Liebe Kolleginnen und Kollegen, Liebe Leserinnen und Leser,
nach gut einem Jahr können wir nun das zweite AGENS-Supplement der GESU
vorlegen. Auch dieses Heft ist durch eine Vielfalt von methodischen und inhaltlichen
Beiträgen gekennzeichnet, die die Breite des Handwerkszeugs und der
Anwendungsgebiete der Sekundärdatenanalyse zeigen. Nach Berichten vom
vergangenen, erneut digitalen, AGENS-Methodenworkshop im Februar 2022 und einem
Sachstandsbericht aus einer AGENS-Projektgruppe zur wissenschaftlichen Nutzung von
PKV-Leistungsdaten folgen acht Beiträge zur Nutzung von
Sekundärdaten, GKV-Daten und anderen Datenquellen, in verschiedenen
Anwendungskontexten. Abschließend werden in einem Positionspapier
Überlegungen zur künftigen Ausgestaltung des sich im Aufbau
befindenden Forschungsdatenzentrums Gesundheit präsentiert.
Schüssel et al. berichten aus dem Innovationsfondsprojekt BURDEN 2020,
in dem erstmals für Deutschland eine regionalisierte
Krankheitslastberechnung mit Hilfe von GKV-Daten vorgenommen wurde, die als
Planungsgrundlage für Bereiche wie Prävention, Versorgung oder
Bedarfsplanung verwendet werden können. Es wird berichtet, wie für
Erkrankungen aus sieben Krankheitsgruppen die Krankheitshäufigkeiten bis auf
die Ebene der Bundesländer und Raumordnungsregionen systematisch ermittelt
wurden und wie Methoden und Ergebnisse in einer Datenbank zur umfangreichen Nutzung
durch die wissenschaftliche Community bereitgestellt werden. GKV-Daten bieten sich
für diese Zwecke besonders an, weil sie wegen ihrer hohen Fallzahl eine
regionale Disaggregierung und teilweise Schweregradschätzungen
ermöglichen.
Epping et al. vergleichen Prävalenzen von Herzinfarkten in
GKV-Abrechnungsdaten und aus Surveys und liefern damit wichtige Erkenntnisse zur
Validität der in GKV-Daten enthaltenen diagnosespezifischen Informationen.
Nach der Parallelisierung einer Versichertenstichprobe und der
DEGS-Survey-Teilnehmer:innen bzgl. Geschlecht, Alter und Berufsbildungsabschluss
sind kaum signifikante Unterschiede in der Herzinfarktprävalenz zwischen
Krankenkassendaten und in Eigenangaben aus Surveybefragungen festzustellen.
Verbliebene Unterschiede lassen sich nach Einschätzung der Autor:innen durch
Ungenauigkeiten in der Berufsklassifikation der GKV-Daten bzw. Erinnerungsfehler bei
selbstberichteten Krankheiten erklären.
In einem Beitrag zur internen Validierung von GKV-Daten untersuchen Reitzle et
al. Algorithmen zur Differenzierung von Typ-1- und Typ-2-Diabetikern in
GKV-Abrechnungsdaten. In GKV- Daten stellt die Definition und Abgrenzung
erfahrungsgemäß eine besondere methodische Herausforderung dar. Zur
Definition werden ambulante und stationäre Diagnosen sowie solche aus
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ebenso wie Antidiabetikaverordnungen
herangezogen und mit Angaben aus den Disease-Management-Programmen auf
Versichertenebene verglichen. Die Autor:innen schlussfolgern, dass sich bereits
anhand weniger Merkmale wie Diagnosen, Arzneimittelverordnungen und dem Alter die
Mehrzahl der Personen mit Diabetes einem Typ zuordnen lassen. Anwendungsgebiete des
noch weiter zu validierenden Algorithmus werden z. B. in der
Diabetes-Surveillance gesehen.
Eine weitere krankheitsspezifische Analyse aus einem Innovationsfondsprojekt legen
Makowski et al. vor. Sie untersuchen die geschlechtsspezifischen
Unterschiede in der Diagnostik und Therapie von Patienten mit peripherer arterieller
Verschlusskrankheit auf Grundlage von Sekundärdaten sowie den Einfluss des
biologischen Geschlechts auf kurz- und langfristige Therapieerfolge. In der quer-
und längsschnittlich angelegten Analyse wird sowohl die Qualität der
Versorgung, ausweislich der dokumentierten Leitlinienadhärenz, wie auch der
mittelfristige Outcome (Überleben, Fortschreiten der Krankheiten)
untersucht. Die Autor:innen schlussfolgern, dass derartige diagnosespezifische
Analysen mittels GKV-Daten geeignet sind, Versorgungsdefizite zu erkennen und
Ansätze zu deren Verringerung aufzuzeigen.
In dem Beitrag von Achstetter et al. werden die Validität und
Vergleichbarkeit (mit GKV-Daten) von Leistungsdaten privater
Krankenversicherungsunternehmen untersucht. Diese Daten werden bislang selten in der
Versorgungsforschung wissenschaftlich genutzt. Es zeigt sich, dass sich
Besonderheiten dieser Daten und die Unterschiede zur GKV in abweichenden
Begrifflichkeiten, in der Datenerfassung und -validität der Abrechnungsdaten
sowie in der Nichterfassung von nicht zur Erstattung eingereichten Belegen bestehen.
Diesen Problemen sollte zukünftig mehr Aufmerksamkeit und systematische
Bearbeitung geschenkt werden, um die Versorgung der mehr als 10% in
Deutschland privat krankenversicherten Bürger:innen besser abbilden zu
können.
In Fortführung des im vorigen Supplements veröffentlichten
Positionspapiers zur Etablierung eines leistungsfähigen
Forschungsdatenzentrums Gesundheit konkretisieren March et al. ihre Vision
von der Weiterentwicklung des FDZ. Der gesetzliche Rahmen zum Aufbau und Betrieb des
FDZ wird im Sozialgesetzbuch und zwei dazu gehörigen Verordnungen zwar
abgesteckt, lässt dessen konkrete Ausgestaltung auf der Organisations- und
Arbeitsebene aber offen. Daher haben die Autor:innen aus Sicht der Forschung zehn
Statements für eine Weiterentwicklung formuliert, die das Potential eines
FDZ aufzeigen und Ideen für die weitere zukunftsfähige Ausgestaltung
und Entwicklung mit Bestandskraft darlegen.
Bobeth et al. untersuchen in einem Innovationsfondsprojekt für
verschiedene Krebsentitäten die Eignung verschiedener datenschutzkonformer
Linkageverfahren für eine individuelle Verknüpfung von GKV- und
Krebsregisterdaten. Dabei werden Verfahren mit indirekten Schlüsseln mittels
der Krankenversichertennummer als direktem Identifikator und Goldstandard validiert.
Als Gütekriterien werden Sensitivität, Spezifität sowie
Treffergenauigkeit und Treffergüte genutzt. Am besten für das
Linkage geeignet ist die Kombination von Informationen zu Entitätsart,
Geburtsdatum, Geschlecht und Postleitzahl des Wohnorts der Personen. Die Autor:innen
schlussfolgern, dass sich auch ohne eindeutigen Identifikator GKV- und
Krebsregisterdaten mit hoher interner und externer Validität auf
Individualdatenebene verknüpfen lassen.
Nimptsch et al. widmen sich der Problematik, dass trotz der amtlichen
Erfassung aller über das DRG-System abgerechneten Krankenhausfälle
bzgl. der zu Lasten der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) in
Krankenhäusern der Berufsgenossenschaften (BG) versorgten Verletzungen das
stationäre Behandlungsaufkommen nicht vollständig abgebildet wird.
Durch die Unterscheidung des Kostenträgers in den Leistungsdaten der
BG-Kliniken lassen sich die Schnittmenge der beiden Datenbestände sowie der
Anteil der nicht in der DRG-Statistik enthaltenen und damit nicht erfassten
Behandlungsfälle quantifizieren. Bei nahezu realisierter
Vollständigkeit der DRG-Leistungsdaten ergeben sich größere
Erfassungslücken in der Verletztenversorgung, die nach Einschätzung
der Autor:innen nur durch die Einbeziehung der GUV-Leistungsdaten der BG-Kliniken
geschlossen werden könne.
Infolge der Corona-Pandemie ergaben sich neue Zwänge für ein
umfassenderes Monitoring des Pandemiegeschehens selbst wie auch von dessen
Einflüssen auf andere Versorgungssektoren. In einem vom Netzwerk
Universitätsmedizin geförderten Projekt wurden fünf
pandemierelevante Fragestellungen (‚use cases‘) mit GKV-Routinedaten
bearbeitet, wie die Prävalenz und Relevanz von Risikofaktoren für
einen schweren COVID-19-Verlauf, die Hintergrundinzidenz von Sinusvenenthrombose und
Myokarditis, die Häufigkeit und Ausprägung von Post-COVID sowie die
Versorgung von Personen mit psychischen Erkrankungen. Daraus werden von Jacob
et al. kontextspezifische Handlungsempfehlungen zur Nutzung von GKV-Routinedaten
für Pandemielagen abgeleitet mit der Schlussfolgerung, dass GKV-Routinedaten
auch im Kontext der Pandemiesteuerung eine schnell verfügbare und valide
Datenquelle darstellen.
Wir möchten alle Leser und Leserinnen ermuntern, in Zukunft dieses
AGENS-Supplement bei Publikationen in Erwägung zu ziehen, wenn die
verwendeten Methoden und die erzielten Ergebnisse Sekundärdatenanalysen
zuzurechnen sind. In dem Maße, in dem dieses vergleichsweise neue Format mit
perspektivisch bis zu zwei Heften pro Jahr genutzt wird, werden Ihre Arbeiten
sichtbar und von der wissenschaftlichen Community wahrgenommen. In diesem Sinne sind
wir auf Ihre neuen Manuskripte im Jahr 2023 gespannt. Die Qualität der
Beiträge im Supplement wird durch zwei unabhängige Reviewer mit
ausgewiesener Expertise in der Sekundärdatenanalyse gewährleistet.
Als weiteren Ausblick auf 2023 dürfen wir ankündigen, dass das
nächste Supplement einen inhaltlichen Schwerpunkt zum Thema
Validierung haben wird.
Eine anregende Lektüre wünschen Ihnen
Enno Swart und Holger Gothe und Peter Ihle
Zitierweise für diesen Artikel
Gesundheitswesen 2023; 85 (Suppl. 2): S97–S98. doi:
10.1055/a-1996-1854