Psychiatr Prax 2023; 50(03): 119-121
DOI: 10.1055/a-2024-5659
Editorial

Zur Bedeutsamkeit sozialer Unterstützung nach Verlust durch Suizid

The Significance of Social Support after Loss by Suicide
Franziska Marek
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm am Bezirkskrankenhaus Günzburg
,
Nathalie Oexle
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm am Bezirkskrankenhaus Günzburg
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Franziska Marek
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Nathalie Oexle

Personen, die einen nahestehenden Menschen durch Suizid verloren haben, beschreiben diese Erfahrung häufig als „schwere Lebenskrise”, die das biografische Erleben in ein „davor” und „danach” unterteilt [1]. Studien belegen positive Auswirkungen sozialer Unterstützung im Trauerprozess, zeigen aber auch, dass sich viele Hinterbliebene nach Suizid nicht ausreichend unterstützt fühlen. Maßnahmen zur verbesserten Unterstützung sollten sich nicht nur an Betroffene richten, sondern auch das Verhalten des sozialen Umfeldes und gesellschaftlich geprägte Einstellungen zu Suizid und Trauer in den Blick nehmen.

Betroffenenzahlen

Während zwischen den 80er und frühen 2000er Jahren ein kontinuierlicher Rückgang an Suiziden in Deutschland zu verzeichnen war, hält sich die Anzahl der Suizide seither auf konstantem Niveau. Seit 2005 starben jährlich mindestens 9.000 Menschen durch Suizid; dies sind mehr als 25 Suizide pro Tag [2]. Aktuelle Schätzungen beziffern den pro Suizid betroffenen Personenkreis auf etwa 135 Menschen [3]. Diese Zahl umfasst neben denjenigen mit einer engen Beziehung zur verstorbenen Person auch weitere durch den Suizid Betroffene, wie Bekannte, Kolleg*innen, Ersthelfer*innen und Therapeut*innen. Verlässliche Zahlen über die Häufigkeiten dieser verschiedenen Gruppen in Deutschland liegen nicht vor, eine Meta-Analyse internationaler bevölkerungsbasierter Studien ergab jedoch, dass etwa jede dritte Person in ihrem Leben einen ihr bekannten Menschen durch Suizid verliert, wobei etwa 15% der Bevölkerung einen Verlust unter Freund*innen und etwa 4% unter Familienangehörigen erleben [4].


Keine Trauer wie jede andere

Der Suizid einer nahestehenden Person bringt Herausforderungen mit sich, die charakteristisch für diese Verlusterfahrung sind [5]. Zum einen kann der Verlust durch direkte Zeugenschaft oder die Nachempfindung der als leid- und gewaltvoll wahrgenommenen Umstände des Suizids für Betroffene traumatisierend sein. Weitere Spezifika dieser Verlusterfahrung hängen mit verbreiteten Annahmen zu Suizid zusammen. Suizid wird gemeinhin als Handlungsakt angesehen, dem eine selbstbestimmte Entscheidung zugrunde liegt. Diese angenommene Intentionalität der verstorbenen Person kann bei Hinterbliebenen zu dem Gefühl führen, absichtlich verlassen und abgelehnt worden zu sein, was mit Wut, der Minderung des Selbstwertgefühls und der Infragestellung der Beziehung zur verstorbenen Person einhergehen kann. Zudem kann die angenommene Vermeidbarkeit von Suiziden eine besondere Belastung für Hinterbliebene darstellen. Zweifelsfrei sollte die Prävention von Suiziden ein zentrales Leitmotiv jedes Gesundheits- und Hilfesystems sein. Gleichzeitig können vereinfachte Deutungen von Suizid zu Versagens- und Schuldgefühlen bei Hinterbliebenen beitragen. Eine weitere Belastungsquelle ist das mit Suizid verbundene Stigma. In den vom Christentum geprägten Gesellschaften galt Suizid lange Zeit als Sünde und Straftat, weshalb durch Suizid verstobenen Personen ein kirchliches Begräbnis verwehrt wurde. Im Zuge der Säkularisierung und Weiterentwicklung moderner Wissenschaften vervielfältigten sich die Deutungen des Suizids. Heutige Betrachtungsweisen sind durch das medizinisch-psychosoziale Paradigma der Suizidalität geprägt [6], welches biologische, psychologische, interpersonelle und strukturelle Einflussfaktoren und deren Interaktionen in den Blick nimmt. Wenngleich dieses erklärende Verständnis zu einem differenzierten und möglicherweise entstigmatisierenden Blick auf Suizid und Suizidalität beiträgt, sind negative Zuschreibungen, wie Schwäche und Selbstsucht, im Zusammenhang mit Suizid noch immer sozial wirksam. Das Stigma um Suizid wirkt sich in vielfältiger Weise auch auf das Umfeld der verstorbenen Person aus.


Soziale und gesundheitliche Auswirkungen

Viele Hinterbliebene nach Suizid berichten von Vorwürfen und Schuldzuschreibungen sowie von Neugierde und Tratsch durch das soziale Umfeld [7]. Manche Hinterbliebene erleben zudem Formen von entrechteter Trauer, was bedeutet, dass sie in ihrer Trauer wenig bis keine soziale Anerkennung erfahren [8]. Dies kann u. a. darauf zurückzuführen sein, dass Außenstehende die durch Suizid verstorbene Person als weniger „betrauerbar“ im Vergleich zu anderen Verstorbenen erachten, die Dauer und Ausdrucksformen der Trauer der Hinterbliebenen als inadäquat bewerten oder deren Nähe zur verstorbenen Person infrage stellen. Studien zeigen, dass sich Hinterbliebene nach Suizid oftmals nicht ausreichend von ihrem Umfeld unterstützt fühlen und von Gefühlen der Zurückweisung, Einsamkeit und sozialer Isolation berichten [9] [10]. Neben Belastungen durch Selbststigmatisierung und Schuldgefühle können auch Erfahrungen im sozialen Kontext die Offenlegung der Verlusterfahrung sowie die Suche nach informeller und professioneller Hilfe negativ beeinflussen und damit die Trauerverarbeitung erschweren [11]. Zahlreiche Studien belegen Zusammenhänge zwischen Verlust durch Suizid und einem erhöhten Risiko für diverse psychische Probleme, insbesondere Depression und Suizidalität [12] [13] [14] [15] [16]. Auch das Phänomen der komplizierten Trauer, d. h. intensive und andauernde bzw. wiederkehrende Trauerreaktionen, erhält zunehmende Aufmerksamkeit. Diese tritt mit erhöhter Wahrscheinlichkeit nach unerwarteten Verlusten und insbesondere nach Verlust durch Suizid auf und ist mit einer Vielzahl von Gesundheitsproblemen, darunter Schlafstörungen und gesteigerter Alkoholkonsum, sowie mit erheblichen Beeinträchtigungen im Alltag, Sozial- und Berufsleben der Betroffenen assoziiert [17] [18].


Verbesserung der sozialen Unterstützung als Maßnahme der Postvention

Diese weitreichenden Auswirkungen verdeutlichen den Bedarf an Unterstützungsangeboten für Hinterbliebene nach Suizid. Mit dem Ziel, den Leidensdruck der Betroffenen und negative Folgen nach dem Verlust zu reduzieren, richtet sich die sog. Postvention an Einzelpersonen, verfolgt aber auch systemische Ansätze in Schulklassen und Familien. Sie schließt neben psychosozialer Krisenintervention auch Peerangebote in Selbsthilfe- und Trauergruppen sowie medizinische und psychotherapeutische Maßnahmen ein. Aufgrund des erhöhten Suizidrisikos von Hinterbliebenen nach Suizid ist die Postvention ein wichtiger Bestandteil der Suizidprävention [19].

Während die Stärkung individueller Ressourcen zum Umgang mit diesem belastenden Ereignis von zentraler Bedeutung ist, sollte auch die Aktivierung des sozialen Umfeldes im Rahmen von Postvention in den Blick genommen werden. Erste Studien zeigen, dass inadäquate und fehlende Unterstützung bei Hinterbliebenen nach Suizid mit erhöhter psychischer Belastung und Suizidalität einhergehen [20] [21]. Gleichzeitig ist soziale Unterstützung als wichtige Determinante eines gesunden Trauerprozesses bekannt und Betroffene äußern vielfach den Wunsch nach proaktiver Unterstützung [22] [23] [24]. Soziale Unterstützung bietet damit einen wichtigen, doch aktuell noch vernachlässigten, Ansatzpunkt für Postvention.

Vor allem die Sorge vor Stigmatisierung hindert Betroffene daran, auf Unterstützungsressourcen im eigenen sozialen Netzwerk zurückzugreifen [22] [25]. Betroffene könnten demnach von Maßnahmen zur Stärkung der Hilfesuche profitieren. Dazu gehören neben der Reduzierung von Selbststigmatisierung, der Reflexion eigener Bedarfe und der Auswahl geeigneter Gesprächspartner*innen als wichtige Voraussetzungen für gelungene soziale Unterstützung auch protektive Faktoren, wie die Stärkung von Resilienz gegenüber inadäquaten Reaktionen. Für den Aufbau eines hilfreichen Unterstützungsnetzwerks sind zudem Kommunikationskompetenzen sowie Strategien zur Bewertung und Veränderung des Hilfesuchverhaltens vonnöten. Besonders wichtig ist dabei die Fähigkeit, zwischen dem eigenen Bedarf an sozialer und dem an professioneller Unterstützung unterscheiden zu können. Dies setzt eine gelungene Informationsvermittlung und Zugänge zu professionellen Hilfsangeboten voraus, die durch den Ausbau an Modellen aktiver Postvention, d. h. aufsuchende Aufklärung und Hilfe für Hinterbliebene nach Suizid, gestärkt werden könnten [26].

Von Betroffenen häufig geschilderte Verhaltensweisen des Umfelds, wie Sprachlosigkeit, verletzende Aussagen und Vermeidung, deuten auf Unsicherheiten und damit auf Hilfebedarf potenzieller Unterstützender im Umgang mit Hinterbliebenen nach Suizid hin. Hier könnten niederschwellige Angebote zur Sensibilisierung für die spezifischen Herausforderungen für Hinterbliebene nach Suizid und Aufklärung über Trauerprozesse hilfreich sein. Psychoedukative und kontaktbasierte Elemente könnten dazu beitragen, stigmatisierende Einstellungen zu reduzieren [27]. Es sollten Unterstützungskompetenzen, wie die Wahrnehmung von Anzeichen für Unterstützungsbedarfe, proaktives Unterstützungsverhalten und offene Kommunikation, vermittelt und die Reflexion über Gründe, die das eigene Unterstützungsverhalten beeinflussen, angeregt werden.

Neben diesen kompetenzfördernden und zielgerichteten Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Unterstützung nach Verlust durch Suizid sind insbesondere die Aufklärungs-, Präventions- und Antistigma-Arbeit im Kontext psychischer Erkrankungen und Suizid sowie die Auseinandersetzung mit Trauerkultur und zugrundeliegenden Normierungen als gesellschaftliche Querschnittsaufgabe zu betrachten. Dazu braucht es Debatten zu Fragen, wie: Wie lässt sich der Individualisierung und Tabuisierung dieser Trauererfahrung entgegenwirken? Wie also können sowohl geschützte Räume und Praktiken, aber auch solche des gemeinschaftlichen und alltäglichen Umgangs mit Trauer gestaltet und gestärkt werden? Kurzum: Wie kann Trauer nach Suizid gesellschaftlich stattfinden?



Interessenkonflikt

Die Autorinnen geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Franziska Marek, M.A.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm am Bezirkskrankenhaus Günzburg
Parkstraße 11
89073 Ulm
   

Publication History

Article published online:
12 April 2023

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