Schlüsselwörter
Krebsversorgung - Fahrtzeiten - Spezialisierung - Dänemark
Key words
cancer treatment - specialization - driving times - Denmark
Einleitung
Der dezentralisierten deutschen Krankenhauslandschaft mangelt es an einer gezielten
Versorgungssteuerung und Rahmenplanung, was in eine Fehl-, Unter- und
Überversorgung sowie Variation der Behandlungsqualität
mündet. Andere europäische Länder mit ähnlichen
Ausgangsbedingungen am Ende des 20. Jahrhunderts haben in den vergangenen Jahren
damit begonnen, die stationären und sektorenübergreifenden
Versorgungsstrukturen neu auszurichten und zu diesem Zweck in großem Umfang
in die bauliche und technische Infrastruktur zu investieren [1]. Dazu zählt allen voran
Dänemark, wo das Angebot spezialisierter Behandlungen als Konsequenz aus
einer im internationalen Vergleich schlecht abschneidenden Versorgung, vor allem im
Hinblick auf die Sterblichkeit bei Herzinfarkten und Krebs (Mitte bzw. Ende der 90er
Jahre), und vor dem Hintergrund einer stark ausgeprägten Variation der
Behandlungsqualität innerhalb des Landes deutlich reformiert wurde [2].
Dazu wurden sogenannte Spezialisierungspläne implementiert, die für
ca. 1.000 Prozeduren Angaben dazu beinhalten, welche Krankenhäuser
dafür zugelassen sind. In den Plänen ist u. a. explizit
festgelegt, welche konkreten Krankenhäuser welche Eingriffe vornehmen bzw.
welche Patient*innen sie behandeln dürfen [3]. Trotz (oder wegen) der daraus
resultierenden starken Zentralisierung von stationären Behandlungsangeboten
für Krebspatient*innen konnte in Dänemark eine Verbesserung
der Behandlungsergebnisse erzielt werden. So zeigt sich etwa für das
Rektumkarzinom eine innerhalb von zehn Jahren deutlich verbesserte
5-Jahres-Überlebensrate, die inzwischen besser ist als für
Darmkrebspatient*innen in Deutschland. Hier gab es zwischen 60,9% in
den frühen 2000er Jahren nur eine geringe Steigerung des Überlebens
auf 62,3% bis zu den frühen 2010er Jahren, wohingegen sich in
Dänemark eine starke Entwicklung von 53,2% auf 64,8% im
selben Zeitraum gezeigt hat [4].
Und das, obwohl in Deutschland mit den durch die Deutsche Krebsgesellschaft (DKG)
zertifizierten Krebszentren ausgesprochen gute spezialisierte Versorgungsstrukturen
vorgehalten werden [1].
Diese werden jedoch infolge einer fehlenden Versorgungssteuerung nur unzureichend
genutzt: Während die Behandlung von Darmkrebs in Dänemark auf 11
zugelassene Krankenhäuser mit einem Einzugsgebiet von durchschnittlich je
527.000 Einwohner*innen beschränkt ist, werden in Deutschland
57% der Patient*innen mit einem solchen Tumor außerhalb
zertifizierter Krankenhäuser behandelt, obwohl diese mit einem halb so
großen Einzugsgebiet in ausreichender Menge vorliegen. Würden
dänische Verhältnisse hier übertragen, käme das
sogar einer Reduktion um 45% der Darmkrebszentren gleich [1].
Vorhandene Analysen zu Fahrtzeiten bei elektiver stationärer Behandlung
bestätigen dieses
Bild und zeigen eine durchweg gute Erreichbarkeit (auch spezialisierter)
Behandlungseinrichtungen. So würde eine Reduktion der Kliniken zur
Implantation eines Hüftgelenkes auf ein Drittel (345 von 1.188) die
Erreichbarkeit lediglich von 9 auf 17 Minuten erhöhen [5]. Bei der Implantation eines Kniegelenkes
zeigt sich ein ähnliches Bild; hier wurde in einer Simulation der
Marktaustritte von insgesamt 21 hessischen Krankenhäusern (jeweils unterhalb
der gesetzlich vorgeschriebenen Mindestmenge) aufgezeigt, dass sich die Fahrzeiten
bei rekursiver Umverteilung in die verbleibenden 70 Krankenhäuser nur
unwesentlich verändern und 99% der Bevölkerung innerhalb von
durchschnittlich 27,4 Minuten eine geeignete Behandlungsstätte erreichen
würde [6] – und das bei
elektiven orthopädischen Eingriffen, bei denen auch bisher schon viele
Patient*innen den weiteren Weg zur Wunschklinik auf sich nehmen [7] bzw. auf sich nehmen würden [8]. Eine ähnliche Analyse zeigte solche
Ergebnisse auch für die Behandlung von Darmkrebs, wo die Mehrheit jener
Patient*innen, die sich in einem Zentrum haben behandeln lassen, nicht das
nächste Krankenhaus gewählt und dafür einen im Median 7,3
Kilometer längeren Fahrtweg in Kauf genommen hat [9].
Zielsetzung und Fragestellung
Vor diesem Hintergrund und in Anlehnung an die Spezialisierungspläne in
Dänemark soll die vorliegende Analyse am Beispiel der operativen
Behandlung des kolorektalen Karzinoms darstellen, wie sich eine
ausschließlich auf durch die DKG zertifizierte Krankenhäuser
beschränkte Versorgung auf die Fahrtzeiten von Betroffenen auswirkt.
Darüber hinaus zielt die Analyse darauf ab, Einflussfaktoren auf die
Fahrtzeit zu ermitteln.
Methoden
Für die vorliegende Analyse wurden für das Jahr 2018 Daten aus den
strukturierten Qualitätsberichten (sQB) und von bei der AOK versicherten
Patient*innen genutzt, bei denen eine Resektion des Kolons (Operationen- und
Prozedurenschlüssel [OPS] 5–455, 5–546) oder Rektums
(OPS-Kodes 5–484, 5–485, 5–486,3 und 5–486,4)
erfolgt ist.
Über die genannten OPS-Kodes definierte Fälle wurden aus den
Krankenhausabrechnungsdaten der AOK aus dem Jahr 2018 extrahiert und pseudonymisiert
mit der Information zur Verfügung gestellt, in welchem Krankenhaus die
Behandlung stattgefunden hat. Darüber hinaus wurde der Wohnort der
Patient*innen als 5-stellige Postleitzahl (PLZ) sowie das Alter und
Komorbiditäten übermittelt. Um letztgenannte Daten in den
weitergehenden Analysen nutzen zu können, wurde für jede*n
Patient*in der Charlson-Komorbiditätsindex berechnet [10].
Daneben wurde in der vorliegenden Analyse die Gesamt-Anzahl der o. g. Prozeduren aus
den sQB herangezogen, um insgesamt das Behandlungsvolumen für alle
Patient*innen unabhängig von der Krankenkasse aufzeigen zu
können. Weiterhin wurden die Koordinaten der Krankenhäuser anhand
der Adressdaten der Krankenhäuser aus den sQB ermittelt – auch, um
das nächste Krankenhaus mit zertifiziertem Darmkrebszentrum ausmachen zu
können.
Darüber hinaus wurden Angaben der DKG bezüglich einer vorhandenen
Zertifizierung eines Darmkrebszentrums genutzt und als binäre Variable in
die Analyse eingeschlossen. Dabei wurde eine Zertifizierung für das Jahr
2018 angenommen, wenn diese bis mindestens zum Jahresende Gültigkeit hatte.
Die Berichterstattung im Rahmen der sQB ist seit 2013 verpflichtend für
Krankenhäuser; sie umfasst unter anderem Angaben zu Behandlungen, zur
Ausstattung und zum Personal.
Zuletzt wurde das monatliche Medianeinkommen auf Kreisebene [11] zu den entsprechenden PLZ der
Patient*innen ergänzt.
Die aggregierten und anonymisierten Daten wurden im Rahmen des
DFG-geförderten Projekts Ergebnistransparenz und deren Auswirkung auf die
Versorgungsqualität in Krankenhäusern erhoben bzw. zusammen- und
für das vorliegende Projekt zur Verfügung gestellt. Die
Zusammenführung der verschiedenen Datenquellen in einen Datensatz erfolgte
dabei auf Basis des Institutionskennzeichens der Krankenhäuser. Die
ursprüngliche Stichprobe umfasste alle Krankenhäuser, die 2018
mindestens einmal eine der o. g. Prozeduren durchgeführt haben. Bei einer
Datenbereinigung etwa im Hinblick auf eine Mindestanzahl durchgeführter
Prozeduren wurde die Stichprobe leicht reduziert. Weitere Details dazu und zur
Datenbasis können einer anderen Publikation [12] entnommen werden.
Um den Einfluss verschiedener Faktoren wie Alter und Komorbiditäten sowie
Zertifizierungsstatus auf die Fahrtzeit in das gewählte Krankenhaus zu
ermitteln, wurde eine multiple Regressionsanalyse durchgeführt. Das
Signifikanzniveau wurde auf 5% festgelegt.
Im Rahmen von Szenarioanalysen wurde analysiert, wie sich die durchschnittliche
Fahrzeit für Patient*innen verändern würde, wenn
(Szenario 1) alle Behandlungen im nächstgelegenen
Darmkrebszentrum stattfinden und (Szenario 2) alle Behandlungen, die bisher
nicht in einem Darmkrebszentrum stattgefunden haben, in das nächstgelegene
Darmkrebszentrum verlagert würden.
Für die Szenarioanalysen wurden in einem ersten Schritt für jeden
Fall die Fahrzeiten zum gewählten Behandlungsort berechnet. Dabei wurde die
Fahrzeit definiert als Zeit, die Patient*innen mit einem durchschnittlichen
PKW bei durchschnittlichem Verkehr vom Mittelpunkt der PLZ ihres Wohnorts zu den
Koordinaten des Krankenhauses benötigen. Die Koordinaten der
Krankenhäuser und die Mittelpunkte der PLZ wurden über eine Abfrage
der Google API ermittelt. Die Berechnung der Fahrtzeiten wiederum erfolgte in
Anlehnung an [13] unter Zuhilfenahme eines
lokalen Open Routing Machine Servers.
Dazu wurde in einem zweiten Schritt – je nach Szenario –
zunächst für alle bzw. für jene Fälle, die bisher
nicht in einem Krankenhaus mit Darmkrebszentrum behandelt worden sind, das
nächstgelegene Darmkrebszentrum ermittelt. Im dritten Schritt wurden dann
die durchschnittlichen Fahrtzeiten sowie weitere Kennzahlen innerhalb der Szenarien
berechnet.
Die Berechnung der Fahrzeiten und inferenzstatistische Analysen erfolgten mithilfe
des Statistikprogramms Stata. Für die deskriptiven Analysen und
kartographischen Darstellungen wurde das Statistikprogramm R verwendet.
Ergebnisse
Insgesamt lagen für das Jahr 2018 Daten für 33.073 Fälle vor,
wobei Mehrfachzählungen auf Patientenebene möglich sind. An deren
Behandlung waren 795 Krankenhäuser beteiligt; darunter 247 mit einem
zertifizierten Darmtumorzentrum (siehe [Abb.
1]). In den in Deutschland an der Versorgung dieser Patientengruppe
beteiligten Krankenhäusern wurden im Durchschnitt 174 Fälle
behandelt, wobei die Spannweite zwischen 16 und 1.097 Fällen lag (hier und
im Folgenden alle GKV-Versicherten).
Abb. 1 Zertifizierungsstatus der an der Versorgung beteiligten
Krankenhäuser (2018).
Auf Ebene der einzelnen Standorte betrachtet wird deutlich, dass das
jährliche Fallaufkommen selbst in Ballungsgebieten zwischen zumeist 50 und
200 schwankt, wobei die meisten an der Durchführung der hier betrachteten
Prozeduren beteiligten Krankenhäuser in Hamburg ein höheres
Fallaufkommen (>200 Fälle) aufwiesen als dies in anderen
Ballungsgebieten wie Berlin der Fall war (siehe [Abb. 2]). Hier und auch in Nordrhein-Westfalen (Essen,
Düsseldorf, Köln) überwogen Krankenhäuser mit einem
Fallaufkommen zwischen 50 und 200 in 2018.
Abb. 2 Fallaufkommen in der Behandlung des kolorektalen Karzinoms auf
Krankenhausebene (2018).
Von den 33.073 Fällen mit Versicherungsverhältnis bei der AOK nahmen
48,6% (n=16.085) eine Behandlung im nächstgelegenen
Krankenhaus in Anspruch. Unter diesen wurden nur 39,7% (n=6.383)
aller Behandlungen in einem zertifizierten Darmkrebszentrum durchgeführt.
Betrachtet man jene Fälle, die nicht im nächstgelegenen Krankenhaus
behandelt wurden, lag dieser Anteil zwar höher, mit 9.019 Fällen
aber auch nur bei 53,1%. Insgesamt wurde in 46,6% aller
Fälle (n=15.402) ein zertifiziertes Darmkrebszentrum für die
Behandlung ausgewählt.
Insgesamt lag die Fahrtzeit zum gewählten Behandlungsort bei durchschnittlich
19,5 Minuten (Median: 15,5). Jene Fälle, die in einem Krankenhaus ohne
Zertifizierung als Darmkrebszentrum behandelt wurden, hatten eine durchschnittliche
Fahrtzeit von 17,9 Minuten (Median: 15,0). Für Fälle, deren
Behandlung in einem zertifizierten Darmkrebszentrum stattfand, war die Fahrtzeit im
Mittel weniger als vier Minuten länger (21,4 Minuten; Median: 16,3).
[Tab. 1] stellt demographische und klinische
Charakteristika für Fälle in und außerhalb von
zertifizierten Darmkrebszentren dar. Dabei zeigen sich vor allen Dingen Unterschiede
beim medianen Monatseinkommen und beim Charlson-Komorbiditätsindex mit
jeweils höheren Werten in der Gruppe, die in einem zertifizierten Zentrum
behandelt worden ist. Neben diesen beiden unabhängigen Variablen
berücksichtigt die multiple Regressionsanalyse auch den Einfluss der
unabhängigen Variablen Alter sowie der binären Variablen
DKG-Zertifizierungsstatus und Wahl des nächsten Krankenhauses auf die
abhängige Variable Fahrtzeit.
Tab. 1 Demographische und klinische Charakteristika der
Fälle.
|
DKG-Zertifizierungsstatus
|
Gesamt
|
nicht-zertifiziert (n=17.671)
|
zertifiziert (=15.402)
|
Alter (MW; SD)
|
68; 15
|
66; 16
|
67; 16
|
Geschlecht
|
weiblich
|
48,3% (n=8.530)
|
49,4% (n=7.801)
|
48,8% (n=16.131)
|
männlich
|
51,7% (n=9.141)
|
50,6% (n=7.601)
|
51,2% (n=16.942)
|
Charlson-Komorbiditätsindex
|
CCI 1–2
|
23,9% (n=4.229)
|
23,5% (n=3.619)
|
23,7% (n=7.848)
|
CCI 3–4
|
11,8% (n=2.092)
|
10,8% (n=1.665)
|
11,4% (n=3.757)
|
CCI>5
|
64,2% (n=11.350)
|
65,7% (n=10.118)
|
64,9% (n=21.468)
|
Medianes Monatseinkommen (in €)
|
2.000–3.000
|
42,0% (n=7.238)
|
32,4% (n=4.858)
|
36,6% (n=12.096)
|
>3.000–4.000
|
57,8% (n=9.976)
|
67,1% (n=10.081)
|
60,6% (n=20.057)
|
>4.000
|
0,1% (n=12)
|
0,5% (n=78)
|
0,3% (n=90)
|
Abkürzungen: MW=Mittelwert; SD=Standardabweichung
Da das Alter [7]
[14] und Komorbiditäten [14]
[15]
vorhandenen Studien zufolge einen Einfluss auf die Wahl des Krankenhauses haben
können, wurden diese Variablen in unseren Modellen berücksichtigt.
Die Komorbiditäten wurden dabei mithilfe des
Charlson-Komorbiditätsindex ausgedrückt, bei dem es sich um das am
häufigsten angewandte Modell zur Risikoadjustierung handelt [16]. Dazu wissen wir aus weiteren
Forschungsarbeiten, dass die Zertifizierung als Darmkrebszentren im Zusammenhang mit
einer längeren Fahrtzeit steht [12]
und haben auch diese Variable entsprechend berücksichtigt. Der Einbezug des
Einkommens in das Modell war explorativer Natur und begründet sich in den
Unterschieden, die die deskriptive Statistik gezeigt hat.
Die Analyse zeigt einen signifikanten Einfluss aller berücksichtigten
Variablen (siehe [Tab. 2]). Die
Regressionskoeffizienten weisen dabei einen die Fahrtzeit verringernden Einfluss
für die Variablen Alter (ß=-,064), medianes
Monatseinkommen (ß=-,007) und Wahl des nächsten
Krankenhauses (ß=-15,458) auf. Dagegen zeigt sich
für die Variablen Charlson-Komorbiditätsindex
(ß=,049) und DKG-Zertifizierungsstatus
(ß=2,015) ein die Fahrtzeit verlängernder Einfluss auf die
Fahrtzeit. Das Modell mit einem R²-Wert von ,263 erklärt
26,3% der Varianz. Die Variable Geschlecht hatte keinen Einfluss auf die
Modellgüte und wurde daher nicht in das finale Modell aufgenommen.
Alternative Modelle finden sich im Anhang (online verfügbar).
Tab. 2 Ergebnisse der multiplen linearen Regressionsanalyse
(Anmerkungen: Abhängige Variable: Fahrtzeit; a. Referenz:
nicht-zertifiziert; b. Referenz: keine Wahl des nächsten
Krankenhauses; Abkürzungen: SD=Standardabweichung;
KI=Konfidenzintervall; R²=,263).
|
Koeffizienten
|
SD
|
t-Wert
|
p-Wert
|
unteres 95%-KI
|
oberes 95%-KI
|
(Konstante)
|
52,157
|
0,696
|
74,933
|
0,000
|
50,793
|
53,521
|
Alter
|
− 0,064
|
0,005
|
− 12,608
|
0,000
|
− 0,074
|
− 0,054
|
Charlson-Komorbiditätsindex
|
0,049
|
0,016
|
3,072
|
0,002
|
0,018
|
0,080
|
DKG-Zertifizierungsstatusa
|
2,015
|
0,158
|
12,723
|
0,000
|
1,704
|
2,325
|
Monatseinkommen (Median)
|
− 0,007
|
0,000
|
− 37,379
|
0,000
|
− 0,008
|
− 0,007
|
Wahl nächstes Krankenhausb
|
− 15,458
|
0,157
|
− 98,535
|
0,000
|
− 15,766
|
− 15,151
|
Würden, wie in Szenario 1 simuliert, alle Fälle im
nächstgelegenen Darmkrebszentrum behandelt, ergäbe sich eine
Fahrtzeitverlängerung von 19,5 auf 23,4 Minuten (Median: 20,2). Bei einer
Verlagerung der Behandlung jener Fälle in ein Krebszentrum, die bisher nicht
in einem solchen behandelt worden sind, zeigt sich für das Szenario 2
eine Verlängerung der Fahrzeit von durchschnittlich 17,9 auf 29,0 Minuten
(Median: 27,2).
In [Tab. 3] sind die mittleren Fahrtzeiten
sowie weitere Kennzahlen sowohl für das aktuelle Versorgungsgeschehen als
auch für die Szenarioanalysen zusammenfassend dargestellt. Dabei zeigt sich,
dass die maximale Fahrtzeit von 303,2 Minuten zwar sehr hoch ist, aber in beiden
Szenarien noch unter der im tatsächlichen Versorgungsgeschehen liegt
– zumindest im Hinblick auf Krankenhäuser ohne zertifiziertes
Zentrum. Dort lag die maximale Fahrtzeit bei 305,3 Minuten, wohingegen sie bei
Krankenhäusern mit zertifiziertem Darmkrebszentrum bei „nur“
261,06 Minuten lag.
Tab. 3 Fahrtzeiten im Versorgungsgeschehen des Jahres 2018 und
in Szenarioanalysen (jeweils in Minuten).
|
Versorgungsgeschehen in 2018
|
Szenarioanalysen
|
Fahrtzeit insgesamt
|
Fahrtzeit mit zertifiziertem Zentrum
|
Fahrtzeit ohne zertifiziertes Zentrum
|
Szenario 1
|
Szenario 2
|
Fälle
|
33.073
|
15.402
|
17.671
|
33.073
|
17.671
|
Mittelwert
|
19,53
|
21,38
|
17,91
|
23,41
|
29,00
|
Median
|
15,53
|
16,30
|
14,97
|
20,20
|
27,16
|
SD
|
16,38
|
17,90
|
14,73
|
15,85
|
16,54
|
Minimum
|
0,00
|
0,00
|
0,00
|
0,00
|
0,00
|
Maximum
|
305,26
|
261,06
|
305,26
|
303,24
|
303,24
|
Diskussion
Die Szenarioanalyse für den Bereich der elektiven Versorgung am Beispiel des
kolorektalen Karzinoms hat gezeigt, dass bereits über die Hälfte
aller Patient*innen weitere Wege als ins nächstgelegene Krankenhaus
auf sich nimmt. Dies hatten Wesselmann et al. (2015) bereits für eine
Mehrheit jener Patient*innen aufgezeigt, die sich in einem Zentrum behandeln
ließen [9]. Hier lag der
zusätzliche Weg im Median bei rund sieben Kilometern. Die vorliegende Studie
hat sogar ergeben, dass jene Patient*innen, die sich für ein
zertifiziertes Zentrum entscheiden, mehrheitlich nicht das nächstgelegene
zertifizierte Zentrum gewählt haben, was für eine gezielte Selektion
des Behandlungsorts spricht.
Die Ergebnisse haben zudem gezeigt, dass die initiale Fahrtzeit zum Krankenhaus
signifikant von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird, wobei u. a. die
Wahl des nächstgelegenen Krankenhauses und das Alter mit einer
kürzeren Fahrtzeit in Verbindung stehen. Das entspricht Ergebnissen bereits
vorhandener Studien, die ebenfalls ermittelt haben, dass ältere
Patient*innen eher wohnortnah behandelt werden [7]
[14].
Dass Patient*innen mit einem höheren Komorbiditätsindex nach
Charlson unseren Analysen zufolge eher weitere Fahrtwege auf sich nehmen, entspricht
ebenfalls den Ergebnissen anderer Untersuchungen. Diese weisen darauf hin, dass
Patient*innen zwar eine wohnortnahe Behandlung bevorzugen [17]
[18],
jedoch mit steigendem Behandlungsrisiko auch die Bereitschaft zu längeren
Fahrtwegen wächst [14]
[15].
Die Szenarien zeigten, dass eine ausschließliche Behandlung des kolorektalen
Karzinoms in zertifizierten Zentren weiterhin eine Fahrtzeit von unter 30 Minuten
für Betroffene und ihre Angehörigen ermöglichen
würde, was der vom G-BA geforderten Erreichbarkeit von Grundversorgern
entspricht [19]. Das unterstreicht nur, dass
Deutschland verglichen mit Dänemark noch deutlich mehr spezialisierte
Zentren mit jeweils geringerem Einzugsgebiet aufweist.
Dass diese aufgrund der fehlenden Patientensteuerung jedoch nicht hinreichend genutzt
werden, ist vor dem Hintergrund einer höheren
Überlebenswahrscheinlichkeit für Darmkrebspatient*innen in
zertifizierten ggü. nicht-zertifizierten Behandlungseinrichtungen [20]
[21]
[22] eine politische Frage, die
es anzugehen gilt. Auch vor dem Hintergrund stetig steigender Ausgaben für
das Gesundheitssystem [23] wird der politische
Handlungsbedarf dadurch untermauert, dass die Behandlung von Betroffenen in einem
zertifizierten Darmkrebszentrum auch aus ökonomischer Sicht sinnvoll ist. So
zeigt etwa die Untersuchung von Cheng et al. (2021) nicht nur bessere
Behandlungsergebnisse in zertifizierten Zentren, sondern auch, dass diese im
Vergleich zur Regelversorgung mit geringeren Kosten verbunden sind [22]. Insofern ist der Vorstoß der
Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte
Krankenhausversorgung, für Krebsbehandlung spezifische Leistungsgruppen
vorzusehen, die mit verpflichtenden Strukturanforderungen wie dem Vorhandensein von
zertifizierten onkologischen Zentren verbunden werden sollen [24], ein wichtiger Schritt in die richtige
Richtung.
Es gibt jedoch auch internationale Untersuchungen, die darauf hinweisen, dass
höhere Fahrtzeiten zu Krebszentren mit einer geringeren
Überlebenswahrscheinlichkeit im Zusammenhang stehen [25]
[26]
[27]
[28]. So zeigten Gotfrit et al. (2021)
beispielsweise, dass eine Fahrtzeit von über einer Stunde zum
nächsten Krebszentrum mit einem schlechteren Gesamt- sowie krankheitsfreien
Überleben der Betroffenen verbunden war [28]. Dabei konnten die Autor*innen hier nicht
ausschließen, dass bestimmte Risikofaktoren bei eher ländlich
lebenden Patient*innen ggf. häufiger vorhanden waren, die wiederum
einen Einfluss auf die Überlebenswahrscheinlichkeit haben. Die Ergebnisse
der Studie von Turner et al. (2017) weisen bereits auf eine höhere
Sterblichkeit bei Krebspatient*innen in Schottland hin, die in einer
Entfernung von mehr als 30 Minuten von ihrem Krebszentrum leben [27]. Die Ergebnisse einer weiteren Studie [25] zeigen einen solchen Zusammenhang zwischen
Fahrtzeit und Überleben für Betroffene mit Gallengangkarzinom erst
ab einer Fahrtzeit von zwei Stunden.
Den Autor*innen zufolge könne dies u. a. auf eine geringere
Wahrscheinlichkeit der Durchführung einer Chemotherapie
zurückzuführen sein oder auch darauf, dass Betroffene bei
Komplikationen ggf. Notaufnahmen in wohnortnahen Krankenhäusern aufsuchten,
die weniger Erfahrung in der Behandlung komplexer Krebserkrankungen aufweisen. Zwar
zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Studie, dass die Versorgungsdichte mit
Krebszentren in Deutschland so hoch ist, dass auch eine Fahrtzeit von unter 30
Minuten in das nächstgelegene Krebszentrum gewährleistet
wäre. Nichtsdestotrotz sollten die genannten Umstände unbedingt
Beachtung finden, sollte die Krankenhausplanung künftig mehr auf
Spezialisierung setzen. Das gilt auch und insbesondere vor dem Hintergrund, dass
Patient*innen unseren Ergebnissen zufolge mehrheitlich nicht das
nächstgelegene Zentrum wählen, sondern bis zu ca. vier Stunden Fahrt
in ein weiter entfernt gelegenes Zentrum (bzw. bis ca. zu fünf Stunden in
ein Krankenhaus ohne Zentrum) auf sich nehmen. Hier könnte etwa die
Befragung von Betroffenen oder Patientenvertretungen Aufschluss darüber
geben, welche Aspekte bei einer gezielteren Steuerung insgesamt zu
berücksichtigen wären.
Unabhängig davon lassen sich insbesondere in Ballungsgebieten
Parallelstrukturen erkennen, die auf ein Umstrukturierungspotential hinweisen. Das
wird unterstrichen von Analysen, die gezeigt haben, dass sich mehr als 75%
der kleineren Krankenhäuser mit unter 300 Betten ohne Spezialisierung in den
Ballungszentren befinden und Schließungen demnach keinerlei
Versorgungslücken hinterlassen würden [29].
Insgesamt kann geschlussfolgert werden, dass die Nutzung vorhandener
Versorgungsstrukturen deutlich ausbaufähig ist und dabei lediglich mit
unwesentlich längeren Fahrtzeiten verbunden wäre. Der vorliegenden
Analyse zufolge wäre eine wohnortnahe Versorgung auch bei einer
Konzentration auf spezialisierte Darmkrebszentren weiterhin möglich und es
kann auf Basis bestehender Literatur davon ausgegangen werden, dass dies auch
übertragbar ist auf andere elektive Indikationen. So zeigten etwa die
Analysen von Loos et al. (2016) für fünf Leistungsbereiche, dass
eine Verringerung der Anzahl von Krankenhäusern infolge einer
höheren Mindestmenge lediglich in eine Erhöhung der Fahrtzeit um
zwei bis fünf Minuten resultieren würde [5]. Demnach wären Kliniken für
die Implantation künstlicher Hüftgelenke in durchschnittlich elf
statt bisher neun Minuten zu erreichen, für eine Prostatektomie
wären es durchschnittlich 20 Minuten und für einen Herz-Bypass oder
eine Herzklappen-Operation 28 Minuten – damit lägen auch diese
allesamt innerhalb der vom G-BA empfohlenen Erreichbarkeit für
Grundversorger [19].
Der vorliegenden Untersuchung liegen diverse Limitationen zugrunde. Erstens kann
anhand der Datenbasis nicht zwischen Fall- und tatsächlichen Patientenzahlen
(d. h. mit wieder aufgenommenen und mehrfach behandelten
Patient*innen) unterschieden werden. Dabei wäre genau das
für eine zielorientierte Krankenhausplanung notwendig [30]. Darüber hinaus wurden nur
Darmkrebsfälle mit operativer Behandlung und damit nur ein Teil aller
Fälle berücksichtigt. Da das Zertifizierungsverfahren der DKG jedoch
selbst eine Mindestmenge für die operative Behandlung vorsieht, scheint das
Vorgehen angemessen. Ebenfalls limitierend ist die fehlende
Überprüfbarkeit, ob Patient*innen tatsächlich in dem
Darmkrebszentrum behandelt worden sind, da die Analyse auf Krankenhausebene
stattgefunden hat. Wenn es auch unwahrscheinlich ist, so kann es doch sein, dass
Betroffene zwar in einem Krankenhaus mit zertifiziertem Darmkrebszentrum
behandelt worden sind, nicht aber im Zentrum selbst. Diese wären dann
fälschlicherweise der Gruppe von Patient*innen zugeordnet worden,
die eine Behandlung in einem Darmkrebszentrum erhalten haben. Weiterhin kann nicht
ausgeschlossen werden, dass Krankenhäuser trotz fehlender Zertifizierung als
Darmkrebszentrum bereits entsprechende Anforderungen erfüllen, was eine
Überschätzung der Fahrtzeiten in den Szenarioanalysen bewirken
würde. Dazu wurden für die Analysen die OPS-Kodierungen für
die Resektion des Kolons bzw. Rektums herangezogen. Von denen entfallen zwar rund
61% auf Krebspatient*innen, betreffen jedoch auch
Patient*innen mit benignen Erkrankungen [12]. Dadurch können die Ergebnisse verzerrt sein. Darüber
hinaus sind die Ergebnisse nicht repräsentativ für die
Gesamtbevölkerung, da in 2018 nur rund 35% der hier betrachteten
Prozeduren auf AOK-Versicherte entfallen sind (ebd.). Weiterhin sollten die
Ergebnisse hinsichtlich des medianen Monatseinkommens nicht
überinterpretiert werden, da dieses nicht auf Individual- sondern nur auf
Kreisebene berücksichtigt werden konnte. Hier könnten weitere
Studien unter Berücksichtigung des Individualeinkommens und ggf. des
Bildungsgrads oder der Health Literacy Aufschluss darüber geben, ob diese
einen Einfluss auf die Wahl des Krankenhauses und damit die Fahrtzeit haben. Zuletzt
wurde angenommen, dass das Zertifizierungsverfahren der DKG mit den Anforderungen
der Spezialisierungspläne in Dänemark gleichzusetzen ist; dabei
handelt es sich jedoch nur um ein freiwilliges Verfahren, das sich – bislang
– einer zentralen Planung entzieht. Es könnte allerdings ggf. bei
einer Krankenhausplanung anhand von Leistungsgruppen genutzt werden [31].
Dass zentrale Planung einer Verbesserung patientenrelevanter Endpunkte nicht
entgegensteht, sondern im Gegenteil diese gar befördert, hat
Dänemark eindrücklich gezeigt. Dabei darf nicht außer Acht
gelassen werden, dass dort insbesondere im Bereich der Krebsversorgung
zusätzliche Maßnahmen getroffen worden sind, um die Qualität
der Behandlung zu verbessern und dass insgesamt ein hoher Digitalisierungsgrad
Voraussetzung für die starke Zentralisierung war. Doch auch hier
lässt sich vor dem Hintergrund eines längst existierenden Nationalen
Krebsplanes [32] mit Handlungsempfehlungen
für die meisten der hier benannten Probleme etwas von Dänemark
lernen, wo nicht zuletzt politischer Handlungswille zum Erfolg des dänischen
Modells und einer besseren Versorgung für Krebspatient*innen
beigetragen hat.
Förderung und Finanzierung: Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen
des vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA)
geförderten Projektes Krankenhaus Impulse für Deutschland aus
Dänemark (K:IDD, Fördernummer: 01VSF18044). Die Geldgeber
hatten weder Einfluss auf die Planung dieser Arbeit oder die Abfrage, Analyse und
Interpretation der Daten, noch auf das Verfassen dieses Artikels. Die aggregierten
und anonymisierten Daten wurden im Rahmen des DFG-geförderten Projekts
Ergebnistransparenz und deren Auswirkung auf die Versorgungsqualität
in Krankenhäusern (Projektnummer 323809466) erhoben bzw. zusammen-
und für das vorliegende Projekt zur Verfügung gestellt.