken und nicht für
epidemiologische Fragestellungen erhoben werden, ist es von großer Bedeutung
die Qualität der Daten hinsichtlich systematischer Dokumentationsfehler zu
prüfen [1 ]. Neben der aufwendigen
externen Validierung von Diagnosedaten, welche eine Verknüpfung von
Primär- und Sekundärdaten voraussetzt, ermöglicht die
interne Diagnosevalidierung unter Einbezug weiterer Informationen zu Medikation,
erbrachten Leistungen, Facharztkennungen, Einschreibungen in
Disease-Management-Programmen oder auch Diagnosemuster die
Dokumentationsqualität einzuschätzen [4 ]. So wird zum Beispiel bei den meisten
Analysen von Diagnosedaten im ambulanten Sektor das m2Q-Kriterium verwendet, welches
die Codierung einer ambulant gesicherten Diagnose in mindestens zwei Quartalen eines
Jahres fordert [5 ].
Auch für die Surveillance von Diabetes am Robert Koch-Institut stellen
Routinedaten eine wichtige Ergänzung dar, da diese im Vergleich zu
Surveydaten zumeist zeitnah zur Verfügung stehen, häufig
wiederkehrende Analysen ermöglichen und keine Verzerrung durch eine
geringere Teilnahme spezifischer Gruppen besteht [6 ]. Im Kontext von Diabetes werden Routinedaten bereits für die
Schätzung der Prävalenz, Inzidenz und Mortalität genutzt
[7 ]
[8 ]
[9 ]
[10 ]. Die hohe Fallzahl in den GKV-Daten
ermöglicht dabei auch die Schätzung der Häufigkeit von
Komplikationen des Diabetes in hoher zeitlicher und räumlicher
Auflösung sowie stratifiziert nach Altersgruppen, welche beispielsweise
für die Berechnung von Indikatoren zur Krankheitslast wie
disability-adjusted life years (DALY) im Rahmen des BURDEN 2020-Studie
verwendet werden [11 ]. Allerdings zeigte sich
bei der Analyse von mikrovaskulären Komplikationen in den Daten aller
gesetzlichen Krankenversicherten nach Datentransparenzverordnung (DaTraV-Daten),
eine mögliche Unterschätzung der Prävalenz von diabetischen
Komplikationen, insbesondere der diabetischen Retinopathie und Polyneuropathie, in
den höheren Altersgruppen [12 ].
Ziel der vorliegenden Studie ist daher aufbauend auf der vorangegangenen Analyse die
Weiterentwicklung und interne Validierung von Falldefinitionen für die
mikrovaskulären Komplikationen: diabetische Retinopathie, diabetische
Polyneuropathie und diabetisches Fußsyndrom, welche zukünftig in
Auswertungen der Diabetes-Surveillance zur Anwendung kommen sollen.
Methodik
Studienpopulation
Die Analyse basiert auf einer alters- und geschlechtsstratifizierten
Zufallsstichprobe von Versicherten der Barmer Krankenversicherung, die von 2010
oder von Geburt (nach 2010) bis 2018 durchgängig versichert waren [13 ]. Die Stichprobe in Höhe von
1% der Bevölkerung (n=830.192) entspricht in ihrer
Alters- und Geschlechtsverteilung der Bevölkerung des Jahres 2018 [14 ]. Die Daten umfassen Stammdaten zu
Alter, Geschlecht und Versicherungszeit sowie zu ambulanten und
stationären Diagnosen, die gemäß der Internationalen
statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme
(ICD-10) codiert sind [3 ]. Weiterhin sind
Arzneimittelverordnungen gemäß der
Anatomisch-Therapeutisch-Chemischen (ATC) Klassifikation dokumentiert und
Leistungsdaten zu Operationen und Prozeduren (OPS) sowie verschlüsselt
nach dem einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) enthalten [3 ]
[15 ]
[16 ].
In der vorliegenden Analyse wurden nur Personen mit Diabetes
gemäß der folgenden Definition eingeschlossen. Basierend auf
einer vorausgehenden Analyse wurde bei Vorliegen mindestens einer ICD-Diagnose
E10.- bis E14.- in mindestens zwei Quartalen im ambulanten Sektor (m2Q), in nur
einem Quartal bei zusätzlicher Verordnung eines Antidiabetikums
(ATC-Code A10) oder mindestens einer Diagnose E10.- bis E14.- im
stationären Sektor, als Arbeitsunfähigkeitsdiagnose oder im
Bereich des ambulanten Operierens im Jahr 2018 ein Diabetes angenommen [13 ]. Anschließend wurden anhand
eines Algorithmus zur Typenunterscheidung, welcher ICD-Diagnosen,
Arzneimittelverordnung unterschieden nach Insulin und anderen Antidiabetika
sowie das Alter berücksichtigt, Personen mit Diabetes dem Typ-1-Diabetes
(n=4.023), dem Typ-2-Diabetes (n=67.332) oder dem sonstigen
Diabetes zugeordnet (n=1.389) [13 ].
Entwicklung von Falldefinitionen
Ziel der Studie war die Entwicklung von Falldefinitionen für die
diabetische Retinopathie, die diabetische Polyneuropathie und das diabetisches
Fußsyndrom basierend auf dokumentierten ICD-Diagnosen zur
Schätzung von Prävalenzen mikrovaskulärer Komplikationen
des Diabetes in Routinedaten. Zunächst wurden alle für die
ausgewählten mikrovaskulären Komplikationen relevanten
ICD-Diagnosen identifiziert. Diese wurden unterschieden nach ICD-Codes, die die
Erkrankungen explizit als Diabeteskomplikation verschlüsseln (Kategorie
I), ICD-Codes, die die Erkrankung ohne Diabetesbezug verschlüsseln
(Kategorie II) und weiteren ICD-Codes, die im Bezug der jeweiligen diabetischen
Komplikation stehen können (Kategorie III) (Tabelle S1, online
verfügbar ). Die Auswahl der Diagnosen der Kategorie II und III
basierte auf Vorarbeiten zu Auswertungen von diabetischen Komplikationen in
Routinedaten [4 ]
[17 ]
[18 ]. Basierend auf der Häufigkeit und des Codiermusters in
Abhängigkeit des Alters, Diabetestyps und in Kombination mit anderen
ICD-Diagnosen wurden die Falldefinitionen der Komplikationen erstellt.
Ausgangspunkt der Falldefinitionen stellen die jeweiligen ICD-Diagnosen der
Kategorie I dar (DRP: H36.0, DPN: G63.2, DFS: E1X.74/.75).
Zusätzlich wurden in der Falldefinition ICD-Diagnosen der Kategorie II
berücksichtigt sofern diese in Zusammenhang mit einer entsprechenden
diabetischen Komplikation codiert wurden ([Tab.
1 ]). Das Vorliegen der Komplikation wurde angenommen, wenn die
entsprechende Diagnose oder Diagnosekombination im Jahr 2018 mindestens in einem
Quartal gesichert im ambulanten Sektor oder mindestens einmal im
stationären Sektor als Haupt- oder Nebendiagnose codiert wurde.
Tab. 1 Häufigkeit der Dokumentation spezifischer
ICD-Diagnosen stratifiziert nach Diabetestyp im Jahr
2018.
ICD-Diagnose
Diabetes gesamt
Typ-1-Diabetes
Typ-2-Diabetes
Diabetische Retinopathie
Kategorie I
H36.0
8,4%
24,9%
7,3%
Kategorie II
H35.0
9,3%
8,2%
9,4%
H35.2
0,4%
1,3%
0,3%
H35.8
2,0%
3,4%
1,9%
Falldefinition
H36.0 ODER (E1x.3 UND (H35.0 ODER H35.2 ODER H35.8))
9,6%
26,8%
8,5%
Diabetische Polyneuropathie
Kategorie I
G63.2
18,9%
25,0%
18,6%
Kategorie II
G62.9
9,5%
7,6%
9,6%
G63.3
0,6%
0,9%
0,6%
Falldefinition
G63.2 ODER ((E1x.4 ODER E1x.74 ODER E1x.75) UND (G62.9 ODER
G63.3))
20,7%
25,0%
20,4%
Diabetisches Fußsyndrom
Kategorie I
E1x.74 ODER E1x.75
13,4%
15,2%
13,3%
M14.27
0,1%
0,1%
0,1%
M14.67
0,1%
0,2%
0,1%
Kategorie II
L89.x7
0,6%
0,4%
0,6%
M86.x7
0,3%
0,4%
0,3%
R02.07
0,1%
0,1%
0,1%
Z89.4/.5
0,7%
1,1%
0,6%
Falldefinition
E1x.74 ODER E1x.75 ODER M14.27 ODER M14.67
13,5%
15,2%
13,3%
Interne Validierung und Persistenz
Zur Überprüfung der Validität der beschriebenen
Falldefinitionen wurden weiterführende Informationen der
GKV-Routinedaten verwendet und eine Auswertung zur internen Validität
durchgeführt. Es wurde geprüft, ob im Jahr der Dokumentation
für die jeweilige Komplikation spezifische Arzneimittel oder Heil- oder
Hilfsmittel verordnet und spezifische Leistungen oder Untersuchungen
durchgeführt wurden. Weiterhin wurde analysiert in welchem Sektor die
Diagnose dokumentiert wurde, ob die Diagnose mehrmals im gleichen oder in
verschiedenen Sektoren vergeben wurde, ob mehrere Ärzte die Diagnose im
ambulanten Sektor codierten und ob Fachärzte die Diagnose
dokumentierten. Die Validierungskriterien wurden für jede der
untersuchten diabetischen Komplikationen separat erstellt ([Tab. 3 ]).
Tab. 3 Kriterien für die interne Validierung der
mikrovaskulären Komplikationen.
Kategorie
Kriterium
Codierung
Anteil
Diabetische Retinopathie
Mehrfache Codierung
Mindestens m2Q ambulante Diagnose oder m1S stationäre
Hauptdiagnose
70,3%
Mindestens 2 Ärzte dokumentieren Diagnose im
ambulanten Sektor im selben Quartal
32,9%
Dokumentation der Diagnose in mindestens 2 Sektoren
4,7%
OPS
Mindestens 1 therapeutische Maßnahme (Laser-,
Injektionstherapie, Operation)
OPS-Code: 5–144, 5–154, 5–155,
5–156.9, 5–158
3,6%
ATC
Mindestens 1 Verordnung für eine Injektionstherapie
ATC-Code: L01XC07, S01BA01, S01BA05, S01LA03, S01LA04,
S01LA05, S01LA06
5,7%
EBM
Mindestens 1 weiterführende Diagnostik
(Fluoreszenzangiographie, Optische
Kohärenztomographie) oder Therapiemaßnahme
(Laser-, Injektionstherapie)
GOP: 06331, 06333, 06334, 06335, 06337, 06338, 06339, 31342,
31371, 31372, 31373, 36371, 36372, 36373
4,5%
Kontrolle des Augenhintergrundes in mindestens 2 Quartalen
oder 1 Quartal und Dokumentation Diabetische
Retinopathie
GOP: 06331, 06333, 06336, 06337, 06338, 06339
63,5%
Facharzt
Augenarzt dokumentiert Kreuz-Stern-Verschlüsselung
(E14.3+H36.0*)
Augenarzt: 05
47,8%
Dokumentation Mindestens 1 Diagnose Kategorie I UND Kategorie
II im selben Quartal vom selben Augenarzt
Augenarzt: 05
31,2%
Mindestens in 2 Quartalen Facharztkontakt (Augenarzt)
Augenarzt: 05
52,4%
Mindestens
1 Kriterium erfüllt
96,7%
Diabetische Polyneuropathie
Mehrfache Codierung
Mindestens m2Q ambulante oder m1Q stationäre
Hauptdiagnose
88,5%
Mindestens 2 Ärzte dokumentieren Diagnose im
ambulanten Sektor im selben Quartal
30,3%
Dokumentation der Diagnose in mindestens 2 Sektoren
9,2%
Dokumentation Polyneuropathie und Diabetes mit neurologischer
Komplikation (E1x.4)
ICD: DPN+E1x.4
73,5%
Dokumentation Polyneuropathie und Diabetischer Fuß
(E1x.7x)
ICD: DPN+(E1x.74 oder E1x.75)
43,2%
ATC
Dokumentation Diabetische Polyneuropathie und Verordnung
Medikation für neuropathischen Schmerz
ATC-Code: N06AA09, N06AA02, N06AA04, N06AA10, N03AX21,
N03AX12, N03AX16, N03AF01, N03AF02, N01BB02, N01BX04, N02A,
M03AX01
29,4%
EBM
Behandlung diabetischer Fuß in mindestens 1
Quartal
GOP: 02311
5,8%
Elektroneurographie/Elektromyographie und
Dokumentation Diabetische Polyneuropathie im selben
Quartal
GOP: 04437, 16322, 27331
5,9%
Facharzt
Neurologe dokumentiert Diabetische Polyneuropathie
Neurologe: 53
10,6%
Mindestens in 2 Quartalen Facharztkontakt (Neurologe)
Neurologe: 53
14,6%
Mindestens
1 Kriterium erfüllt
96,5%
Mehrfache Codierung
Mindestens m2Q ambulante oder m1Q stationäre
Hauptdiagnose
84,4%
Mindestens 2 Ärzte dokumentieren Diagnose im
ambulanten Sektor im selben Quartal
20,4%
Dokumentation der Diagnose in mindestens 2 Sektoren
6,5%
Dokumentation Diabetisches Fußsyndrom und Diabetische
Polyneuropathie oder Angiopathie
ICD: DFS+(G63.2 oder I79.2)
69,8%
Dokumentation Diabetisches Fußsyndrom und Ulkus oder
Osteomyelitis
ICD: DFS+(L89.x7 oder M86.x7)
3,6%
OPS
Stationäre Behandlung oder ambulante Operation eines
Diabetisches Fußsyndrom
OPS-Code: 5–865, 5–869.1, 5–896
4,3%
EBM
Behandlung diabetischer Fuß in mindestens 1
Quartal
GOP: 02311
10,2%
Heil- und Hilfsmittel
Podologische Behandlung
GOP: 68001, 78001, 68002, 78002, 68003, 78003, 68004, 78004,
68005, 78005, 68006, 78006
55,5%
Mindestens
1 Kriterium erfüllt
95,8%
OPS: Operationen- und Prozedurenschlüssel; ATC:
Anatomisch-Therapeutisch-Chemische Klassifikation; EBM: Einheitlicher
Bewertungsmaßstab; GOP: Gebührenordnungsposition; ICD:
Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und
verwandter Gesundheitsprobleme.
Zuletzt wurde die Persistenz der Diagnosen über die Jahre analysiert, da
die Komplikationen möglicherweise nicht zu einer jährlichen
Inanspruchnahme von spezifischen Leistungen oder Verordnungen führen und
somit nicht in den Daten dokumentiert sind, obwohl die Erkrankung weiterhin
vorliegt. So wurde in weiterführenden Analysen der Beobachtungszeitraum
variiert und neben der primären Analyse, welche die
Diagnosedokumentation innerhalb eines Jahres (2018) betrachtete, auch der Anteil
von Personen mit Diabetes und der untersuchten Dokumentation innerhalb von zwei
Jahren (2017–18) bis fünf Jahren untersucht (2014–18).
Aufgrund der Datenverfügbarkeit zum Zeitpunkt der Auswertung konnte der
Beobachtungszeitraum nur retrospektiv erweitert werden.
Statistische Analysen
Die statistischen Analysen umfassen die deskriptive Beschreibung der
Prävalenz der einzelnen mikrovaskulären Komplikationen
stratifiziert nach Alter, Geschlecht und Diabetestyp. Hierzu wurde der Quotient
aus der Anzahl der Personen mit Vorliegen einer Komplikation und der
Diabetespopulation stratifiziert nach Altersgruppen, Geschlecht und Diabetestyp
(Diabetes gesamt, Typ-1-Diabetes, Typ-2-Diabetes) gebildet. Die primäre
Analyse bezog sich hierbei auf das Beobachtungsjahr 2018. In der
überjährigen Analyse wurden die Zeiträume
2014–18 (5 Jahre), 2015–18 (4 Jahre), 2016–18 (3 Jahre)
und 2017–18 (2 Jahre) für die Dokumentation der Komplikationen
betrachtet.
Ergebnisse
Entwicklung Falldefinitionen und Schätzung der
1-Jahres-Prävalenz
Zunächst wurden die ICD-Codes der Kategorie I und II für die
mikrovaskulären Komplikationen betrachtet und die Häufigkeit der
Codierung innerhalb aller Personen mit Diabetes stratifiziert nach Diabetestyp
bestimmt ([Tab. 1 ]). So wurden im Jahr
2018 mit Ausnahme der Diagnose H35.0 Diagnosen der Kategorie II seltener
dokumentiert als Diagnosen der Kategorie I. Für Personen mit
Typ-2-Diabetes wurde im Kontext der diabetischen Retinopathie die Diagnose H35.0
häufiger als die Diagnose H36.0 codiert, nicht jedoch für
Personen mit Typ-1-Diabetes. In die Falldefinition der mikrovaskulären
Komplikationen der diabetischen Retinopathie und diabetischen Polyneuropathie
wurden neben Diagnosen der Kategorie I auch der Kategorie II
berücksichtigt, die Komplikation ohne expliziten Diabetesbezug
verschlüsseln, wenn diese zusammen mit einem Diabetes und einer
entsprechenden Komplikationskategorie verschlüsselt wurden ([Tab. 1 ]). Für das diabetisches
Fußsyndrom wurden nur ICD-Diagnosen der Kategorie I
berücksichtigt, da der Einbezug von Diagnosen der Kategorie II die
1-Jahres-Prävalenz kaum verändert (13,5% vs.
13,7%). Unter Verwendung der Falldefinition steigt der Anteil von
Personen mit dokumentierter diabetischer Retinopathie sowohl bei Personen mit
Typ-2- als auch mit Typ-1-Diabetes an, wohingegen dies bei der diabetischen
Polyneuropathie nur für Personen mit Typ-2-Diabetes der Fall ist.
Bei Betrachtung der 1-Jahres-Prävalenzen stratifiziert nach Alter,
Geschlecht und Diabetestyp, lässt sich erkennen, dass die
Prävalenzen der Komplikationen für den Typ-1-Diabetes in allen
Altersgruppen höher ausfallen als für den Typ-2-Diabetes ([Tab. 2 ]). Mit zunehmendem Alter
lässt sich eine Zunahme der Prävalenz der Komplikationen sowohl
für Typ-1-Diabetes als auch den Typ-2-Diabetes feststellen, welche
jedoch beim Typ-2-Diabetes in der Altersgruppe 90 Jahre und älter wieder
abfällt. Während beim Typ-2-Diabetes Männer durchweg
häufiger Komplikationen aufweisen, ist dies beim Typ-1-Diabetes
differenzierter und variiert in Abhängigkeit der Komplikation und
Altersgruppe.
Tab. 2 1-Jahres-Prävalenz der
Mikrovaskulären Komplikationen stratifiziert nach
Geschlecht, Alter und Diabetestyp im Jahr 2018.
Diabetes gesamt
Typ-1-Diabetes
Typ-2-Diabetes
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Diabetische Retinopathie
<30 Jahre
5,4%
4,8%
6,2%
6,1%
*
*
30–39 Jahre
10,4%
9,0%
19,7%
24,4%
3,0%
1,7%
40–49 Jahre
9,9%
8,3%
28,6%
27,0%
6,0%
4,1%
50–59 Jahre
8,2%
9,1%
31,8%
40,5%
6,1%
6,5%
60–69 Jahre
9,9%
8,6%
41,9%
43,6%
8,8%
7,4%
70–79 Jahre
12,0%
9,1%
48,6%
41,0%
11,5%
8,6%
80–89 Jahre
11,2%
9,5%
44,9%
40,6%
10,9%
9,2%
>90 Jahre
5,7%
5,6%
*
*
5,4%
5,5%
Alle Altersgruppen
10,3%
8,8%
26,1%
27,8%
9,2%
7,7%
Diabetische Polyneuropathie
<30 Jahre
2,0%
2,5%
2,6%
3,0%
*
*
30–39 Jahre
8,4%
6,7%
10,5%
12,6%
6,4%
4,1%
40–49 Jahre
11,5%
9,8%
19,1%
19,5%
9,9%
7,7%
50–59 Jahre
15,0%
13,8%
30,0%
34,9%
13,5%
11,9%
60–69 Jahre
22,0%
17,0%
53,7%
52,4%
20,9%
15,8%
70–79 Jahre
27,2%
21,2%
55,0%
49,6%
26,8%
20,8%
80–89 Jahre
29,4%
25,5%
63,3%
65,6%
29,1%
25,2%
>90 Jahre
23,0%
19,6%
*
*
22,2%
19,6%
Alle Altersgruppen
22,1%
19,0%
24,3%
25,8%
21,7%
18,6%
Diabetisches Fußsyndrom
<30 Jahre
2,5%
2,8%
2,2%
2,8%
*
*
30–39 Jahre
5,6%
5,3%
6,1%
6,1%
5,3%
4,7%
40–49 Jahre
8,6%
7,2%
14,0%
11,9%
7,4%
6,4%
50–59 Jahre
10,1%
9,9%
18,8%
21,1%
9,2%
8,9%
60–69 Jahre
14,6%
11,4%
32,3%
26,0%
13,9%
10,8%
70–79 Jahre
17,0%
13,6%
35,0%
28,2%
16,7%
13,4%
80–89 Jahre
17,9%
16,2%
38,8%
37,5%
17,7%
16,1%
>90 Jahre
15,7%
15,6%
*
*
15,1%
15,6%
Alle Altersgruppen
14,2%
12,6%
15,5%
14,7%
14,0%
12,5%
*: Fallzahl n<5
Interne Validierung
Die interne Validierung ergab, dass im Jahr 2018 über 95% der
gemäß Falldefinition dokumentierten mikrovaskulären
Komplikationen durch mindestens ein Kriterium bestätigt werden konnten
([Tab. 3 ]). Hierbei fiel der Anteil
beim diabetischen Fußsyndrom etwas niedriger aus als bei der
diabetischen Polyneuropathie und der diabetischen Retinopathie. Bei allen
Komplikationen stellte die Dokumentation der Diagnose entweder in zwei Quartalen
gesichert ambulant (m2Q) oder mindestens einmal im stationären Sektor
als Hauptdiagnose (m1S) das wichtigste Validierungskriterium dar. Bei der
diabetischen Retinopathie waren weiterhin die Kontrolle des Augenhintergrunds
und die Dokumentation durch einen Facharzt in bis zu über der
Hälfte der Personen dokumentiert. Therapeutische Maßnahmen
mittels operativer oder medikamentöser Therapie waren für einen
geringen Anteil dokumentiert. Bei der diabetischen Polyneuropathie erhielten
fast 30% der Personen Arzneimittel zur Therapie der neuropathischen
Schmerzen. Die weiteren Kriterien aus dem Bereich der ambulanten Leistungen
codiert mittels EBM oder der Dokumentation durch einen Facharzt trafen auf einen
geringeren Anteil der Personen mit diabetischer Polyneuropathie zu. Beim
diabetischen Fußsyndrom war neben der m2Q/m1S Kriterien die
podologische Behandlung relevant und wurde bei mehr als der Hälfte der
Personen dokumentiert. Eine Dokumentation von ambulanten Leistungen aus dem
EBM-Katalog oder von Operationen und Prozeduren erfolgte nur in einem kleinen
Anteil der Personen mit diabetischem Fußsyndrom.
Zeitliche Persistenz
Zur Untersuchung der zeitlichen Persistenz wurden der Beobachtungszeitraum auf
bis zu fünf Jahre vergrößert und die Prävalenz
der mikrovaskulären Komplikationen stratifiziert nach dem Diabetestyp
geschätzt. Bei allen drei Komplikationen stieg die Prävalenz mit
jedem zusätzlichen Beobachtungsjahr an ([Abb. 1 ]). Am deutlichsten fiel der Anstieg
bei der diabetischen Retinopathie aus. So erhöhte sich die
5-Jahres-Prävalenz um über 50% im Vergleich zur
1-Jahres-Prävalenz, wobei der Anstieg beim Typ-2-Diabetes höher
ausfiel als beim Typ-1-Diabetes. Bei der diabetischen Polyneuropathie und dem
diabetischen Fußsyndrom war die 5-Jahres-Prävalenz im Vergleich
zur 1-Jahres-Prävalenz jeweils um 24% höher. Die
Unterschiede zwischen Typ-2-Diabetes und Typ-1-Diabetes fielen geringer aus als
bei der diabetischen Retinopathie.
Abb. 1 Relativer Anstieg der Prävalenz
mikrovaskulärer Komplikationen in Abhängigkeit des
Beobachtungszeitraums stratifiziert nach Diabetestyp a
Diabetische Retinopathie.; b Diabetische Polyneuropathie.;
c Diabetisches Fußsyndrom.
Diskussion
Ziel der vorliegenden Studie war die Entwicklung und interne Validierung von
Falldefinitionen zur Prävalenzschätzung der mikrovaskulären
Komplikationen diabetische Retinopathie, diabetische Polyneuropathie und
diabetisches Fußsyndrom basierend auf Routinedaten der gesetzlichen
Krankenversicherung. Unter Einschluss von spezifischen ICD-Diagnosen konnten
Falldefinitionen entwickelt werden, deren interne Validität als hoch
einzuschätzen ist. Bei Bewertung der zeitlichen Persistenz, zeigt sich eine
mögliche Unterschätzung der 1-Jahres-Prävalenz, welche auf
eine fehlende jährliche Inanspruchnahme zurückzuführen sein
könnte und in der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt
werden muss.
Diabetische Retinopathie
Die vorliegende Falldefinition ergab eine 1-Jahres-Prävalenz von
9,6% für die diabetische Retinopathie, welche für
Personen mit Typ-1-Diabetes (26,8%) deutlich höher ausfiel als
Personen mit Typ-2-Diabetes (8,5%). Die
Prävalenzschätzung lag über den Analysen aller
AOK-Versicherten mit Typ-2-Diabetes (7,1% im Jahr 2010) [19 ] und aller gesetzlich Versicherten mit
Diabetes (7,0% im Jahr 2013) [12 ],
jedoch niedriger als Auswertungen von Versicherten mit Diabetes der AOK-Hessen
(12,2% im Jahr 2010) [20 ] und
Versicherten mit Typ-2-Diabetes der AOK Baden-Württemberg (24,9%
im Jahr 2010) [21 ]. Neben Abweichungen in
der Studienpopulation können die Abweichungen der Schätzungen
auch anhand von Unterschieden in der Definition der diabetischen Retinopathie
begründet sein. Während die ersten beiden Studien nur die H36.0
Diagnose in der Falldefinition beinhalten, umschließen die
letztgenannten Studien zusätzliche Diagnosen aus der Gruppe H35.-. Die
Dokumentation der Disease-Management-Programme für Typ-2- und
Typ-1-Diabetes zeigen etwas niedrigere Prävalenzen (Typ-2-Diabetes:
7,3%; Typ-1-Diabetes: 20,8% im Jahr 2020) [22 ]. Auswertungen von Primärdaten
zeigen für die diabetische Retinopathie bei Typ-1-Diabetes vergleichbare
Prävalenzen (27,4% im Jahr 2009) [23 ] und für den Typ-2-Diabetes
deutlich höhere Werte (20,1%) [24 ]. Der hohe Unterschied für Personen mit Typ-2-Diabetes
könnte zum einen darin begründet sein, dass in der Studie des
DPV-Registers auch Personen mit bisher unerkannter Morbidität enthalten
sind und zum anderen, dass die Retinopathie unabhängig der
Ätiologie berücksichtigt wird, da neben Diabetes auch eine
Hypertonie häufig Ursache einer Retinopathie sein kann [25 ]. Weiterhin deuteten die Unterschiede
zwischen der 5-Jahres- und 1-Jahres-Prävalenz in der vorliegenden
Studie, welche für den Typ-2-Diabetes besonders ausgeprägt
waren, auf eine fehlende jährliche Inanspruchnahme hin. So nahmen
gemäß der DEGS Studie im Jahr 2010 78% und
gemäß DMP-Dokumentation in NRW im Jahr 2021 66,7% der
Personen mit Typ-2-Diabetes im letzten Jahr an einer Augenuntersuchung teil
[22 ]
[26 ]. Da die fehlende Inanspruchnahme eines Augenarztes in
höherem Alter besonders ausgeprägt ist [27 ], könnte dies den Abfall der
Prävalenz der diabetischen Retinopathie im Alter ab 90 Jahren in der
vorliegenden Studie und auch anderen GKV-Analysen erklären [12 ]
[21 ].
Diabetische Polyneuropathie und diabetisches Fußsyndrom
Die in der vorliegenden Studie ermittelte 1-Jahres-Prävalenz der
diabetischen Polyneuropathie und des diabetischen Fußsyndrom fallen
höher aus, als Schätzungen in früheren Analysen auf
Basis von Routinedaten, welche Versicherte mit Diabetes allgemein oder nur mit
Typ-2-Diabetes untersuchten und für die diabetische Polyneuropathie
Prävalenzen zwischen 11–19% [12 ]
[19 ]
[20 ]
[28 ] und für das diabetische
Fußsyndrom zwischen 3–11% berichten [12 ]
[19 ]
[28 ]. Eine aktuelle Analyse
im Rahmen der BURDEN 2020-Studie berichtet für das Jahr 2017
vergleichbare nach Alter und Diabetestyp stratifizierte Prävalenzen,
welche analog der vorliegenden Studie für Personen mit Typ-1-Diabetes
höher ausfallen als für Personen mit Typ-2-Diabetes [29 ]. Insgesamt lässt sich
über die Zeit eine Zunahme der Prävalenzschätzungen in
Routinedaten erkennen, was möglicherweise darauf
zurückzuführen ist, dass für die Verordnung
podologischer Leistungen seit 2011 eine Diagnosedokumentation beispielsweise des
diabetischen Fußsyndroms erforderlich ist [30 ] und in der vorliegenden Analyse
für mehr als die Hälfte der Personen mit diabetischem
Fußsyndrom dokumentiert war. Die Dokumentation des DMP bestätigt
die Unterschiede in der Häufigkeit der Komplikationen zwischen den
Diabetestypen, berichtet allerdings insgesamt für die diabetische
Polyneuropathie etwas höhere (Typ-2-Diabetes: 28,6%;
Typ-1-Diabetes: 31,0% im Jahr 2020) und für das diabetische
Fußsyndrom (Typ-2-Diabetes: 9,6%; Typ-1-Diabetes: 13,1%
im Jahr 2020) etwas niedrigere Prävalenzen [22 ]. Die Unterschiede zum DMP
könnten auf eine unterschiedliche Versorgung
zurückzuführen sein. So nehmen DMP-Teilnehmende häufiger
Fußuntersuchungen in Anspruch, was einerseits zu einer höheren
Diagnosewahrscheinlichkeit beiträgt und andererseits jedoch
möglicherweise der Entwicklung eines diabetischen Fußes vorbeugt
[31 ]. Analog zur diabetischen
Retinopathie nehmen nicht alle Personen mit Diabetes eine jährliche
Untersuchung des Fußes wahr [22 ]
[26 ], was zu den
Unterschieden zwischen der 1- und 5-Jahres-Prävalenz beitragen
könnte.
Limitationen und Stärken
Die vorliegende Studie basiert auf der Stichprobe einer einzelnen Krankenkasse.
Die stratifizierte Stichprobenziehung kann nur Abweichungen in der Alters- und
Geschlechtsverteilung zur Bevölkerung ausgleichen, nicht aber
bezüglich anderer Variablen, sodass ein möglicher Selektionsbias
(„Kassenbias“) bestehen bleibt und sich die Morbidität
in der Studienpopulation von der Allgemeinbevölkerung unterscheidet
[32 ]. Weiterhin kann auch das
Kriterium hinsichtlich der durchgehenden Versichertenzeit von 2010 bis 2018 zu
einem Selektionsbias führen [33 ].
Die Schätzung der Prävalenzen der mikrovaskulären
Komplikationen hängt maßgeblich von der Codierpraxis ab, wobei
die interne Validierung über 95% der Diagnosen
bestätigte. Jedoch kann eine mögliche Unterschätzung der
Prävalenzen vorliegen. So kann eine bisher unerkannte
Morbidität, welche in Primärstudien auf Basis beispielsweise
einer augenärztlichen Untersuchung festgestellt werden kann, nicht in
der Falldefinition berücksichtigt werden. Im Gegensatz zu
Primärdaten ermöglicht die hohe Fallzahl in den Routinedaten
jedoch eine detaillierte Analyse auch für den selteneren Typ-1-Diabetes.
Weiterhin werden die Daten aller Versicherten ausgewertet und es gibt keine
Verzerrung durch die unterschiedliche Response verschiedener Gruppen.
Andererseits sind in den Routinedaten nur Diagnosen für Personen
dokumentiert, welche das Gesundheitssystem in Anspruch genommen haben.
Fazit und Ausblick
Routinedaten ermöglichen die Prävalenzschätzung von
mikrovaskulären Komplikationen differenziert nach Diabetestyp, Alter und
Geschlecht für die Surveillance von Diabetes im Zeitverlauf. Hierbei
können zusätzliche Diagnosen, welche die Komplikation ohne
expliziten Diabetesbezug verschlüsseln, die Sensitivität der
Falldefinitionen erhöhen und die interne Validierung bestätigte eine
hohe Plausibilität der dokumentierten Diagnosen. Allerdings deuten die
Analysen der zeitlichen Persistenz darauf hin, dass Diagnosen nicht jedes Jahr
dokumentiert werden, obwohl Leitlinien die jährliche Untersuchung empfehlen.
Somit ist von einer Unterschätzung der Prävalenz
mikrovaskulärer Komplikationen bei Betrachtung eines 1-Jahreszeitraums
auszugehen. Daher könnte es sich als sinnvoll erweisen längere
Zeiträume zur Prävalenzschätzung der mikrovaskulären
Komplikationen zugrunde zu legen und die Falldefinitionen in externen
Validierungsstudien zu prüfen. Für die Surveillance können
die Daten dennoch wichtige Hinweise auf die zeitliche Entwicklung der
mikrovaskulären Komplikationen liefern, müssen aber eng im Kontext
der Versorgung und Inanspruchnahme interpretiert werden.