Einleitung
Gegenstand der Versorgungsforschung sind die Versorgungsstrukturen, -prozesse und
-ergebnisse unter besonderer Berücksichtigung der Perspektiven von
Nutzer*innen, Leistungserbringenden, Organisationen und der jeweiligen
Kontextbedingungen auf Mikro-, Meso- und Makroebene [2]. Charakteristisch für die Versorgungsforschung sind also
komplexe Forschungsgegenstände. Für die gegenstandsangemessene
Bearbeitung der daraus resultierenden Problem- und Fragestellungen, bedarf es sowohl
quantitativer als auch qualitativer Forschungsmethoden [3]. Ziel der Versorgungsforschung ist die
Bereitstellung von Evidenz zur Verbesserung von Versorgungsstrukturen, -prozessen
und -ergebnissen. Dies gilt zum Beispiel für die Entwicklung, Evaluation und
Implementierung komplexer Interventionen in realen Versorgungssettings. Die
Komplexität der Intervention und ihrer einzelnen Komponenten, ihrer
Adressat*innen und Akteur*innen, des Settings und der
Betrachtungsebenen erschweren die Untersuchung ihrer Wirksamkeit. So werden in der
aktuellen Überarbeitung des MRC-Framework [4] für die Entwicklung und Evaluation komplexer Interventionen
explizit der Wert und die Notwendigkeit von Mixed Methods-Designs für dessen
Anwendung herausgestellt.
Auch in der Deutschen Versorgungsforschung wird die Anwendung von Mixed Methods
zunehmend diskutiert und empfohlen [5], z.B.
explizit vom Expert*innenbeirat zu Anträgen im Rahmen des beim
Gemeinsamen Bundesausschuss angesiedelten Innovationsfonds [6].
Definitorisch beziehen wir[1] uns in diesem
Diskussionspapier auf den von Schreier [7]
formulierten Minimalkonsens, wonach Mixed Methods „die Anwendung sowohl
qualitativer als auch quantitativer Methoden in einer Studie oder in zwei eng
aufeinander bezogenen Studien“ meint. Doch welche methodischen
Implikationen bringt ein solches Vorgehen mit sich?Kritische
Auseinandersetzungen mit dem Mixed Methods-Ansatz verweisen immer wieder darauf,
dass das Ziel eines erweiterten Erkenntnisgewinns nicht automatisch durch den
bloßen Einsatz von sowohl quantitativen als auch qualitativen Methoden
erreicht wird [7]
[8]
[9].
Voraussetzung für die Durchführung einer Mixed Methods-Studie ist
eine übergeordnete Forschungsfrage, deren Beantwortung die Integration
qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden notwendig macht [8]
[10]
[11]. Grundvoraussetzung
für einen tatsächlichen Mehrwert von Mixed Methods-Designs ist die
begründete und dem Forschungsgegenstand angemessen umgesetzte Integration
der qualitativen und quantitativen Studienanteile [10]
[11]. Unseres Erachtens ist es
insbesondere der Aspekt der Integration, der Forschende nicht nur in der
Versorgungsforschung vor methodische Herausforderungen stellt.
Die Versorgungsforschung ist stark von einer Orientierung an quantitativ erfassbaren
Outcomes und Kennzahlen geprägt. Dies betrifft Mixed Methods-Projekte vor
allem dann, wenn es ihr Ziel ist, z.B. im Rahmen der Entwicklung, Evaluation oder
Implementierung einer komplexen Intervention eine Datengrundlage für
evidenzbasierte Entscheidungen zu generieren [vgl. dazu auch 2]. Durch diese
dominierende Forschungslogik wird den quantitativen Studienanteilen und ihren
Ergebnissen meist von vornherein ein höheres Gewicht beigemessen [9]. Unter diesen Bedingungen läuft die
Planungs- und Umsetzungsgüte insbesondere der qualitativen Studienanteile in
Mixed Methods-Designs Gefahr, im Ringen mit dem Anspruch an die unmittelbare
Verwertbarkeit der Ergebnisse und die (Vorab-)Planbarkeit von Forschungsprozessen,
nicht hinreichend berücksichtigt zu werden [8]. Im Forschungsprozess bleibt dann wenig Raum für methodische
Offenheit und Flexibilität. Unter Umständen hat dies zur Folge, dass
Mixed Methods ihrem methodischen Anspruch nicht gerecht werden und
möglichweise Erkenntnispotenzial verschenkt wird.
Das hier vorliegende Diskussionspapier ist das Ergebnis eines kontinuierlichen
kollegialen Diskussionsprozesses der Kleingruppe Mixed Methods in der Arbeitsgruppe
Qualitative Methoden im DNVF zum Stellenwert und zu den Potenzialen qualitativer
Methoden im Feld der Versorgungsforschung. Wir greifen damit das Thema dreier
vorangegangener Diskussionspapiere [12]
[13]
[14]
der Arbeitsgruppe auf und diskutieren die Anwendung qualitativer Methoden im Kontext
von Mixed Methods-Projekten. Ziel dieses Beitrags ist es, einen Austausch dazu
anzuregen, wie die Qualität von Mixed Methods in der Versorgungsforschung
aus der Perspektive qualitativ Forschender gestärkt werden kann [15].
Charakteristische Merkmale qualitativer Forschungsansätze und deren
Bedeutung für die Umsetzung von Mixed Methods-Designs in der
Versorgungsforschung
Die qualitative Sozialforschung zeichnet sich durch unterschiedliche
grundlagentheoretische Positionen und Forschungsprogramme aus [16]
[17]. Einige Merkmale sind allerdings charakteristisch für das
gesamte Spektrum qualitativer Methoden: ein offenes Datenformat,
Subjektorientierung, die Interpretation von Bedeutungen und die Analyse als
iterativer Prozess [12]. Allen
qualitativen Verfahren gemein ist außerdem die Orientierung am Prinzip
der Induktion im Gegensatz zu einem rein deduktiven Vorgehen, wie es
charakteristisch für standardisierte Verfahren ist. Qualitative
Forschung verpflichtet sich zudem dem Prinzip der Offenheit: Dies beinhaltet die
Möglichkeit zur (begründeten) Modifikation der Forschungsfrage
und Forschungsmethoden im Studienverlauf sowie die Explikation und Integration
von Vorannahmen, Einstellungen und Werthaltungen in den Forschungsprozess und
stetige Selbstreflexion auf Seiten der Forschenden. Schließlich findet
diese Offenheit als methodische und persönliche Forschungshaltung ihren
Ausdruck in der Suche nach den eigenen Annahmen, Deutungen bzw. Hypothesen
widersprechenden Forschungsdaten [12].
Die eingehende Auseinandersetzung mit diesen charakteristischen Merkmalen
qualitativer Forschung ist die Voraussetzung um die Gegenstandsangemessenheit
methodologischer Ansätze reflektieren und beurteilen zu können
[8]. So sehr der Zuwachs an
Methodenvielfalt in der Versorgungsforschung zu begrüßen ist, so
liegt in der wachsenden Anwendung von Mixed Methods-Designs auch die Gefahr
einer unreflektierten Anwendung qualitativer Sozialforschung, wenn ihre Methoden
vor allem als ‚Tools‘ begriffen und eingesetzt werden. Der
Anspruch der Gegenstandsangemessenheit der eingesetzten Methoden wird dann
möglicherweise verfehlt [14]
[18].
Konfliktfelder in der Planung und Durchführung von Mixed
Methods-Studien aus Perspektive qualitativ Forschender
Ausgehend vom Diskussionsprozess innerhalb der Arbeitsgruppe Qualitative Methoden
zum Stellenwert qualitativer Forschung in der Versorgungsforschung [12]
[13]
[14] und der
Weiterführung dieser Überlegungen zur Anwendung qualitativer
Methoden im Rahmen von Mixed Methods-Studien, lassen sich aus Sicht qualitativ
Forschender einige kritische Momente bzw. Konfliktfelder in der Planung und
Durchführung von Mixed Methods-Studien identifizieren.
Ressourcen
Ein erstes Konfliktfeld ist die „Kluft zwischen
forschungsmethodischen Ansprüchen und verfügbaren
Ressourcen“ [12]), die es bei
qualitativen Forschungsvorhaben häufig zu
überbrücken gilt. Dieses Problem kann sich im Kontext von
Mixed Methods-Projekten verschärfen, die per se aufwendig und
ressourcenintensiv sind. In der Versorgungsforschung ist der
forschungsökonomische Druck, schnelle und praktisch anwendbare
Ergebnisse liefern zu müssen, besonders hoch [7]
[8]. Dadurch besteht die Gefahr, dass die quantitativen und
qualitativen Studienanteile in Konkurrenz um zeitliche und personelle
Ressourcen zueinander geraten, wobei diese für den qualitativen Teil
oftmals nicht von vorneherein verbindlich zu beziffern sind. Diese
Rahmenbedingungen können zusätzlich dazu beitragen, dass vor
allem auf scheinbar pragmatischere und vermeintlich leichter
durchzuführenden Verfahren zurückgegriffen wird und
aufwendigere Verfahren wie ethnographische Designs oder rekonstruktive
(hermeneutische) Analyseverfahren in der Versorgungsforschung kaum Anwendung
finden [13].
Offenheit
Ein zweites Konfliktfeld ergibt sich aus der für qualitative
Herangehensweisen benötigten Offenheit und Flexibilität.
Qualitative Forschung ist darauf angewiesen, ihre Forschungsfragen bzw. ihr
methodisches Vorgehen im Studienverlauf (begründet und
nachvollziehbar) modifizieren zu können [12]. Dies kann bei Mixed
Methods-Studien zu Schwierigkeiten führen, wenn diese, wie es
für standardisierte Studien häufig praktiziert wird, in
einem vorab veröffentlichten Studienprotokoll detailliert
beschrieben und somit festgelegt werden sollen. Zudem kann das Merkmal der
Zirkularität des qualitativen Forschungsprozesses [14] bspw. die Planung auf qualitativen
Ergebnissen aufbauender Studienanteile erschweren. Unter diesen
Voraussetzungen laufen die qualitativen Studienanteile gerade aufgrund ihres
iterativen Charakters oftmals Gefahr, in der ihnen notwendigen methodischen
Flexibilität in erheblichem Maße beschränkt zu
werden.
Umgang mit Inkongruenzen und Abweichungen
Ein drittes Konfliktfeld stellt der Umgang mit Inkongruenzen oder
abweichenden Aussagen und Extremausprägungen in den Daten dar.
Für qualitativ Forschende ist es ein methodisches Grundprinzip, die
Daten auch auf Widersprüche hin zu prüfen, die die eigenen
Annahmen, Deutungen und im Verlauf der Analyse formulierten Hypothesen
möglicherweise widerlegen. Erklärungen für diese
Abweichungen befördern die (Weiter-)Entwicklung einer
substanzielleren Theorie. Im Gegensatz dazu bemüht sich die
quantitative Forschung darum, aus Theorie und/oder Forschungsstand
in sich widerspruchfreie Hypothesen abzuleiten, die im Forschungsprozess
überprüft werden sollen [19].
Forschende als beteiligte Subjekte
Ein letztes Konfliktfeld ergibt sich aus dem Selbstverständnis
qualitativ Forschender als am Forschungsprozess beteiligte Subjekte [12]. Während
quantitativ-standardisierte Forschung bemüht ist, diesen Effekt
möglichst zu eliminieren und eine systematische Reflexion des
eigenen Blickwinkels methodisch nicht vorgesehen ist, haben sich qualitativ
Forschende genau diese Selbstreflexion zur Aufgabe gemacht. Diese
inhärente Subjektorientierung qualitativer Forschung [14] ist mit der Rekonstruktion der
Perspektiven der relevanten Akteur*innen und Forschenden verbunden.
Genau diese Haltung kann im Kontrast zum Anspruch der Objektivität
im quantitativen Studienanteil irritierend wirken.
Mixing mental models – der Kitt, der Mixed Methods-Projekte verbindet
und zusammenhält?
Wie erfolgreich die beschriebenen Konfliktfelder bearbeitet werden, hängt
maßgeblich davon ab, wie gut es gelingt, die verschiedenen Perspektiven
der Forschenden in einem Projektteam in Einklang zu bringen [20]
[21]. Charakteristisch für Mixed Methods-Projekte ist das
Zusammentreffen verschiedener Wissenskulturen in den Forschungsteams; Greene
spricht in diesem Zusammenhang von „mental models“ [1]. Mental models subsummieren
philosophische Paradigmen, grundlegende Theorien und disziplinspezifische
Perspektiven ebenso wie die wissenschaftliche Sozialisation und methodische
Ausbildung von Forschenden sowie deren individuellen Werte, praktischen
Erfahrungen und Zugänge zu Wissensreservoirs. Mixed Methods bedeutet im
Forschungsalltag also immer auch „mixing mental models“ [22]. Für Mixed Methods in der
Versorgungsforschung gilt dies aufgrund des inhärenten
multidisziplinären Zugangs vermutlich in besonderem Maße.
Neben der Abstimmung der epistemologischen und inhaltlichen Perspektiven
determinieren die methodischen Ressourcen und Rahmenbedingungen die
Sinnhaftigkeit und den Erfolg eines Mixed Methods-Projekts. Vor allem bedarf es
erfahrener Forschender mit einer umfangreichen methodischen Expertise –
dabei muss nicht jede*r alles können, vielmehr geht es um eine
gemeinsame Sensibilität für die komplexen Anforderungen des
Vorhabens und eine gegenseitige Akzeptanz der jeweiligen methodologischen
Perspektiven und Zugänge [1].
Integration als grundlegende Signatur eines Mixed Methods-Designs
Der Mehrwert von Mixed Methods-Designs ergibt sich aus dem Element der
Integration qualitativer und quantitativer Studienanteile und -ergebnisse. Damit
die methodischen Potenziale bestmöglich und transparent
begründet genutzt werden und ein erweiterter Erkenntnisgewinn durch die
Verwendung von Mixed Methods entstehen kann, sollten sich Forschende bereits bei
der Planung des methodischen Ansatzes und der Ziele der einzelnen Studienanteile
mit den Möglichkeiten und Grenzen ihrer Integration auseinandersetzen
[23]
[24]. Eine solche strukturierte Reflexion findet jedoch häufig
nicht explizit statt [25]
[26]
[27].
Integration kann auf verschiedenen Ebenen erfolgen: auf der Ebene der
Fragestellung – bereits bei der Herleitung der Fragestellung
wäre es sinnvoll, sich auf die Erkenntnisse qualitativer und
quantitativer Studien und Reviews zu stützen –, des Designs, der
Datenerhebung, der Datenanalyse sowie der Interpretation und des Ziehens von
Schlussfolgerungen [28]
[29]. [Tab.
1] bietet einen Überblick über die zentralen Merkmale
und die verschiedenen Ebenen der Integration und verhilft damit zu einem
Verständnis dessen, was Mixed Methods im Kern ausmacht. Darüber
hinaus kann sie als Matrix für die Planung und Reflexion der eigenen
Studie genutzt werden und bietet eine Struktur zur Darstellung des Designs und
des methodischen Vorgehens. Je mehr Ebenen integrativ verbunden werden, umso
mehr bewegt sich das Mixed Methods-Design hin zu einem „Fully Integrated
Mixed Methods (FIMM)“-Ansatz, der sich durch Feedback-Loops zwischen
quantitativen und qualitativen Daten und ein iteratives Vorgehen bei der
Datensammlung und -analyse auszeichnet [23]
[30]
[31]
[32].
Tab. 1 Zentrale Merkmale und Ebenen der Integration einer
Mixed Methods-Studie (Daten aus Creamer [29] und Kuckartz [28]).
Begründung und Ziel
|
Wozu dient das Mixed Methods-Design? z.B. Hypothesen oder
Theorien testen, Theorieentwicklung,
Instrumentenentwicklung, Fallstudien, Implementierung oder
Evaluation.
|
Priorität der Studienanteile
|
Wie sind die qualitativen und quantitativen Studienanteile
gewichtet?
Mögliche Darstellung:
QUANT + qual – die quantitative Studie
besitzt Priorität
QUAL + quant – die qualitative Studie besitzt
Priorität
oderQUAL + QUANT – die Studienanteile sind
gleichwertig
|
Zeitlicher Ablauf der Datenerhebung
|
Erfolgt die Datenerhebung nacheinander (sequenziell) oder
gleichzeitig (parallel)?
|
Zeitlicher Ablauf der Datenanalyse
|
Erfolgt die Datenanalyse nacheinander (sequenziell) oder
gleichzeitig (parallel)?
|
Ebenen der Integration “Mixing”
|
Vollständige Integration auf allen Ebenen?
|
Integration gegeben?
|
Fragestellung
(Minimalvoraussetzung)
|
Offene Forschungsfrage(n), deren Beantwortung die Integration
qualitativer und quantitativer Daten und Analysen notwendig
macht
|
Ja/Nein
|
Design
|
Formulierung von Teilfragen für die qualitativen bzw.
quantitativen Studienanteile
Welche Methoden sind jeweils geeignet, welche Gewichtung der
Studienteile, welcher zeitliche Ablauf?
|
Ja/Nein
|
Datenerhebung
|
z.B. im Rahmen des Samplings
|
Ja/Nein
|
Datenanalyse
|
z.B. Konsolidierung durch Vermischung oder Konvertierung der
beiden Datentypen
|
Ja/Nein
|
Interpretation und Schlussfolgerungen
|
Verbindung der Schlussfolgerungen aus den qualitativen und
quantitativen Studienanteilen und Ableitung
übergeordneter Schlussfolgerungen
|
Ja/Nein
|
Meta-Inferenz
|
Schlussfolgerung Qual
|
Ein Beispiel: „Es konnten typische Muster in der
Inanspruchnahme einer Gesundheitsdienstleistung
identifiziert werden.“
|
Schlussfolgerung Quan
|
Ein Beispiel: „Diese Muster sind in verschiedenen
Alters- und Einkommensgruppen unterschiedlich
verteilt.“
|
Übergeordnete Schlussfolgerung(en) aus Qual und
Quan.
Ein Beispiel: „Die Inanspruchnahme der
Gesundheitsdienstleistung xy folgt bestimmten Mustern, die
von verschiedenen sozio-demographischen Merkmalen der
Nutzer*innen abhängig sind.“
|
Mehrwert durch das Mixed Methods-Design
|
z.B.:
-
Neue Erkenntnisse durch vertiefende Analyse bei sich
widersprechenden Ergebnissen aus den beiden
Studienteilen.
-
Qualitative Daten tragen zur Erklärung von
Gruppenunterschieden in den quantitativen Daten
bei
-
Ein Beispiel: Typische Muster der Inanspruchnahme
konnten in ihrer Komplexität erfasst und es
konnte dargestellt werden, wie diese in
Abhängigkeit verschiedener Merkmale in der
untersuchten Gruppe verteilt sind.
|
Eine Möglichkeit auf graphisch-visueller Ebene darzustellen, wie und wann
verschiedene Datenarten integriert werden, bieten ‚Joint
Displays‘. Darüber hinaus helfen sie, neue Erkenntnisse und
Schlussfolgerungen (Meta-Inferenzen), die über die Ergebnisse der
einzelnen Studienanteile hinausgehen, zu generieren und sichtbar zu machen und
bieten eine Struktur für die Diskussion der integrierten Analyse [15]
[33]
[34]. Ein Beispiel
für die Nutzung von Joint Displays bei der Gegenüberstellung von
quantitativen und qualitativen Ergebnissen einer Mixed Methods-Studie ist das
Triangulations-Protokoll, anhand dessen Forschende Übereinstimmung,
Dissonanz oder das jeweilige Nicht-Vorhandensein einer dieser
Ausprägungen („Schweigen“) zwischen den quantitativen
und qualitativen Ergebnissen analysieren [21]
[35].
In [Tab. 2] finden sich vier Beispiele
hochwertiger Mixed Methods-Studien in typischen Anwendungsfeldern der
Versorgungsforschung in Deutschland, mit ihren jeweils qualitativen und
quantitativen Komponenten sowie dem Vorgehen bei der Integration. Die
ausgewählten Beispiele verdeutlichen die Erkenntnispotenziale, die die
Anwendung von Mixed Methods für die Versorgungsforschung bietet. Zum
eigentlichen Prozess der Integration der qualitativen und quantitativen
Studienteile findet im Rahmen dieser Publikationen jedoch wenig methodische
Reflexion statt.
Tab. 2 Beispiele von Mixed Methods-Studien in typischen
Anwendungsfeldern der Versorgungsforschung.
Anwendungsfeld
|
Beispielstudie (Autor*in, Jahr, Journal, Ziel)
|
Qualitative Komponente (Datenerhebung und -analyse)
|
Quantitative Komponente (Datenerhebung und -analyse)
|
Integration der qualitativen und quantitativen
Komponenten
|
Entwicklung einer komplexen Intervention
|
Saal et al., 2018 (BMC Geriatrics)
Entwicklung einer Intervention im Rahmen des MRC-Frameworks
zur Förderung der sozialen Partizipation von
Pflegeheimbewohner*innen mit Kontrakturen [36].
|
Gruppendiskussionen mit Bewohner*innen,
Expert*innenworkshops und Gruppendiskussionen mit
Pflegekräften zu Barrieren und
Förderfaktoren für die Teilnahme an
Aktivitäten im Pflegeheim.
Inhaltsanalyse.
|
Sekundärdatenanalyse einer standardisierten Befragung
zu Auswirkungen von Bewegungseinschränkungen bei
Pflegeheimbewohner*innen; Graphische
Modellierung.
|
Sequentiell-explanatorisches Design; aufbereitete Ergebnisse
der Befragung generierten Themen für
Expert*innenworkshops und Gruppendiskussionen.
|
Analyse der Inanspruchnahme von Versorgungsangeboten
|
Bieber et al., 2018 (ZEFQ)
Inanspruchnahme formaler Unterstützungsangebote in
der häuslichen Versorgung von Menschen mit Demenz
[37].
|
Leitfadengestützte Interviews mit Angehörigen
zu Gründen der Inanspruchnahme bzw. Ablehnung
formeller Unterstützungsangebote.
|
Fragebogenstudie unter Verwendung verschiedener
standardisierter Instrumente zur Nutzung informeller und
formeller Unterstützung und
Nutzungsveränderungen im zeitlichen Verlauf.
|
Paralleles Design, zielgerichtetes Sampling aus der
quantitativen Stichprobe für den qualitativen Teil;
Triangulation der quantitativen und qualitative Ergebnisse
zur Analyse der Zusammenhänge zwischen der
Versorgungssituation im zeitlichen Verlauf und
Inanspruchnahme formeller Unterstützungsangebote
|
Instrumentenentwicklung und -validierung
|
Dür et al., 2015 (Health and Quality of Life
Outcomes)
Identifizierung personbezogener, für die
Lebensgeschichte von Menschen mit Rheumatoider Arthritis
(RA) relevanter Faktoren, und deren Erfassung durch
patient reported outcome measures (PROMs) [38].
|
Qualitative Interviews zur Rekonstruktion
patientenrelevanter, personbezogener Faktoren aus den
Lebensgeschichten von Menschen mit RA.
Biographisch-narrative interpretative Methode (BNIM).
|
Systematische Literaturrecherche und Extraktion von PROMs,
die bei RA eingesetzt werden.
|
Paralleldesign, Verknüpfungsprozess durch Vergleich
qualitativer und quantitativer Ergebnisse zur Bestimmung der
Abdeckung patientenrelevanter personbezogener Faktoren in
PROMs.
|
Patientenorientierung und Optimierung von
Versorgungsprozessen
|
Kremeike et al., 2021 (BMC Palliative Care)
Weiterentwicklung einer Pilotintervention eines klinischen
Ansatzes zur Unterstützung eines proaktiven Umgangs
mit dem Sterbewunsch von Menschen in der Palliativversorgung
[39].
|
Leitfadengestützte Interviews mit palliativ
versorgten Menschen, mit dem Ziel, die Pilotintervention um
die Patientenperspektive zu erweitern.
Inhaltsanalyse, thematische Analyse der offenen Antworten aus
dem Online-Delphi-Survey (siehe quantitative
Komponente).
|
Online-Delphi-Survey in zwei Runden für einen
internationalen, multiprofessionellen Expertenkonsens
über Inhalt und Struktur des klinischen
Ansatzes.
Deskriptive Statistik.
|
Sequentielles Design, Integration der qualitativen und
quantitativen Ergebnisse zur Weiterentwicklung der
Intervention. Pilot eines klinischen Ansatzes wird
ergänzt um die Perspektive von Betroffenen und final
abgestimmt über Online-Befragung von
Expert*innen.
|
Herausforderungen der Integration aus Sicht der qualitativen
Forschung
Ein Kritikpunkt, der seitens der qualitativen Forschung mit Blick auf Mixed
Methods häufig angebracht wird, ist eine eingeschränkte
analytische Tiefe zugunsten der Integration auf Ebene der Daten. Vorbehalte aus
qualitativer Sicht bestehen vor allem bezüglich der Anwendung von
Strategien des „Quantifying“, in denen Ergebnisse der
qualitativen Analyse nach Variablen der quantitativen Analyse aufgeteilt werden
und z.B. Häufigkeitszählungen erfolgen [40]. Obgleich komplexere methodische
Verfahren zur Verknüpfung von quantitativen und qualitativen Daten
vorliegen, wie z.B. die ‚Qualitative Comparative Analysis‘
(QCA), die sowohl fall- und variablen-orientierte Auswertungsstrategien
ermöglicht [41]
[42], wird häufig der Weg
gewählt, in beiden Studienanteilen eher deskriptiv zu arbeiten, um die
Integration vermeintlich zu erleichtern. Ein solches Vorgehen birgt jedoch die
Gefahr, dass die Komplexität des Forschungsgegenstandes zu Gunsten der
methodischen Handhabbarkeit reduziert wird [8]. Verschärft wird dies, wenn die gewählten
qualitativen und quantitativen Methoden sich nicht sinnvoll ergänzen
oder die Gewichtung der jeweiligen Studienanteile sehr unterschiedlich ist (vgl.
[Tab. 1]). Wenn eine Methodik
maßgebend dominiert, besteht die Gefahr, dass der zusätzliche
Erkenntnisgewinn durch den Mixed Methods-Ansatz nicht mehr gegeben ist. Dies
kann beispielsweise der Fall sein, wenn wörtliche Zitate aus Interviews
nur zur Verdeutlichung von Kernaussagen der quantitativen Analyse herangezogen
werden.
Reporting und Bewertung von Mixed Methods-Studien
Für die systematische Bewertung der Qualität einer Mixed
Methods-Studie ist ein nachvollziehbares Reporting der methodischen Schritte und
ihrer Integration die Grundvoraussetzung. In der Literatur finden sich
verschiedene Kriterienkataloge sowohl für das Reporting als auch
für die Qualitätsbewertung. Zwei der am häufigsten
verwendeten sind die ‚Good Reporting Standards for Mixed Methods Studies
Guidelines‘ (GRAMMS) und das ‚Mixed Methods Appraisal
Tool‘ (MMAT) [43]
[44]. Problematisch an diesen Kriterien ist,
dass sie für die Darstellung und Bewertung der quantitativen und
qualitativen Studienanteile nicht die angemessene Tiefe bieten und den zentralen
Aspekt der Integration außen vorlassen. Hier bietet das ‚Mixed
Methods Evaluation Rubric‘ (MMER) von Creamer [29], welches den Umfang der methodischen
Integration ins Zentrum der Bewertung stellt, eine gute Alternative.
Diskussion
In diesem Diskussionspapier wurden Anforderungen, mögliche Konfliktfelder und
Herausforderungen bei der Integration beschrieben, anhand derer Ansätze
für die Stärkung der Qualität von Mixed Methods-Studien in
der Versorgungsforschung aufgezeigt werden. Bei gegebener Priorisierung
standardisierter Forschung und dem hohen ökonomischen Druck ergeben sich
aufgrund der Eigenschaften und Merkmale qualitativer Forschung Herausforderungen.
Diese Herausforderungen werden nachfolgend primär hinsichtlich der sich auch
daraus ergebenden Potenziale diskutiert.
Die im ersten Konfliktfeld geäußerte Sorge, Mixed Methods
könnten die Popularität aufwendigerer interpretativer oder
rekonstruktiver Verfahren insgesamt weiter schmälern, halten wir für
begründet. Sie sollte uns aber vor allem dazu motivieren, für die
vielfältigen Potenziale qualitativer Forschungsansätze, die in ihrem
breiten methodischen Spektrum mit den jeweils unterschiedlichen epistemologischen
Hintergründen liegen, zu werben. Es lohnt sich auch eine kritische
Diskussion darüber, wann die Durchführung einer methodisch
anspruchsvoll angelegten qualitativen Studie dem Forschungsgegenstand
möglicherweise angemessener ist als ein Mixed Methods-Design.
Das zweite Konfliktfeld thematisiert die für qualitative Forschung notwendige
Offenheit und Flexibilität im Konflikt mit den Prinzipien standardisierter
Forschung. Diesem Argument möchten wir an dieser Stelle hinzufügen,
dass auch Mixed Methods-Studien nur dann ihr volles Potenzial entfalten
können, wenn in ihrer Forschungslogik ein per se iteratives Vorgehen
verankert ist. Dies schließt die quantitativen Studienanteile ein, die im
Rahmen ausgewählter Mixed Methods-Designs erst durch eine flexible und
offene Handhabung der Datenerhebung und -auswertung anschlussfähig an die
qualitativen Studienanteile werden. Konkret kann dies z.B. bedeuten, dass die
Ausrichtung der quantitativen Datenerhebung oder -analyse auf Grundlage im
Forschungsprozess gewonnener Erkenntnisse aus der qualitativen Analyse angepasst
werden oder die Interpretation parallel erhobener qualitativer und quantitativer
Daten gleichermaßen Eingang in die Diskussion und die Implikationen
finden.
Als drittes bleibt den Umgang mit Inkongruenzen und Abweichungen aufzugreifen, der
als eine der Hauptherausforderungen von Mixed Methods-Forschung angesehen wird [45] und die hier meist als Widerspruch zwischen
den Ergebnissen der beiden Studienteile thematisiert werden. Inkongruenzen
können bedingt sein durch grundlegende theoretische [10] oder methodologische [45] Unterschiede in der Herangehensweise an den
Forschungsgegenstand oder die mangelnde Sensitivität quantitativer
Instrumente für die Abbildung komplexer Erfahrungen [45]. In der qualitativen Forschung werden
Inkongruenzen und Extremausprägungen per se als Chance angesehen, blinde
Flecken zu identifizieren [33] und sie
können bei weiterer Bearbeitung zu einer umfassenderen Erkenntnis
über die untersuchten Phänomene führen [33]
[45].
Mixed Methods bieten hier durch ihre zahlreichen Möglichkeiten der
Integration (vgl. [Tab. 1]) ganz neue
Perspektiven, aus denen heraus Inkongruenzen und Widersprüche zwischen den
Erkenntnissen qualitativer und quantitativer Studienanteile eher als Wegweiser denn
als Hürde wahrgenommen werden können.
Im letzten Konfliktfeld steht das Selbstverständnis qualitativ Forschender
als am Forschungsprozess beteiligter Subjekte eines möglichst zu
minimierendem Einfluss der Person des Forschenden bei standardisierten
Herangehensweisen gegenüber. Nicht nur, aber besonders für Mixed
Methods-Projekte kann dies als Impuls für eine Selbstreflexion des
Forschungsteams und seiner mannigfaltigen Einflussnahme auf den Forschungsprozess
genutzt werden. Eine umfassende und kritische Reflexion zur Umsetzung einer Mixed
Methods-Studie in multidisziplinären Teams bieten Mekki et al. [32].
Wie kann gute Mixed Methods-Forschung gelingen, bei der die Potenziale aller
verwendeten Methoden bestmöglich genutzt werden?
Zunächst einmal verlangen Mixed Methods-Designs eine grundlegende Offenheit
hinsichtlich des Erkenntnisinteresses und eine wissenschaftstheoretische Fundierung
der Erhebungs- und Auswertungsmethoden, in der qualitative und quantitative
Paradigmen grundsätzlich als kompatibel erachtet werden. Dies geht weit
über die Auffassung hinaus, durch die Anwendung eines Mixed Methods-Designs
könne die eine Methode „die Schwächen“ der jeweils
anderen Methode ausgleichen, wodurch in Summe validere Ergebnisse entstünden
[24]
[46]. Denn ein Mixed Methods-Design ergibt zwar idealerweise mehr als die
Summe seiner einzelnen methodischen Zugänge, es ist ihm aber keineswegs qua
Design eine Garantie für methodische Synergien inhärent. Dies ist
umso weniger der Fall, wenn nicht von vornherein darüber reflektiert wird,
worin konkret der Zugewinn durch die Integration beider Methoden bestehen soll [24]
[29].
Im Lichte des Kriteriums der Gegenstandsangemessenheit scheint der Aspekt der
Integration von zentraler Bedeutung für die Planung einer guten Mixed
Methods-Studie. Dafür ist die oben erwähnte Offenheit, flexibel
über etwaige Anpassungen in den quantitativen und qualitativen
Analyseschritten zu entscheiden, essentiell. Voraussetzungen dafür sind
iterative Forschungsprozesse sowie ein interdisziplinäres, interaktiv
arbeitendes Team mit ausgeprägter und breiter methodischer Kompetenz. Dieser
„mixed methods way of thinking” [1] ist auch für Begutachtende und Fördermittelgebende
eine wünschenswerte Voraussetzung, um Mixed Methods-Projekte und die damit
einhergehenden methodischen Erfordernisse und notwendigen Ressourcen angemessen
beurteilen zu können. Darüber hinaus gilt es die verwendeten
Kriterien für das Reporting und die Qualitätsbewertung von Mixed
Methods-Projekten kritisch auf die Abbildungsfähigkeit des Mixed
Methods-Momentums – die Integration der qualitativen und quantitativen
Anteile einer Studie – zu überprüfen.
Die Versorgungsforschung ist ein multidisziplinär geprägtes Feld und
wird dies trotz der in Zukunft zu erwartenden originär ausgebildeten
Versorgungsforscher*innen bleiben. Es wird in Mixed Methods-Projekten in der
Versorgungsforschung also immer auch darum gehen, verschiedene professionelle und
methodische Perspektiven zusammenzubringen. Die Zunahme von Studiengängen
der Versorgungsforschung bietet hier eine Chance und gleichzeitig einen Auftrag
für die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses. So gilt es nicht nur,
Versorgungsforscher*innen mit den notwendigen Methodenkenntnissen und
-kompetenzen auszustatten, sondern vor allem auch ihr Verständnis
für das Kriterium der Gegenstandsangemessenheit über alle
methodischen Herangehensweisen hinweg zu schärfen. So ausgebildete
Versorgungsforscher*innen könnten in Mixed Methods-Projekten die
Rolle zwischen den Perspektiven vermittelnder wissenschaftlicher
Koordinator*innen einnehmen, wenn es darum geht, die verschiedenen
„mental models“ in Mixed Methods-Projekten zusammenzubringen und
Mixed Methods-Forschungsprozesse zu gestalten.
Fazit und Implikationen
Mixed Methods bieten in vielen Fällen einen geeigneten methodischen Zugang,
um die komplexen Fragestellungen und Gegenstände der Versorgungsforschung
angemessen zu untersuchen. Allerdings gilt es neben den Möglichkeiten auch
die Herausforderungen der Integration bereits bei der Planung von Mixed
Methods-Studien in den Vordergrund zu stellen und methodisch zu adressieren.
Wesentlich erscheint die Zusammenarbeit von Forschenden, die qualitativ gleichwertig
gut durchgeführte qualitative und quantitative Studienanteile als
gemeinsames Ziel haben und dass der gesamte Forschungsprozess konsequent von
Offenheit und Reflexivität geprägt ist. Aus unserer Sicht ergeben
sich folgende Implikationen für die Anwendung von Mixed Methods-Designs in
der Versorgungsforschung:
-
Eine strukturierte Reflexion der verwendeten Methoden innerhalb des Mixed
Methods-Designs und auf die Bedeutung und Umsetzung der Integration der
Studienanteile im Forschungsprozess.
-
Stärkung des Verständnisses für den iterativen und
ressourcenintensiven Charakter von Mixed Methods-Designs bei Forschenden und
Fördermittelgebenden und eine offene Diskussion über die
Interpretation von Mixed Methods-Ergebnissen sowie, die Bewertung der
Aussagekraft der qualitativen und quantitativen Studienanteile und daraus
abzuleitende praktische Implikationen.
-
Integration von Mixed Methods in die Ausbildung von
Versorgungsforscher*innen und die Curricula entsprechender
Studiengänge.
Wir möchten mit unserem Beitrag eine Diskussion über die Bedeutung
und qualitätsvolle Umsetzung von Mixed Methods-Designs in der
Versorgungsforschung leisten und zum Austausch zwischen Forschenden, Studierenden,
Begutachtenden und Fördermittelgebenden einladen.