Schlüsselwörter
Instagram - Schwangerschaftsverhütung - TikTok - YouTube - Zeugungsverhütung
Keywords
Instagram - pregnancy prevention - procreation prevention - TikTok - YouTube
Zur Sexualaufklärung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen gehört die Aufklärung über Methoden der Schwangerschafts- bzw. Zeugungsverhütung als wesentlicher Bestandteil dazu (BZgA und WHO-Regionalbüro für Europa [2011]). Denn man möchte junge Menschen dazu befähigen, über ihre Fruchtbarkeit selbstbestimmt zu entscheiden und ungewollte Schwangerschaften/Zeugungen zu vermeiden. Verhütungsaufklärung erhalten viele Jugendliche im Elternhaus und in der Schule. Zudem wenden sie sich dem Internet und insbesondere den Sozialen Medien zu, wenn sie sexuelle Fragen haben (Scharmanski und Heßling [2021a], [2021b]). Und tatsächlich finden sich auf Sozialen Medien wie YouTube, Instagram und TikTok zahlreiche Foto- und Video-Beiträge, die Verhütungsmethoden behandeln (Döring und Lehmann [2022a], [2022b]).
Ein Beispiel ist das YouTube-Video „Warum ich die Pille nicht mehr nehme“[
1
] von Dagi Bee, einer der erfolgreichsten YouTube-Influencer*innen in Deutschland. Die junge Frau schildert in dem Video, dass sie im Zuge jahrelanger Pilleneinnahme immer mehr Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen erlebte und daher dann zur Spirale wechselte, mit der sie nun sehr zufrieden ist. Das 15-minütige Video aus dem Jahr 2017 wurde bislang 1.5 Millionen Mal angeschaut. Ein anderes Beispiel ist das TikTok-Video der Gynäkologin Dr. Sheila de Liz mit dem Titel „So wird eine Spirale eingesetzt“[
2
]. In dem 22 Sekunden langen Clip aus dem Jahr 2020 demonstriert die Frauenärztin anhand eines Gebärmuttermodells den Vorgang des Einsetzens der Spirale. Das Video wurde bisher 1.3 Millionen Mal angeschaut.
Derartig reichweitenstarke verhütungsbezogene Social-Media-Beiträge werden nicht selten auch umfangreich vom Publikum kommentiert: Zu dem Video der Influencerin Dagi Bee haben mehr als 5 000 Personen einen Kommentar hinterlassen, darunter viele junge Frauen, die eigene negative Erfahrungen mit der Pille teilen. Zum Video der Frauenärztin Dr. Sheila de Liz haben mehr als 2 000 Personen Stellung bezogen, oftmals junge Frauen, die ihre Schmerzen beim Einsetzen der Spirale beschreiben.
Die beiden Beispiele illustrieren, dass auf Sozialen Medien von Laien und Gesundheitsprofis Videos über Verhütung verbreitet werden, die große Reichweiten erzielen und intensiv in den Kommentarspalten diskutiert werden. Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel der vorliegenden qualitativen Interviewstudie zu erkunden, wie Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 17 bis 25 Jahren derartige Verhütungsinformationen in Sozialen Medien nutzen und bewerten.
Der vorliegende Beitrag fasst zunächst den bisherigen Forschungsstand zusammen. Anschließend werden Forschungsfragen und Methoden der aktuellen Studie[
3
] dargestellt. Dann folgt die nach den Forschungsfragen gegliederte Ergebnisdarstellung. Der Beitrag endet mit einer Diskussion der Befunde.
Forschungsstand
Das Thema der Nutzung und Bewertung von Verhütungsinformationen in Sozialen Medien ordnet sich ein in das übergeordnete Feld der digitalen Gesundheitsinformation (engl. electronic/digital health information). Typische Fragestellungen sind hier: Wer bietet Gesundheitsinformationen über digitale Medien an (z. B. Schneider und Holland 2017)? Welche Inhalte und Qualität haben diese Gesundheitsinformationen (z. B. Castaneda et al. [2019]; Hertling et al. [2022]; Salaschek und Bonfadelli [2020]; Stein et al. [2022])? Von wem werden diese Gesundheitsinformationen genutzt (z. B. Cornejo Müller et al. [2020]; Zschorlich et al. [2015])? Wie werden diese Gesundheitsinformationen genutzt? Wie gut sind Nutzende in der Lage, die benötigten Informationen zielgerichtet zu suchen und die Informationsqualität kritisch zu bewerten (z. B. Bittlingmayer et al. [2020]; Neter und Brainin [2012]; Paige et al. [2018]; Rebitschek und Gigerenzer [2020])? Die Fähigkeiten der zielgerichteten Suche und kritischen Bewertung digitaler Gesundheitsinformationen zählen zur gesundheitsbezogenen digitalen Informationskompetenz. Letztlich ist in diesem Forschungs- und Praxisfeld natürlich auch die Frage von Bedeutung, welche Wirkungen die digitalen Gesundheitsinformationen haben, inwiefern sie gesundheitsbezogene Einstellungen und Verhaltensweisen beeinflussen (etwa für oder gegen bestimmte Impfungen oder eben für oder gegen bestimmte Verhütungsmethoden; Zanaboni et al. [2018]).
Im Feld der digitalen Gesundheitsinformationen werden entsprechend der Vielfalt der Fragestellungen ganz unterschiedliche Theorien und Modelle angewendet, etwa das Planned Risk Information-Seeking Model (PRISM) von Kahlor ([2010]), die Theorie des Normalisierungsprozesses nach Murray et al. ([2010]) oder das Lilienmodell der digitalen Gesundheitskompetenz von Norman und Skinner ([2006]). Vielfach wird aber auch fehlende theoretische Fundierung beklagt (z. B. auf dem Gebiet der digitalen Gesundheitskompetenz; Bittlingmayer et al. [2020]).
Die bisherige Forschung speziell zu Verhütungsinformationen in Sozialen Medien befasst sich im Rahmen von Medieninhalts- und Medienqualitätsanalysen mit Anbieter*innen, Inhalten und der Inhaltsqualität der Beiträge sowie über Kommentaranalysen teilweise auch mit den öffentlichen Reaktionen des Publikums. Neben internationalen Beiträgen (z. B. Cleland et al. [2021]; Lang et al. [2022]; Le Guen et al. [2021]; Merz et al. [2021]; Nguyen und Allen [2018]; Paul et al. [2014]) existieren auch erste Befunde zu deutschsprachigen Online-Verhütungsinformationen (Döring [2021]; Döring et al. [2022]; Döring und Lehmann [2022a], [2022b]).
Weitaus weniger Forschung als zu den verhütungsbezogenen Social-Media-Inhalten wurde hingegen zu deren Nutzer*innen durchgeführt. Diese wenigen Arbeiten beziehen sich hauptsächlich auf die Rolle, die das Internet – und im Speziellen die Sozialen Medien – als Informationsquellen und bei der Entscheidungsfindung hinsichtlich Verhütungsmethoden spielen. Sie gliedern sich in quantitative und qualitative Studien. In den sechs identifizierten quantitativen Studien mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurde für unterschiedliche Länder wie Großbritannien (Whitfield et al. [2013]), die USA (Kofinas et al. [2014]; Sutton und Walsh-Buhi [2017]; Stevens et al. [2017]), Nigeria (Bankole und Onasote [2017]) und die Türkei (Kahramanoglu et al. [2017]) gezeigt, dass das Internet eine wichtige Quelle für Verhütungsinformationen ist. Die drei aufgefundenen qualitativen Studien gehen ergänzend genauer auf die Umstände der Nutzung ein. So berichteten junge drogenabhängige und von chronischen Erkrankungen betroffene Frauen in den USA, dass sie u. a. Internet- und Social-Media-Quellen nutzen, um Verhütungsinformationen für ihre ganz spezielle Gesundheitssituation zu bekommen (Sobel et al. [2022]). Bei kulturell und sprachlich diversen Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Australien war die Präferenz für Online-Verhütungsinformationen mit Angst vor Stigmatisierung im Falle einer Offline-Informationssuche verbunden (Mpofu et al. [2021]). In einer qualitativen Interviewstudie mit N = 58 Schüler*innen aus den USA gaben diese an, sich im Internet über Verhütungsmittel zu informieren, aber auch andere Informationsquellen (Schule, Eltern, Peers) hinzuzuziehen. Viele äußerten sich kritisch, was die Informationsqualität im Internet betrifft. Dabei differenzierten sie deutlich zwischen unterschiedlichen Arten von Online-Informationen: Websites von Gesundheitsprofis wie Ärzt*innen vertrauten sie deutlich stärker als Einträgen in der Wikipedia oder Beiträgen von Gesundheitslaien (Jones und Biddlecom [2011]). Interviewstudien aus Deutschland, welche der wachsenden Bedeutung von YouTube, Instagram und TikTok im Rahmen der Sexual- und Verhütungsaufklärung (Döring [2017a], [2017b]; Döring [2022]; Döring und Lehmann [2022a], [2022b]) Rechnung tragen, waren nicht zu finden.
Forschungsfragen
Vor diesem Hintergrund ist es Ziel der vorliegenden qualitativen Interviewstudie aus Deutschland, die Wahrnehmung und Bewertung von Verhütungsinformationen auf den führenden Social-Media-Plattformen YouTube, TikTok und Instagram zu erkunden und folgende Forschungsfragen zu beantworten:
F1: Wie nutzen Jugendliche und junge Erwachsene verhütungsbezogene Informationen in Sozialen Medien?
F2: Wie bewerten Jugendliche und junge Erwachsene verhütungsbezogene Social-Media-Beiträge?
F3: Wie bewerten Jugendliche und junge Erwachsene öffentliche Publikumskommentare zu verhütungsbezogenen Social-Media-Beiträgen?
F4: Welche Anforderungen stellen Jugendliche und junge Erwachsene an verhütungsbezogene Informationen in Sozialen Medien?
Methoden
Zur Beantwortung der vier Forschungsfragen wurde im Sommer 2022 eine präregistrierte qualitative Interviewstudie durchgeführt (für die Präregistrierung und ergänzende Materialien siehe das entsprechende Projekt auf dem Server der Open Science Foundation: https://osf.io/yn5gm/). Zur Studie liegt ein positives Votum der Ethikkommission der Technischen Universität Ilmenau vor (16.05.2022). Stichprobe, Datenerhebung und Datenanalyse werden im Folgenden erläutert.
Stichprobe
Über private Netzwerke und Jugendeinrichtungen in Deutschland wurde eine Stichprobe von N = 12 Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 17 bis 25 Jahren mit unterschiedlichem Bildungshintergrund (z. B. Schüler*innen, Auszubildende, Studierende) aus verschiedenen Bundesländern rekrutiert, die ihre informierte Einwilligung zur Befragung erteilten. Eingeschlossen wurden cisgeschlechtliche junge Menschen mit guten Deutschkenntnissen, heterosexueller Orientierung und Erfahrungen in der Social-Media-Nutzung. Alle Interviews wurden strikt anonymisiert und den Teilnehmenden wurde jeweils ein Pseudonym zugeordnet. Die Stichprobenzusammensetzung ist [
Tab. 1
] zu entnehmen.
Tab. 1 Zusammensetzung der Stichprobe der Interviewstudie in aufsteigender Reihenfolge nach Alter (alle Namen sind Pseudonyme).
Nr.
|
Alter in Jahren
|
Pseudonym
|
Geschlecht weibl./männl.
|
Tätigkeit
|
Stadtgröße
|
Verhütungserfahrung
|
Interviewmodus
|
Interviewdauer in Minuten
|
Anm.: Stadtgröße: unter 20 000 Einwohner*innen = Kleinstadt; 20 000 – 100 000 Einwohner*innen = Mittelstadt; über 100 000 Einwohner*innen = Großstadt; über 1 000 000 Einwohner*innen = Millionenstadt. NFP = Natürliche Familienplanung.
|
1
|
17
|
Valeria
|
w
|
Schülerin
|
Mittelstadt
|
Keine
|
Webex
|
38
|
2
|
17
|
Marie
|
w
|
Berufsschülerin
|
Großstadt
|
Kondom
|
Skype
|
41
|
3
|
18
|
Paul
|
m
|
Berufsschüler
|
Mittelstadt
|
Kondom
|
Skype
|
30
|
4
|
20
|
Laura
|
w
|
Studentin
|
Großstadt
|
Kondom, Pille
|
Skype
|
32
|
5
|
20
|
Karl
|
m
|
Student
|
Mittelstadt
|
Kondom, Pille
|
Webex
|
38
|
6
|
21
|
Ole
|
m
|
Student
|
Mittelstadt
|
Kondom
|
Webex
|
43
|
7
|
22
|
Emma
|
w
|
Angestellte
|
Mittelstadt
|
Kondom
|
Webex
|
53
|
8
|
22
|
Ben
|
m
|
Student
|
Mittelstadt
|
keine
|
Webex
|
30
|
9
|
23
|
Anna
|
w
|
Angestellte
|
Millionenstadt
|
Kondom, NFP, Pille
|
Persönlich
|
38
|
10
|
23
|
Franziska
|
w
|
Studentin
|
Millionenstadt
|
Kondom, Pille
|
Skype
|
45
|
11
|
25
|
Jan
|
m
|
Student
|
Mittelstadt
|
Kondom
|
Webex
|
38
|
12
|
25
|
Max
|
m
|
Student
|
Mittelstadt
|
Kondom, Kupferspirale, Pille
|
Webex
|
48
|
Datenerhebung
Die qualitativen Interviews wurden mithilfe eines durch Vorstudien erprobten Leitfadens durchgeführt. Dieser Interview-Leitfaden ist einsehbar im o. g. OSF-Projekt.
Nach Begrüßung, informierter Einwilligung und der Erfassung einiger allgemeiner Angaben zur Person sowie zur Nutzung von Sozialen Medien und Verhütungsmethoden, die in die Stichprobenbeschreibung eingingen (siehe [
Tab. 1
]), entwickelte sich das Forschungsinterview entlang der folgenden vier Fragenblöcke, die den vier Forschungsfragen zugeordnet sind.
Block 1: Fragen bezüglich der bisherigen Nutzung verhütungsbezogener Social-Media-Beiträge zur Beantwortung von Forschungsfrage 1 (z. B.: „Wie oft hast du bereits Posts oder Videos rund um das Thema Verhütung auf TikTok/YouTube/Instagram gesehen und worum ging es dabei?“).
Block 2: Bewertung ausgewählter verhütungsbezogener Social-Media-Beiträge, die vorgelegt wurden zur Beantwortung von Forschungsfrage 2. Um die Befragungsdauer zu begrenzen und dennoch Reaktionen auf unterschiedliche verhütungsbezogene Social-Media-Inhalte zu erhalten, wurden TikTok-Videos (typische Länge: 30 bis 60 Sekunden) zu verschiedenen Verhütungsmethoden (Kondom, Pille, Spirale usw.) verwendet. Jede interviewte Person bekam sieben TikTok-Videos präsentiert, die a) von Laien oder Gesundheitsprofis stammten, b) einen geringen oder hohen Informationswert hatten und c) die jeweiligen Verhütungsmethoden eher neutral oder wertend (positiv oder negativ) darstellten (für eine Liste der präsentierten TikTok-Videos siehe OSF-Projekt). Die Interviewpersonen wurden jeweils ganz offen nach ihrer Einschätzung der jeweiligen verhütungsbezogenen TikTok-Videos gefragt (z. B.: „Wie findest du dieses Video?“).
Block 3: Bewertung ausgewählter öffentlicher Publikumskommentare zu verhütungsbezogenen Beiträgen, die vorgelegt wurden zur Beantwortung von Forschungsfrage 3. Dabei wurden jeweils Kommentare ausgewählt, die neutral oder wertend (positiv oder negativ) auf die meistgenutzten Verhütungsmethoden Kondom und Pille eingingen (für eine Liste der präsentierten Kommentare siehe OSF-Projekt). Die Interviewpersonen wurden jeweils nach ihrer Einschätzung gefragt (z. B.: „Was sagst du zu den Kommentaren?“).
Block 4: Fragen bezüglich der Anforderungen an gute Verhütungsaufklärung in Sozialen Medien zur Beantwortung von Forschungsfrage 4 (z. B.: „Wie würde für dich die perfekte Information über Verhütungsmethoden auf YouTube, TikTok, Instagram und Co. aussehen?“).
Aus pragmatischen Gründen (die Interviewpersonen stammten aus unterschiedlichen Orten in Deutschland; siehe [
Tab. 1
]) sowie mit Rücksicht auf die im Sommer 2022 noch andauernde COVID-19-Pandemielage wurde es den Interviewpersonen überlassen, den Interview-Modus zu wählen. Die meisten Befragten entschieden sich für den Online-Modus per Skype oder Webex, es fand aber auch ein Interview in Präsenz statt (siehe [
Tab. 1
]). Sowohl der Interviewer (Zweitautor) als auch die Befragungspersonen konnten problemlos per Video-Call eine entspannte Gesprächsatmosphäre aufbauen. Es wurde auf eine Interviewerin verzichtet, da der Zweitautor durch seine vertieften Kenntnisse des Verhütungsthemas und sein souveränes, kommunikatives Auftreten zu männlichen wie weiblichen Interviewpersonen gleichermaßen ein gutes Gesprächsverhältnis aufbauen konnte. Es kam zu keinerlei unangenehmen Situationen oder technischen Pannen. Der Interviewverlauf wurde im Nachgang durchweg positiv von den Befragten bewertet.
Die Interviews dauerten durchschnittlich 39 Minuten (Range: 30 bis 53 Minuten; siehe [
Tab. 1
]). Die Interviewten zeigten sich auskunftsfreudig, wobei deutlich wurde, dass diejenigen mit mehr eigener Verhütungserfahrung größtenteils etwas mehr zum Thema zu sagen hatten.
Datenanalyse
Alle Interviews wurden mit Wissen und Einverständnis der Befragten aufgezeichnet. Anhand der Audioaufzeichnungen wurden die Interviews dann vollständig verschriftlicht und anonymisiert gemäß den Transkriptionsregeln von Kuckartz und Rädiker ([2021]).
Die qualitative Inhaltsanalyse der Interview-Transkripte erfolgte mit der Software MAXQDA. Dazu wurde entsprechend dem Analyseansatz von Kuckartz und Rädiker ([2021]) zunächst eine sogenannte Basiscodierung durchgeführt. Dabei wurden Textabschnitte, die relevant für die Forschungsfragen sind, markiert und jeweils der passenden Forschungsfrage zugeordnet. Durch diese Basiscodierung entstanden deduktiv vier Hauptkategorien bzw. -codes, die sich an den Forschungsfragen orientieren, und eine Hauptkategorie, die sich auf die allgemeine (d. h. nicht verhütungsbezogene) Nutzung von Social-Media-Plattformen bezieht.
Anschließend wurde das Kategoriensystem durch vertiefende Analyse der Transkripte weiterentwickelt. Bei dieser Feincodierung wurden insgesamt 34 Subkategorien teils deduktiv anhand von Vorannahmen, teils induktiv anhand des Materials definiert und codiert. Die Anzahl der Subkategorien variierte entsprechend der Komplexität der Hauptkategorie. So hat die Hauptkategorie „Videobewertung“ 13 Subkategorien, wogegen die Hauptkategorie „Kommentarbewertung“ lediglich drei Subkategorien aufweist. Eine tabellarische Übersicht der Haupt- und Unterkategorien ist im o. g. OSF-Projekt zu finden.
Ergebnisse
Die Ergebnisdarstellung erfolgt gegliedert nach den vier Forschungsfragen.
Nutzung von Verhütungsinformationen in Sozialen Medien
Nahezu alle Befragten waren schon in der einen oder anderen Form mit Verhütungsinformationen in Sozialen Medien in Kontakt gekommen. Sie berichteten vor allem von Beiträgen über Kondom, Pille, Spirale und natürliche Familienplanung (NFP) sowie von Überblicksdarstellungen, die (z. B. in einem längeren YouTube-Video) mehrere Verhütungsmethoden vergleichen. Typisch war dabei aber nicht die gezielte Suche nach Verhütungsthemen, die auch als Pull-Modus des Informationszugangs bezeichnet wird. Stattdessen berichteten die Befragten überwiegend eine Konfrontation mit Verhütungsbeiträgen im sogenannten Push-Modus: Sie erinnerten sich beispielsweise daran, dass ihnen auf YouTube Kondom-Werbung eingeblendet worden war oder dass ein von ihnen verfolgter YouTube-Jugendkanal des funk-Netzwerks (ARD/ZDF) Verhütung thematisiert hatte, dass Freund*innen oder Influencer*innen auf Instagram Pillen-Informationen geteilt hatten oder dass der TikTok-Algorithmus ihnen ein Spiralen-Video auf ihre ForYou-Page gespielt hatte.
In der Häufigkeit des Kontakts mit Verhütungsbeiträgen auf Sozialen Medien waren große Differenzen beobachtbar, vor allem in Abhängigkeit von der generellen Social-Media-Nutzung, dem Geschlecht und der Lebensphase bzw. dem aktuellen Aufklärungsbedarf. So berichtete Franziska (23), die den Sozialen Medien eher kritisch gegenüberstand und sie auch nur sehr selektiv nutzte, bisher „null Mal“ mit dem Thema Verhütung auf YouTube, TikTok oder Instagram in Kontakt gekommen zu sein. Die angehende Lehrerin Laura (20) und die Angestellte Emma (22), die täglich ausgiebig auf YouTube, Instagram und TikTok unterwegs waren, hatten hingegen schon „ziemlich oft“ Verhütungsbeiträge zu sehen bekommen und diese auch des Öfteren im Freundeskreis geteilt.
Es zeigte sich ein Geschlechtsunterschied in der Richtung, dass die befragten jungen Frauen häufigere Kontakte mit Verhütungsinformationen auf Sozialen Medien berichteten, da sie diese über Freundinnen und Influencerinnen erhielten. Unter männlichen Freunden und durch männliche Influencer, denen die befragten jungen Männer auf Sozialen Medien eher folgten, wurden seltener Verhütungsinformationen verbreitet. Allerdings gab es auch eine Ausnahme. Der Student Jan (25), der in Sachen Verhütung über recht umfassende Kenntnisse verfügte, erzählte von einer Phase der intensiveren Nutzung und aktiven Zuwendung zu Social-Media-Aufklärungskanälen im Sinne des Pull-Modus:
-
„Als ich so achtzehn, neunzehn war, da hatte ich schon ein paar [YouTube-]Kanäle, denen ich auch gefolgt bin, einfach so Aufklärungskanäle, wo ich mich auch dafür interessiert habe, was es so für Verhütungsmethoden gibt und wie man sie benutzt. […] Ja, aber das ist schon ein bisschen her, also jetzt in letzter Zeit für meinen eigenen Bedarf in den letzten Jahren nicht mehr so viel.“
Die Befragten waren sich darüber bewusst, dass die Verhütungsinformationen, mit denen sie in Sozialen Medien in Kontakt kamen, aus ganz unterschiedlichen Quellen stammten, etwa von Gesundheitsprofis wie Ärzt*innen, von Medienprofis wie Journalist*innen oder auch von Gesundheitslaien wie Influencer*innen und User*innen wie sie selbst. Prinzipiell bewerteten sie sowohl Verhütungsinformationen von Profis als auch von Laien als wichtig: Den Profis vertrauten sie stärker in Sachen medizinischer Informationsqualität, von den Laien wollten sie Details der konkreten Anwendung und der erlebten Vor- und Nachteile einer Verhütungsmethode wissen. Die Publikumskommentare zu Verhütungsbeiträgen lasen sich vor allem die befragten jungen Frauen zuweilen durch, um weitere Erfahrungsberichte von Peers zu finden.
Tendenziell hatten die Befragten eine positive Haltung zu Verhütungsinformationen in Sozialen Medien. So bemerkte die 17-jährige Marie, dass Verhütungsinformationen auf Sozialen Medien
-
„[…] ziemlich wichtig sind, weil eigentlich jeder heutzutage – mit ein paar ganz wenigen Ausnahmen – in Social Media ist und das auch recht stark. Und deswegen erreicht es halt wirklich sehr sehr viel schneller Leute. In TikTok kann man ein Video machen, das innerhalb von einem Tag eine Million Aufrufe hat.“
Der 21-jährige Student Ole sah dies ähnlich und sagte dazu:
-
„[…] heutzutage wird ja eigentlich alles aus Social Media bezogen und die ganzen Informationen auch und deswegen finde ich es sehr wichtig, dass es gemacht wird und auch in der Art und Weise, dass es locker gemacht wird und so cool und dass es kein Tabuthema mehr ist.“
Er persönlich hatte seine Informationen über Verhütungsmethoden allerdings „eigentlich gar nicht über die Sozialen Medien bezogen […] [,]eher so in Gesprächen mit Freunden oder anderen Leuten“. Diese Differenzierung zeigte sich in vielen Interviews: Die Befragten begrüßten grundsätzlich die Präsenz und Enttabuisierung des Verhütungsthemas auf Sozialen Medien, stuften die Bedeutung dieser Beiträge für den persönlichen Informationsgewinn aber moderat ein, da sie eben oft auch noch andere Informationsquellen für Verhütungsmethoden hatten (z. B. Freund*innen, Schule, Wikipedia).
Die Befragten präsentierten sich überwiegend als kritische und reflektierte Social-Media-User*innen. Sie betonten wiederholt, dass man Informationen auf Sozialen Medien nicht immer trauen könne. Viele berichteten ganz konkret, dass sie die Informationen, von denen sie auf Sozialen Medien erführen, auch nochmal digital „nachrecherchieren“ oder „googeln“ und verschiedene Quellen vergleichen würden. Die 17-jährige verhütungsunerfahrene Schülerin Valeria hatte schon viele für sie sehr „informative“ Online-Verhütungsinformationen gefunden und schätzte es vor allem, wenn die Beiträge „noch Quellen dazu geben [….] und Links zu anderen Seiten, wo man weiterlesen kann“. Dennoch würde sie im Zweifelsfall auch lieber „den Arzt fragen“. Der ebenfalls verhütungsunerfahrene 22-jährige Student Ben würde „noch mal mit Freunden und Familie darüber [sprechen]“, bevor er sich in Sachen Verhütung allein auf Social-Media-Beiträge verlassen würde.
Auch wenn Soziale Medien definitionsgemäß viele aktive Mitmach-Möglichkeiten bieten, waren die Befragten hier durchgängig sehr zurückhaltend: Niemand von ihnen hatte jemals einen eigenen Verhütungsbeitrag erstellt oder auch nur zu einem zugespielten Verhütungsbeitrag einen öffentlichen Kommentar verfasst. Vor allem die jungen Frauen berichteten jedoch, gelegentlich einen Verhütungsbeitrag gelikt oder mit Freundinnen geteilt zu haben.
Bewertung verhütungsbezogener Beiträge in Sozialen Medien
Um die Bewertung von Social-Media-Beiträgen zum Thema Verhütung durch junge Menschen zu konkretisieren, wurden die Befragten im Rahmen der Interviews mit typischen Beispielen konfrontiert, die sie frei kommentieren konnten. Aufgrund ihrer hohen Reichweite sowie ihrer Kürze wurden dafür als zeitgemäße Social-Media-Inhalte verschiedene TikTok-Videos genutzt.
Dazu gehörten TikTok-Videos von Gesundheitsprofis (z. B. Ärzt*innen) und von Gesundheitslaien (z. B. Lifestyle-Influencer*innen). Recht übereinstimmend bewerteten die Befragten die Videoclips von Gesundheitsprofis als vertrauenswürdiger. Die 22-jährige kondomerfahrene Emma erklärte ihre Bewertung folgendermaßen:
-
„Ich weiß nicht, ob das einfach so an der Gesellschaft liegt, wenn man halt so ein Aufklärungsvideo hört und dass diese Person sagt, sie ist Frauenärztin und erklärt das auch alles gut, dann kommt das für mich sicherer rüber, als wenn ich jetzt hier die persönliche Meinung von einer lieben netten Frau höre. Weil sie einfach nur von ihrer eigenen Erfahrung spricht, wo ich aber wiederum sagen muss, finde ich halt schwierig. Ich weiß nicht. Ich finde es halt besser von der Ärztin, weil es wahrscheinlich einfach so von meiner Seite her noch mehr Vertrauen dazu gibt.“
Auch wenn die jungen Erwachsenen Verhütungsbeiträge von Gesundheitsprofis mehrheitlich als vertrauenswürdiger einordneten, sahen sie durchaus auch einen Wert in den Laien-Beiträgen. Die 23-jährige Anna, die bereits selbst mit Kondom, natürlicher Familienplanung (NFP) und Pille verhütet hatte, wägte folgendermaßen zwischen Verhütungsbeiträgen von Profis wie Frauenärzt*innen und verhütungserfahrenen Gesundheitslaien ab:
-
„[Eine Gynäkologin] kann die professionellen Sachen besser erklären. Und so eine Privatperson oder ein Influencer kann besser die persönliche Erfahrung erzählen. Weil die Frauenärztin kann sein, dass die das persönlich nicht benutzt, die macht das einfach. Also, ich denke, die [verhütungserfahrenen Laien] können andere Fragen beantworten. Aber es würde mir helfen. Beide.“
Im Verlauf der Interviews wurde sehr deutlich, dass die jungen Social-Media-Nutzer*innen auf die Quellen von Verhütungsinformationen achteten. Dabei verließen sie sich allerdings nicht blindlings auf den Status der Informationsanbietenden, sondern beurteilten und hinterfragten auch direkt die Qualität der präsentierten Informationen. Der 21-jährige kondomerfahrene Student Ole erläuterte:
-
„Das ist natürlich auch wichtig, von wem man die Informationen bezieht. Also, ich persönlich würde beiden [Profis und Laien], glaub ich, nicht blind vertrauen. Wenn mich das dann wirklich interessieren würde, würde ich danach nochmal recherchieren.“
TikTok ist eine Kurzvideo-Plattform, die sich aus der Musik-App Musically entwickelt hat (Döring [2022]). Dementsprechend spielen auf TikTok bis heute Musik-, Tanz-, und Lippensynchron-Videos eine große Rolle. Gleichzeitig wächst der informative Content. Im Bereich der Verhütungsvideos gibt es solche, die mit Musikuntermalung arbeiten. Sie haben teilweise eine eher geringe Informationsqualität, so etwa das TikTok-Video von marieer (2021; über 80 000 Views[
4
]), das Verhütungsmethoden mit Fahrscheinen vergleicht, wobei das Kondom als „Einzelticket“ und die Pille als „Monatskarte“ firmiert. Andererseits gibt es auch TikTok-Videos mit Musikuntermalung, die eine hohe Informationsqualität aufweisen, so etwa der Clip von naomi.louisa (2020; über 700 000 Views[
5
]), der die Hormonspirale thematisiert und dabei drei Eigenschaften dieser Verhütungsmethode vorstellt einschließlich der Sicherheit. Die Befragten differenzierten klar den unterschiedlichen Informationsgehalt der Videos und beurteilten das informativere Video in der Regel besser. So meinte der 18-jährige kondomerfahrene Berufsschüler Paul zum Hormonspiralen-Video im Vergleich zum Fahrschein-Video:
-
„Das war von der Informationsübermittlung, fand ich, schöner. Es wurden auf jeden Fall mehr sinnvolle Informationen rübergebracht als bei dem anderen. Also, ich fand es besser als das erste auf jeden Fall. […] Bei dem anderen war es halt nur so stumpf und wie gesagt sehr oberflächlich.“
Obwohl das Fahrschein-Video nur begrenzte Informationsqualität hat und daher oft als „oberflächlich“ eingestuft wurde, benannten die Befragten auch seine Vorteile: Der Fahrschein-Clip wurde als „humorvoll“, „unterhaltsam“ und „amüsant“ beurteilt, damit als ansprechend vor allem für Jüngere und gut geeignet zum Teilen im Freundeskreis und als Impuls für weitere Gespräche.
Nicht zuletzt unterscheiden sich verhütungsbezogene Social-Media-Beiträge auch dahingehend, ob sie die verschiedenen Verhütungsmethoden neutral darstellen, also ihre jeweiligen Vor- und Nachteile sachlich benennen, oder ob sie eine starke Wertung für oder gegen bestimmte Methoden enthalten. Die Befragten fanden tendenziell die neutralen Videos besser. Allerdings beurteilten sie zuweilen auch stark wertende Clips positiv, wenn die im jeweiligen Beitrag präsentierte Wertung ihrer eigenen Meinung entsprach. So sagte der 20-jährige kondomerfahrene Karl:
Dementsprechend goutierte er das Aufklärungsvideo einer Ärztin[
6
], die das Kondom als die beste aller Verhütungsmethoden präsentiert. Die 23-jährige Anna hatte negative Erfahrungen mit der Pille gemacht und diese wegen der Nebenwirkungen abgesetzt. Sie präferierte ein Erfahrungsvideo[
7
], das die Pille als hochgradig gesundheitsgefährdend für „alle jungen Frauen auf der Welt“ darstellt und von starker Gewichtszunahme, Stimmungsschwankungen, Depressionen und Suizidalität berichtet. Ihre Zustimmung zu dem stark wertenden Video erklärte sie so: „weil ich auch genau dieser Meinung bin und es bestätigen kann“.
So sehr sich Jugendliche und junge Erwachsene freuen, ihre eigenen Erfahrungen und Meinungen in wertenden Verhütungsbeiträgen zurückgespielt zu bekommen, so stark können sie sich bei konträren Wertungen aber auch abgrenzen. So hatte die 23-jährige Studentin Franziska nach Verhütung mit dem Kondom inzwischen auch sehr positive Erfahrungen mit der Pille gesammelt. Dementsprechend grenzte sie sich vom letztgenannten negativen Pillen-Video ab:
-
„Beim letzten Video fand ich es halt irgendwie extrem krass, wie stark sie ihre Meinung mir, sozusagen, aufgedrückt hat. Ich hab mich komplett unwohl gefühlt, mir das anzuschauen. Und auch, dass sie teilweise gesagt hat, dass sie eigentlich gar nicht mehr leben wollte wegen der Pille, ist vielleicht auch ein bisschen stark übertrieben. […] Also, alle meine besten Freundinnen haben ihre Pille abgesetzt, weil sie solche Sachen, ja, irgendwo im Internet gesehen haben und nee. Nee, das fand ich ein bisschen zu viel…“
Bewertung verhütungsbezogener Kommentare in Sozialen Medien
Zur Nutzung von Social-Media-Beiträgen wie Instagram-Posts, YouTube-Videos oder TikTok-Clips gehört bei vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen auch ein Blick in die jeweiligen Kommentarspalten dazu. Die öffentlichen Publikumskommentare enthalten oft Erfahrungen und Wertungen der Zuschauenden. Beschreibt etwa ein Video die Pille als negativ wegen diverser gravierender Nebenwirkungen, so äußern sich in den Kommentarspalten verstärkt Anwenderinnen der Pille, die ebenfalls negative Erfahrungen gemacht haben. Gleichzeitig (aber meist in einem geringeren Umfang) gibt es öffentliche Kommentare, die der Videobotschaft widersprechen und eigene positive Pillen-Erfahrungen berichten, sowie Kommentare, die Sachinformationen teilen oder Fragen stellen.
Der 18-jährige kondomerfahrene Paul beurteilte die Kommentarspalten zu Verhütungsbeiträgen auf Sozialen Medien folgendermaßen:
In ähnlichem Tenor äußerten sich die meisten Befragten: Sie freuten sich über Kommentare, die ihren eigenen Standpunkt wiedergaben und die sie „unterschreiben würden“, ließen sich aber von konträren Meinungskommentaren nicht aus dem Konzept bringen, weil sie schon eine gefestigte Meinung hatten und/oder weil sie sich im Zweifelsfall sowieso nicht primär an Online-Kommentaren orientieren, sondern auch Rat bei Frauenärzt*innen oder im nahen sozialen Umfeld einholen würden.
Zwei der zwölf Befragten deuteten aber auch an, dass und wie wertende Beiträge und Kommentare zu einzelnen Verhütungsmethoden sie vielleicht doch beeinflussen. Die 17-jährige kondomerfahrene Marie gab an, dass sie auf Sozialen Medien schon so viele negative Beiträge und Kommentare über die Pille gesehen habe, dass sie inzwischen Angst davor habe, dass es „schiefgeht“, falls sie selbst eines Tages die Pille nehmen würde. Der 25-jährige Student Max hatte in seinen Partnerschaften schon mit Pille, Spirale und Kondom verhütet, wobei das Kondom für ihn eigentlich nicht die Methode der Wahl sei. Er finde das Kondom eigentlich zu „unsicher“ und er empfinde mit Kondom den Geschlechtsverkehr „weniger intensiv“. Die vielen positiven Beiträge und Kommentare zum Kondom, auf die er in Sozialen Medien gestoßen war, hatten ihm aber zu denken gegeben und dazu geführt, dass er nach eigenen Angaben das Kondom inzwischen positiver einschätzte.
Anforderungen an Verhütungsaufklärung in Sozialen Medien
Wie sieht für die befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen die perfekte Online-Verhütungsaufklärung aus? Ganz klar war für die Befragten, dass sie sich Erklärvideos wünschen würden. Eine Darstellung im Text- oder Fotoformat wurde nicht angefragt. Die Verhütungsvideos sollten möglichst gut strukturiert sein und geprüfte Sachinformationen vermitteln, vorzugsweise aus dem Mund von Fachleuten (v. a. Gynäkolog*innen, Urolog*innen), aber „auf Augenhöhe“. Vorgeschlagen wurde entweder eine Serie von zwei- bis dreiminütigen Kurzvideos pro Methode oder ein längeres (ca. 15-minütiges) Video, das mehrere Verhütungsmethoden vergleicht. Die Aufbereitung sollte sachlich-neutral sein und Vor- und Nachteile umfassen. Ergänzend zur Präsentation der Sachinformationen durch Fachleute wurden auch Erfahrungsberichte von jungen Anwender*innen gefordert, die ehrlich über die erlebten Vor- und Nachteile der Methoden sprechen. Als Ausspielplattform für solche etwas längeren Videos wurde YouTube als geeignet angesehen.
Gleichzeitig wiesen die Befragten darauf hin, dass die Plattformen Instagram und TikTok aber nicht zu ignorieren seien. Sie wollten das Thema Verhütung auch hier repräsentiert sehen, wenn auch kürzer und unterhaltsamer, aber dennoch mit enttabuisierender und sensibilisierender Wirkung. Optimale Verhütungsaufklärung auf Instagram und TikTok solle vor allem die Aufgabe übernehmen, „Updates“ und Neuerungen auf dem Verhütungsmarkt zu verbreiten, und damit einen Anstoß geben, sich in weiteren Quellen genauer zu informieren. Die 22-jährige kondomerfahrene Emma brachte die Eignung der verschiedenen Plattformen so auf den Punkt:
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„Wenn ich jetzt sage, ich will mich persönlich über Verhütungsmittel informieren, dann ist YouTube halt schon gut geeignet, logischerweise. Wenn ich jetzt aber sage, ich will mich erst mal nur oberflächlich ohne krass ins Detail zu gehen informieren, oder auch nur Updates haben, dann finde ich TikTok und Instagram da schon die bessere Wahl.“
Die Idee, über Plattformen wie Instagram und TikTok Kurzvideos mit Verhütungsneuigkeiten auszuspielen, wurde von einigen Befragten auch mit Blick auf die Plattformen-Algorithmen weitergedacht. Dementsprechend sollten sich Aufklärungsanbieter*innen überlegen, mit welchen Trends, Challenges oder Hashtags sie sich verbinden könnten, um ihre Verhütungsinfos vom Plattform-Algorithmus breit streuen zu lassen.
Diskussion
Abschließend werden die Befunde in den bisherigen Forschungsstand eingeordnet, Limitationen der vorliegenden Studie offengelegt und zukünftige Forschungsperspektiven aufgezeigt.
Interpretation
Die Befunde der vorliegenden Studie bestätigen insofern den bisherigen Forschungsstand, als die befragten jungen Menschen sich als kompetente und kritische Nutzer*innen von Verhütungsinhalten in Sozialen Medien präsentierten, die z. B. die Quellen der Informationen und deren Vertrauenswürdigkeit kritisch reflektierten (vgl. Jones und Biddlecom [2011]).
Gleichzeitig gibt es Hinweise auf bekannte Verzerrungen in der subjektiven Wahrnehmung von Medieneffekten wie den Confirmation Bias (verhütungsbezogene Beiträge und Kommentare, die den eigenen Meinungen entsprechen, wurden von den Befragten stärker befürwortet) und den Third Person Effect (Befragte gingen davon aus, selbst wenig von Verhütungsinhalten in Sozialen Medien beeinflusst zu werden, während sie stärkere Einflüsse auf andere Menschen – vornehmlich Jüngere – annahmen).
Insgesamt wünschten sich die Befragten mehr und bessere Verhütungsaufklärung in Sozialen Medien und unterbreiteten dazu auch konkrete Vorschläge. Besonders interessant ist hierbei, dass die Befragten typische Dichotomisierungen aus der Fachliteratur eher auflösten als bestätigten: Sie wünschten sich solide Sachinformationen, würdigten aber auch den Wert unterhaltsamer und oberflächlicher Beiträge. Sie präferierten Aufklärung durch ausgebildete Fachkräfte, schätzten aber gleichzeitig auch die authentischen Erfahrungsberichte von Anwender*innen.
Limitationen
Die vorliegende qualitative Interview-Studie ist explorativ angelegt. Ihre Ergebnisse können aufgrund der kleinen Stichprobe nicht verallgemeinert werden und beziehen sich vor allem auf den Mainstream cisgeschlechtlicher, heterosexueller junger Menschen mit guten Deutschkenntnissen und formalen Bildungsabschlüssen. Sozial benachteiligte und marginalisierte Jugendliche und junge Erwachsene sind im Sample unterrepräsentiert. Dementsprechend wurden folgende Themen von den Befragten nicht angesprochen: Mangel an Online-Verhütungsaufklärung in einfacher Sprache, Mangel an Online-Verhütungsinformationen in anderen Sprachen als Deutsch, Mangel an Verhütungsinformationen speziell für queere und nicht-cisgeschlechtliche junge Menschen, Mangel an Verhütungsinformationen für Menschen mit besonderer gesundheitlicher Situation (z. B. chronische Erkrankungen, Suchterkrankungen; vgl. Mpofu et al. [2021]; Sobel et al. [2022]).
Im Rahmen der qualitativen Interviews wurden die Befragten mit ausgewählten Medienbeispielen konfrontiert, um ihre Bewertungen zu erfassen. Aus forschungsökonomischen Gründen konnten dabei nur TikTok-Videos und diesbezügliche Kommentare einbezogen werden. Möglicherweise hätte die detaillierte Betrachtung von Instagram-Posts und YouTube-Videos noch andere Bewertungen und Reaktionen hervorgebracht. Weiterhin ist zu beachten, dass jede Interviewperson sieben TikTok-Videos im Rahmen des Interviews anschaute und beurteilte. Eine größere oder andere Auswahl von Stimulus-TikTok-Videos hätte weitere oder andere Erkenntnisse bringen können. Nicht zuletzt ist zu beachten, dass bei den präsentierten TikTok-Videos immer verschiedene Eigenschaften (z. B. Status der Anbietenden, Informationsgehalt, wertende Inhalte) vermischt sind. Ein Herausarbeiten des kausalen Einflusses einzelner Eigenschaften auf die Bewertung wäre nur im Rahmen einer quantitativen Experimentalstudie möglich.
Ausblick
Die Teilnehmenden der vorliegenden qualitativen Interview-Studie haben eine recht klare Vision der aus ihrer Sicht perfekten Verhütungsaufklärung in Sozialen Medien geäußert. Daher wäre es empfehlenswert, die von ihnen angemahnten Videos zu Verhütungsmethoden zu entwerfen, zu produzieren und zu evaluieren. Angesprochen sind hier v. a. die Sexualpädagogik (z. B. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), pro familia) sowie die Sexualmedizin (z. B. Gynäkologie, Urologie). Insbesondere der Ansatz, die Informationspräsentation durch Fachleute mit authentischen Erfahrungsberichten von jungen Anwender*innen im selben Aufklärungsvideo zu kombinieren, ist bislang noch nicht umgesetzt worden und scheint vielversprechend. Weiterhin besteht vor dem Hintergrund der aufgeführten Limitationen Forschungsbedarf im Hinblick auf besondere Zielgruppen und ihre Anforderungen an zeitgemäße Online-Verhütungsaufklärung. Nicht zuletzt gilt es, aus dem Themenfeld der reproduktiven Gesundheit weitere Inhalte neben den Verhütungsmethoden einer genaueren Analyse zu unterziehen (z. B. Menstruation, erstes Mal Geschlechtsverkehr, Schwangerschaftsabbruch).