Zu den weltweit wichtigsten und am meisten verwendeten Medikamenten gehören die Antibiotika,
d. h. Medikamente, die zur Behandlung bakterieller Infektionskrankheiten verwendet
werden. Das Bekannteste ist Penicillin, das im Jahr 1929 von Alexander Flemming entdeckt
worden war, wofür er 1945 den Nobelpreis erhielt. 4 Jahre zuvor war es erstmals klinisch
eingesetzt worden.
Obgleich es mittlerweile eine größere Zahl von Antibiotika gibt, befindet sich die
Medizin in einem permanenten Wettlauf mit den Bakterien: Wenn ein neues Antibiotikum
auf den Markt kommt, dauert es oft nicht lange, bis die ersten Resistenzen auftreten,
denn jeder Einsatz von Antibiotika fördert die Bildung von Resistenzen. Deren Entstehung
lässt sich nicht verhindern, sondern lediglich verlangsamen. Denn wenn ein Antibiotikum
Bakterien abtötet, hat dies zur Folge, dass manche gegen das Medikament resistente
Bakterien überleben und sich vermehren. Je mehr Antibiotika eingesetzt werden, desto
größer wird der Anteil der gegen sie resistenten Bakterien.
Aus diesem Grund treten antibiotikaresistente Bakterien vor allem dort auf, wo viele
Antibiotika zum Einsatz kommen, also in Krankenhäusern, aber auch in der landwirtschaftlichen
Viehzucht. Antibiotikaresistenzen nehmen weltweit zu und stellen eine der größten
Herausforderungen für die globale Gesundheit dar. Man weiß, dass Abwässer aus landwirtschaftlichen
Betrieben und Krankenhäusern zur Verbreitung von Resistenzen beitragen, zumal Resistenzen
auch von Bakterien an andere Bakterien weitergegeben werden können. Daher wird der
Einsatz von Antibiotika in der Landwirtschaft in vielen Ländern eingeschränkt. Wenn
jedoch nichts weiter geschieht, könnten bereits um die Mitte dieses Jahrhunderts weltweit
jährlich 10 Millionen Menschen sterben, weil ihre Infektionskrankheit – von multiresistenten
Krankenhauskeimen wie MRSA (Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus) bis hin
zu Tuberkulose – wegen resistenter Bakterien unbehandelbar ist [3]. Bereits im Jahr 2019 waren weltweit 4,95 Millionen Todesfälle mit Antibiotikaresistenz
assoziiert [1], [9].
Vor gut 10 Jahren beschrieb der Direktor des Antimicrobial Drug Discovery Centers
der Northeastern University in Boston, MA, Kim Lewis [4] im Fachblatt Nature die Situation wie folgt: „Nach der Entdeckung von Penicillin im Jahr 1928 begann
die goldene Ära der Suche nach neuen Antibiotika in den 1940er-Jahren, als [… man]
die Fähigkeit von Bakterien, eigene Antibiotika zu produzieren (mit denen sie sich
gegenseitig ausstechen), durch systematische Tests von Bodenmikroben […] nutzte. Dies
führte 1943 zur Entdeckung von Streptomycin, dem ersten Antibiotikum, das zur Behandlung
von Tuberkulose eingesetzt wurde. […] in den folgenden 20 Jahren [kam es] zur Entwicklung
der wichtigsten Antibiotikaklassen.“ Doch in den letzten 50 Jahren kam nur eine einzige
neue Klasse hinzu, deren Anwendung mittlerweile aufgrund von Nebenwirkungen wieder
eingeschränkt wurde.
Schließlich kam noch hinzu, dass die Suche nach neuen Antibiotika extrem aufwändig
und teuer ist. Zugleich wurden die Ärzte aus gutem Grund immer zurückhaltender beim
Einsatz neuer Antibiotika, um nicht neue Resistenzen zu „züchten“. Dies wiederum führte
dazu, dass Unternehmen ihre Forschungsbemühungen nach neuen Präparaten verminderten
oder gar einstellten, denn selbst wenn sie neue Substanzen gefunden hätten, würde
nur wenig damit verdient werden können. Gerade weil neue Medikamente dringend gebraucht werden aber zugleich nur äußerst sparsam eingesetzt
werden sollen (damit sie ihre Wirkung lange behalten), geriet die Forschung in eine
Zwickmühle. Und so wurde trotz der zunehmenden Bedrohung immer weniger geforscht.
Ökonomen sprachen im Hinblick auf diesen Sachverhalt von einem Marktversagen [2]. Der Marktmechanismus gab die Forschung einfach nicht mehr her.
Wer hätte gedacht, dass Künstliche Intelligenz (KI) einen Ausweg aus dieser Situation
darstellen könnte? – Der Beweis hierfür wurde im Jahr 2020 im Fachblatt Cell publiziert. Einer aus kanadischen und US-amerikanischen Wissenschaftlern zusammengesetzten
Arbeitsgruppe gelang erstmals die Entdeckung eines völlig neuartigen Antibiotikums,
dem Halicin, mit den Methoden der KI, d. h. mit maschinellem Lernen durch tiefe (d. h. vielschichtige)
neuronale Netzwerke. Halicin wirkt gegen eine große Zahl von Erregern, einschließlich
Tuberkelbazillen, resistenten Enterobakterien und Clostridium difficile, einem Bakterium,
dass etwa 15–20 % der Fälle von antibiotikaverursachter Durchfallerkrankungen und
vor allem mehr als 95 % der schwereren Fälle hiervon (sogenannte pseudomembranöse
Colitis).
Anstatt mit biochemischen Methoden Tausende von Molekülen auf antibiotische Wirksamkeit
hin zu untersuchen (high-throughput screening), gingen die Wissenschaftler einen neuen
Weg. Sie trainierten ein tiefes neuronales Netzwerkmodell anhand einer Sammlung von
2335 Molekülen mit bekannter antibiotischer Wirkung, um deren wachstumshemmenden Effekt
auf das Bakterium Escherichia coli vorherzusagen. Das Netzwerk lernte die Eigenschaften
von Molekülen, gewissermaßen Atom für Atom, und konnte dann molekulare funktionelle
Einheiten erkennen (vorhersagen), ohne Annahmen über die Wirkungsweise von Medikamenten
zu machen und ohne chemische Gruppen zu kennzeichnen. Danach wendeten sie das Modell
auf über 100 Millionen Moleküle an, die bereits zur Behandlung anderer Krankheiten
beim Menschen verwendet werden, bei denen es sich aber nicht um bekannte Antibiotika
handelte. Hierdurch wurden 99 besonders vielversprechende Substanzen identifiziert.
Erst danach wurde durch biologische Testverfahren bei 51 von diesen 99 Stoffen eine
gute antibiotische Wirksamkeit nachgewiesen [8].
Die Wissenschaftler hatten in einer ersten Suche unter 6111 Molekülen eines gefunden,
das gegen ein breites Spektrum von Bakterien wirkt, darunter Tuberkulose und Stämme,
die als unbehandelbar galten. Sie nannten die Substanz nach HAL, dem Computer im Film
2001: Odyssee im Weltraum, Halicin
[7]. In Tests an Mäusen wirkte dieses Molekül gegen ein breites Spektrum von Krankheitserregern,
darunter auch multiresistente Stämme, gegen die ansonsten nichts mehr geholfen hatte.
Nicht nur die Wirkung von Halicin war zuvor unbekannt, sondern auch der Wirkungsmechanismus. Er erwies sich als vollkommen
anders als die der bekannten Antibiotika: Die Substanz unterbricht den Fluss von Protonen
durch die Zellmembran. In ersten Tierversuchen schien Halicin außerdem eine geringe Toxizität aufzuweisen und zudem robust gegen Resistenzen zu
sein. In Experimenten zur Resistenzentwicklung gegen Antibiotika treten Resistenzen
meist innerhalb von einem oder 2 Tagen auf, wohingegen in den gleichen Experimenten
selbst nach 30 Tagen keine Resistenzen gegen Halicin festzustellen waren. In Mausmodellen von Infektionen wurde mittlerweile die gute
Wirksamkeit von Halicin gegen multiresistente Bakterien, die bislang nicht zu bekämpfen waren, nachgewiesen
[8].
Die Wissenschaftler wendeten dann die KI auf insgesamt mehr als 107 Millionen (!)
Moleküle aus entsprechenden Datenbanken an, um noch mehr mögliche antibiotisch wirksame
Substanzen zu identifizieren. Die KI fand tatsächlich 23 weitere Stoffe, von denen
erneut experimentell durch entsprechendes mikrobiologisches Screening 8 neue Substanzen
mit antibiotischer Wirksamkeit identifiziert werden konnten, von denen 2 sogar gegen
multiresistente Stämme von E. coli antibiotisch wirksam waren [7].
Halten wir fest, was hier erstmals gelang: Seit den 1980er-Jahren waren trotz der
Anwendung mikrobiologischer Suchmethoden auf Tausende von Molekülen (high-throughput
screening) keine neuen, klinisch einsetzbaren Antibiotika gefunden worden [8], und die alten bereits existierenden Antibiotika verloren mit der Zeit wegen Resistenzbildung
ihre Wirksamkeit. Die Suche nach neuen Substanzen war erfolglos, nicht zuletzt, weil
die Suchmethoden (mikrobiologisches Screening im Labor) im Vergleich zum Suchraum
(der Anzahl der zu untersuchenden Stoffe mit möglicher Wirkung) hoffnungslos zu langsam
waren: Trotz Jahrzehntelanger Suche war keine einzige neue antibiotisch wirksame Substanz
gefunden worden. In dieser ausweglosen Situation brachte erst die Anwendung von KI
den Durchbruch durch deren Vorschaltung vor den eigentlichen Screening-Prozess im
Labor: KI, also erstens ein Lernprozesses und zweitens ein darauf basierter Suchprozess,
konnte den Suchraum nach neuen antibiotisch wirksamen Stoffen drastisch – von über
100 Millionen auf knapp 100 – einschränken. Erst danach kamen die üblichen Methoden
zum Einsatz, die wegen der Einschränkung des Suchraums auf ein Millionstel der ursprünglichen
Größe eine Millionenfach größere Aussicht auf Erfolg hatten. Und sie hatten tatsächlich
Erfolg! Die Autoren schließen ihre Arbeit mit den folgenden Sätzen ab: „Insgesamt
deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass die Zeit für die Anwendung moderner maschineller
Lernverfahren zur Entdeckung von Antibiotika reif ist. Solche Bemühungen könnten die
Chancen der Entdeckung neuer Moleküle erhöhen, die hierfür erforderlichen Ressourcen
verringern und die damit verbundenen Kosten senken. Deep-Learning-Methoden könnten
uns daher in die Lage versetzen, unser Antibiotika-Arsenal zu erweitern und der Verbreitung
von Antibiotikaresistenz Einhalt zu gebieten“ [8].
Noch ist keines der neuentdeckten Medikamente klinisch verfügbar. Das liegt an den
sehr zeitaufwändigen Zulassungsverfahren für neue Medikamente, die zudem für jede
neue Substanz mit Kosten von weit mehr als einer Milliarde Euro bzw. Dollar verbunden
sind. Aber im Hinblick auf die weltweite Krise der klinischen Anwendung von Antibiotika
gibt es immerhin Licht am Ende des Resistenztunnels.