Zusammenfassung
Autismus ist eine durch genetische und umweltbedingte Faktoren verursachte Störung der Gehirnentwicklung im frühen Kindesalter. Es gibt verschiedene Schweregrade, von leichten sozialen Defiziten (manchmal in Kombination mit besonderen Fähigkeiten wie Kopfrechnen oder eidetischem Vorstellungsvermögen) bis hin zur schweren geistigen Behinderung und lebenslanger deutlicher Beeinträchtigung. In den letzten 50 Jahren ist die Prävalenz von Autismus von einem Fall auf 5000 auf einen Fall von 44 Kindern exponentiell gestiegen. Für dieses Phänomen wurden mehrere Ursachen vorgeschlagen – von einer Ausweitung des Krankheitskonzepts und einer Zunahme des Wissens über und Bewusstseins für die Krankheit bis hin zu einer tatsächlichen Zunahme der Störung, die durch die Elternschaft in einem späteren Alter verursacht wird. Experten sind sich jedoch einig darüber, dass etwa die Hälfte dieses dramatischen Anstiegs – um mehr als das 100-Fache – ungeklärt ist. Ausgehend von den jüngsten Beobachtungen eines Zusammenhangs zwischen der frühen Nutzung von Bildschirmmedien und der Entwicklung autistischer Symptome wird hier argumentiert, dass ein zentrales Merkmal der heutigen Umwelt von Kleinkindern, die digitalen Bildschirmmedien, den gemeldeten Anstieg der Prävalenz mit erklären könnte.
Einleitung
Stellen Sie sich einmal vor, die Häufigkeit von Schlaganfällen, Blinddarmentzündungen oder Magenkrebs hätte sich in den letzten 50 Jahren verhundertfacht: Das würde zu kritischem Nachfragen und der Forderung nach wissenschaftlicher Aufklärung und wahrscheinlich auch zu ziemlich viel Aufregung und Bestürzung führen. Nun gibt es eine im Kindesalter auftretende, meist zu lebenslanger Behinderung unterschiedlichen Grades führende Störung der Entwicklung, für die eine solche explosionsartig verlaufende Veränderung der Auftretenshäufigkeit tatsächlich beschrieben wurde: Autismus.
Mit dem Wort Autismus wird etwa seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts eine Störung der kindlichen Entwicklung bezeichnet, die sich im ersten bis vierten Jahr nach der Geburt zeigt, vor allem den (zwischenmenschlichen) Kontakt, die Kommunikation mit anderen Menschen (Sprachentwicklung) und die motorische Entwicklung betrifft ([
Abb. 1
]). Das Kind reagiert nicht oder nur verzögert auf Ansprache, wendet sich nicht zu, nimmt keinen Blickkontakt auf, interessiert sich mehr für Sachen als für Menschen und neigt zum Wiederholen der immer gleichen Verhaltensweisen. Zu den Störungen der Grob- und Feinmotorik gehören ungelenke sowie stereotype, repetitive und bedeutungslose Bewegungen wie z. B. Schaukeln des Körpers, sowie Störungen von Mimik und Gestik (ausdruckslos bzw. von der Kommunikation entkoppelt). Hinzu kommen oft Störungen der Wahrnehmung sowie des Verhaltens, von sehr häufigen Schwierigkeiten beim Essen bis hin zu heftigen Wutausbrüchen mit Schreien, Schlagen und Selbstverletzungen. Die intellektuelle Entwicklung und die Sprachentwicklung können normal sein, oder einzeln oder beide gestört sein [60], [61].
Abb. 1 Die Symptome der Autismus-Spektrum-Störung können in erster Näherung in 3 sich überlappende Gruppen eingeteilt werden (nach Daten aus [9]). Jedes einzelne Symptom kann mehr oder weniger stark ausgeprägt sein, d. h. der Übergang zur Normalität ist fließend. Im Kern besteht die Störung in einer Verminderung von mentalistischem Denken, Fühlen und Verhalten, womit gemeint ist, dass der andere nicht als Subjekt, sondern als Objekt begriffen wird. Nur zwischen 2 Subjekten kann sich soziale Reziprozität, Sprache und Kommunikation entwickeln. Geschieht dies nicht, kommt es zu Fehlentwicklungen, die durch fehlende Flexibilität (immer wieder das Gleiche reflexhaft denken, sagen und tun) gekennzeichnet ist.
Unterschied man früher den schweren, meist im ersten Lebensjahr auftretenden, oft mit Intelligenzminderung einhergehenden frühkindlichen Autismus nach Kanner und das leichtgradigen, zuweilen mit Sonderbegabungen kombinierte und meist nach dem dritten Lebensjahr auftretende Asperger-Syndrom (von Asperger zunächst „autistische Persönlichkeit“ genannt), so wird seit gut 2 Jahrzehnten von einem Spektrum gesprochen: Die Krankheit heißt „offiziell“ Autismus-Spektrum-Störung (Disorder) – international abgekürzt ASD. Sowohl die Klinik (Schwere, Verteilung und Verlauf der unterschiedlichen Symptome) als auch die mittlerweile immer besser bekannte Genetik des Autismus sprechen für ein solches Spektrum.
Prävalenz: Enormer Anstieg – ungeklärt
Prävalenz: Enormer Anstieg – ungeklärt
Das US-amerikanische Center for Disease Control and Prevention (CDC) gibt die Prävalenz von ASD bei Kindern im Alter von 8 Jahren für das Jahr 2018 mit 23 von 1000 an (bzw. 1 von 44 Kindern), wobei Jungen 4,2-fach häufiger betroffen sind als Mädchen. Auch gibt es in den USA erhebliche regionale Unterschiede: Die Prävalenz reicht von 16,5 pro 1000 in Missouri bis zu 38,9 pro 1000 in Kalifornien [40]. Die Häufigkeit von ASD hat sich damit von 1975, wo sie bei einem Fall unter 5000 Kindern lag, auf einen Fall unter 44 Kindern im Jahr 2018 gesteigert ([
Abb. 2
]), d. h. in einem Zeitraum von 43 Jahren mehr als verhundertfacht [54].
Abb. 2 Die Prävalenz von ASD bei Kindern im Alter von 8 Jahren hat sich innerhalb von 43 Jahren mehr als verhundertfacht. Die Daten bis 2009 entstammen der Übersicht von Weintraub [69], die Werte für 2012, 2014 und 2018 wurden vom CDC publiziert, zuletzt Ende des Jahres 2021 [40].
Kein geringerer als der „Vater der britischen Kinderpsychiatrie“ [2], der 2021 verstorbene Sir Michael Rutter (1933–2021), machte sich bereits vor 18 Jahren Gedanken über die (damals erst etwa 15-fache) Zunahme des Vorkommens von ASD [51]. Die von ihm identifizierten Gründe sind:
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Eine verbreiterte Konzeption von Autismus, die auch leichtere Fälle miteinschließt. Dies hat die Häufigkeit der Diagnosen etwa vervierfacht. Hierbei spielte die britische Psychiaterin Lorna Wing (1928–2014) eine große Rolle, die eine autistische Tochter hatte und sich aus diesem Grund mit den Arbeiten von Asperger befasste. Sie übersetzte seine Arbeiten, wodurch die – wenn auch sehr späte – Rezeption von dessen Arbeiten im angloamerikanischen Sprachraum überhaupt erst erfolgte [72]. Auch die Tatsache, dass in neueren Studien der Prozentsatz der Intelligenzminderung unter Menschen mit ASD deutlich geringer ist, spricht für eine Verbreiterung des Autismuskonzepts mit Einschluss leichterer Fälle. Hierzu bemerkt Rutter klar: „Obwohl bei allen ASD-Varianten ein erheblicher Anstieg zu verzeichnen ist, scheint dieser bei denjenigen mit normalem nonverbalen IQ am größten gewesen zu sein. Dies impliziert eine Ausweitung der diagnostischen Kriterien“ [51].
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Große Studien an jeweils mehr als 10000 Kindern, die alle untersucht wurden, um durch ein gestuftes Verfahren Kinder mit ASD „herauszufiltern“, ergaben durchweg höhere Häufigkeiten als man zunächst dadurch gefunden hatte, dass man nur diejenigen Kinder berücksichtigte, die zum Arzt gebracht wurden. Es gab also in der Zeit vor diesen Studien offensichtlich eine erhebliche Dunkelziffer. Auch hierdurch allein dürfte die Zahl der Fälle von ASD auf das 3- bis 4-Fache des früher angenommenen Wertes angestiegen sein.
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Noch in den 1960er- und 1970er-Jahren war Autismus kaum bekannt und es gab daher auch wenige Ärzte, die diagnostisch auf der Höhe der Zeit waren. Ähnlich wie bei den Aufmerksamkeitsstörungen sorgte also erst eine größere Bekanntheit des klinischen Bildes für einen Anstieg der Diagnosen. Die Größe dieses Effektes in Zahlen ist schwer abzuschätzen.
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Es gab schließlich begriffliche Veränderungen: (a) Die Erstbeschreiber vermuteten eine psychologische Verursachung des Autismus und stellten aus diesem Grund die Diagnose Autismus nur dann, wenn eine schwere Intelligenzminderung oder hirnorganische Veränderungen nicht vorlagen (z. B. beim Down-Syndrom). Dies änderte sich jedoch mit der Zeit, sodass Rutter zufolge mindestens 10 % des Anstiegs der Diagnosen auf dieser Grundlage zu erklären sind. (b) Bei etwa 50 % der Kinder mit frühkindlichem Autismus findet man weitere somatische Diagnosen, und zu Beginn der Autismusbeschreibungen wurden auch diese Kinder von der Diagnose aus diesem Grund ausgeschlossen. Zwischenzeitlich hatte sich jedoch geklärt, dass es sich beim Autismus um ein biologisches Entwicklungsdefizit handelt, sodass allein der Hinweis auf eine zugrunde liegende biologische Störung kein Ausschlusskriterium mehr darstellte.[
1
] (c) Seit der ersten genetischen Studie an 21 gleichgeschlechtlichen Zwillingspaaren (11 eineiig und 10 zweieiig), bei denen mindestens ein Zwilling einen frühkindlichen Autismus aufwies, zeigte sich eine hohe Heritabilität [16].[
2
] Weitere Studien belegten, dass bei Geschwistern von Patienten mit relativ schwerem ASD einzelne Symptome oder mildere Formen von ASD gehäuft vorkommen [5], was ebenfalls für eine sehr deutliche erbliche Komponente spricht.
„Betrachtet man der Gesamtheit der Erkenntnisse, so kann kein Zweifel daran bestehen, dass ein wesentlicher Teil des Anstiegs der Fälle von ASD auf eine Kombination aus besserer Erfassung einerseits und der Erweiterung des diagnostischen Konzepts andererseits zurückzuführen ist. Es lässt sich jedoch nicht feststellen, ob diese Faktoren für den gesamten Anstieg der Häufigkeit von Autismus verantwortlich sind. Als diese Frage auf einem internationalen Expertentreffen[
3
] erörtert wurde, herrschte Einigkeit darüber, dass keine eindeutigen Schlussfolgerungen möglich sind. [… Es] bleibt die Möglichkeit bestehen, dass es darüber hinaus einen echten Anstieg gegeben hat, der nicht einfach eine Folge von Änderungen in der Methodik ist“ beurteilte Rutter im Jahr 2005 (S. 7) abschließend die Lage [51].
Danach ging der Anstieg ungebremst weiter, wie aus einer im Fachblatt Nature vor 12 Jahren erschienenen Übersicht [69] sowie den neueren vom CDC publizierten Daten entnommen werden kann [40]. Auch die Nature-Übersicht stellt klar, dass eine größere Bekanntheit der Diagnose und eine breitere Definition für einen Teil des beobachteten Anstiegs verantwortlich sind. Weiterhin werden lokale Häufungen (weil z. B. Nachbarn sich gegenseitig informieren), bessere Hilfsangebote für autistische Kindern (mit der Folge, dass die Diagnose einer schweren psychiatrischen Krankheit nicht mehr als Stigma, sondern als finanzieller Vorteil angesehen und daher aktiv gesucht wird), sowie das Älterwerden von Eltern (mit einer dadurch bedingten höheren Wahrscheinlichkeit, ein autistisches Kind zu bekommen) diskutiert. Die Nature-Übersicht macht aber auch klar, dass diese Rechnung nicht vollständig aufgeht ([
Abb. 3
]). „Wenn sich der Anstieg des Autismus hauptsächlich durch zunehmende Sensibilisierung, Diagnose und soziale Faktoren erklären ließe, dann waren die dazu beitragenden Umweltfaktoren schon immer vorhanden – vielleicht eine zu einem ungünstigen Zeitpunkt in der Schwangerschaft aufgetretene Infektion oder irgendein Ernährungsdefizit. Wenn sich der Anstieg jedoch nicht wegdiskutieren lässt – und zumindest ein Teil des Anstiegs ,real‘ ist –, dann müssen neue Faktoren die Ursache sein, die von der Wissenschaft dringend aufgeklärt werden sollten“ [69].
Abb. 3 Gründe für die Zunahme der Diagnose Autismus in den vergangenen Jahrzehnten (Grafik nach [69], mit Daten aus [76], [77]). Knapp die Hälfte des Anstiegs der Häufigkeit der Diagnose „Autismus“ über die letzten Jahrzehnte ist unaufgeklärt.
Genetik
In genetischer Hinsicht gibt es einerseits seltene, monogen und mit hoher Penetranz vererbte Syndrome, die Symptome beinhalten, welche auch bei Autismus bestehen, die man jedoch nicht unter die Spektrum-Störung einordnet. Die große Mehrheit der Fälle von ASD (wenn nicht alle, sofern man alles andere tatsächlich ausschließt) ist durch eine Vielzahl von (wahrscheinlich mehr als 1000) Genen mit jeweils nur sehr geringem Einfluss (unter 1 %) verursacht [11]. Vererbt wird also nicht die Krankheit ASD, sondern eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, diese Krankheit zu bekommen – ein Sachverhalt, der für die meisten häufigen psychiatrischen Erkrankungen zutrifft. Die Angaben zur Größe der durch genetische bzw. umweltbedingte Faktoren erklärten Varianz des Auftretens von ASD schwanken erheblich, wobei weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass der genetische Anteil vergleichsweise größer ist.
Die Wahrscheinlichkeit, an ASD zu erkranken, wenn ein Geschwister bereits erkrankt ist, liegt bei 10–15%. Allerdings erkranken Jungen etwa 4-mal häufiger als Mädchen, weswegen man von einem „female protective effect“ (FPE; übersetzt etwa: schützende Auswirkung von Weiblichkeit) spricht [23]. Erkrankte Mädchen müssen daher eine höhere genetische Belastung (weil sie trotz FPE erkrankt sind) aufweisen, was sich tatsächlich daran zeigt, dass deren Brüder mit höherer Wahrscheinlichkeit an ASD leiden als die Brüder erkrankter Jungen [64].
Umweltfaktoren
Die Entwicklung von Autismus erfolgt nicht völlig eigengesetzlich allein nach einem vorgegebenen genetischen Programm. Vielmehr wurde schon in Leo Kanners 28-Jahre-Katamnese der 11 Patienten aus seiner Erstbeschreibung klar, dass Umweltfaktoren und damit Lernprozesse den Verlauf der Erkrankung positiv oder negativ beeinflussen können [33], [34]. Auch die Erkenntnisse von Studien aus den letzten 2 Jahrzehnten legen nahe, dass eine Intervention vor dem Auftreten von ASD-Symptomen zu besseren Entwicklungsergebnissen führen kann. Zudem deuten klinische Studien darauf hin, dass die therapeutischen Ergebnisse umso besser sind, je früher die Intervention durchgeführt wird. Man sollte also nicht abwarten, bis sich das Vollbild des Autismus entwickelt hat, sondern bei Risikokindern (d. h. jüngeren Geschwistern eines Kindes mit ASD) früh mit therapeutischen Maßnahmen beginnen.
Wie bereits erwähnt, gehört eine verminderte Neigung zur Herstellung von Blickkontakt zu den Symptomen von ASD. In einer Langzeitstudie an 59 Säuglingen mit hohem Risiko für ASD und 51 Säuglingen mit geringem Risiko, ASD zu entwickeln, wurde die Entwicklung der Augenbewegungen in den ersten 3 Lebensjahren untersucht [30]. Bei Kindern, bei denen später Autismus diagnostiziert wurde, war der Augenkontakt nach der Geburt normal, nahm jedoch kurz nach dem zweiten Lebensmonat ab. Diese Ergebnisse führten zu weiteren Studien [17], die diese Auffälligkeit als eine der frühesten Manifestationen von Autismus nachweisen und als frühen diagnostischen Marker etablieren konnten [70].
Eine multidisziplinäre Gruppe von Experten diskutieren den konzeptionellen Rahmen für Verhaltensinterventionen in der präsymptomatischen Periode vor der Konsolidierung der Symptome zu einer Diagnose bei Säuglingen ab einem Alter von 6 Monaten [21]. Aus entwicklungsneurobiologischer Sicht erscheinen solche frühen Interventionen sinnvoll, jedoch fehlen belastbare Daten zur Wirksamkeit.
Die Auffassung von Autismus als „Spektrum“ mit mehr oder weniger starken genetischen und umweltbedingten Belastungsfaktoren hat den Vorteil, dass man Präventionsmaßnahmen in den Blick nehmen kann, die sich auf die Verminderung von ungünstigen Umweltfaktoren beziehen. Genau an dieser Stelle kommen die Erfahrungen zu Bildschirmmediennutzung und der Entwicklung von Sozialverhalten ins Spiel.
Schon lange ist bekannt, dass die vor dem Bildschirm verbrachte Zeit sich negativ auf die kindliche Entwicklung auswirkt, wobei sowohl die kognitive als auch die psychosoziale Entwicklung betroffen ist. Neuere Längsschnittuntersuchungen gehen über Korrelationen hinaus und weisen deutlich auf einen kausalen Zusammenhang hin [15], [39]. So beeinflusst die Bildschirmzeit im Vorschulalter von 2 bzw. 3 Jahren die kognitive Entwicklung 1 bzw. 2 Jahre später deutlich, wie eine Längsschnittstudie an 2441 Müttern und deren Kindern ergab [39]. Ebenfalls im Rahmen einer prospektiven Langzeitstudie an 7450 Kindern aus der Early Childhood Longitudinal Study-Birth Cohort Study zeigte sich ein Zusammenhang zwischen Medienexposition (Fernseh- und Videokonsum) im Alter von 2 Jahren und Selbstregulationsproblemen im späteren Lebensalter [49]. Der Zusammenhang war in Haushalten mit niedrigem sozioökonomischem Status stärker ausgeprägt.
Bildschirme und ASD-Symptome
Bildschirme und ASD-Symptome
Ältere Studien hatten keinen Zusammenhang zwischen Bildschirmmedienkonsum und Autismus gefunden [43], was möglicherweise daran lag, dass erst die große Verbreitung von Smartphones und Tablets in Familien während der vergangenen 5–10 Jahre und vor allem die von Säuglingen und Kleinkindern mit ihnen verbrachte Zeit solche dramatischen Auswirkungen nach sich ziehen konnten. Anders gewendet: Schon früher wurden Fernseher, Playstation oder Computer als Babysitter eingesetzt, aber erst in den letzten Jahren verbringen Kleinkinder zusätzlich sehr viel Zeit mit Smartphones und Tablets. Dadurch hat sich die Datenlage geändert, sodass vor allem Arbeiten aus den vergangenen 5 Jahren den Zusammenhang zwischen Bildschirmzeit im Säuglingsalter und Autismus ab 3 Jahren klar und deutlich beschreiben.
Aus dem Jahr 2021 stammt eine Studie mit dem Titel „Correlation Between Screen Time and Autistic Symptoms as well as Developmental Quotients in Children with Autism Spectrum Disorder“ (Korrelation zwischen Bildschirmzeit und autistischen Symptomen sowie Entwicklungsquotienten bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung), die in Frontiers in Psychiatry veröffentlicht wurde. Untersucht wurden 158 Kinder, 101 Kinder mit diagnostizierter ASD und 57 Kinder mit normaler Entwicklung. Die Forscher analysierten das Ausmaß der Bildschirmexposition in beiden Gruppen und den Zusammenhang mit ASD-Einstufungsergebnissen. Die Studie nennt 2 Hauptergebnisse:
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Die Bildschirmzeit von Kindern mit ASD war länger als die von Kindern mit normaler Entwicklung.
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Die Bildschirmzeit stand im klaren Zusammenhang mit autistischen Symptomen und den Entwicklungsquotienten (DQ) der Kinder mit ASD: „Je länger die Bildschirmzeit, desto deutlicher die autismusähnlichen Symptome“. Eine längere Bildschirmzeit führte zu kürzerer Spielzeit, kürzerer Zeit für die Begleitung durch Betreuungspersonen und kürzerer Zeit für soziale Interaktionen. Außerdem stand die Bildschirmzeit in Zusammenhang mit der Sprachentwicklung der Kinder: „Je jünger das Alter und je länger die Bildschirmzeit, desto gravierender die Auswirkungen auf die Sprachentwicklung“.
Eine Studie an rund 84 030 japanischen Familien ergab, dass die Wahrscheinlichkeit für Jungen, im Alter von 3 Jahren Symptome einer ASD zu zeigen, umso größer ist, je mehr Zeit sie im Alter von einem Jahr vor Bildschirmen verbrachten. Für Mädchen wurde dieser Zusammenhang nicht gefunden [36]. In der Studie gaben etwa 330 Mütter an, dass bei ihrem Kind im Alter von 3 Jahren Autismus diagnostiziert worden war, was einer Prävalenz von etwa 0,4 % entspricht. Es gab 3-mal so viele autistische Jungen wie autistische Mädchen, und der Anteil der Kinder mit Autismus stieg laut der Studie mit zunehmender Bildschirmzeit.
Eine Übersichtsarbeit zum Zusammenhang von Autismus und dem Konsum von Bildschirmmedien wurde bereits 3 Jahre zuvor publiziert [56]. In den 16 ausgewählten und ausgewerteten Studien zeigte sich erstens mehr Bildschirmmedienkonsum bei Kindern mit ASD im Vergleich zu normalen Kindern und zweitens vergleichsweise früherer Bildschirmmedienkonsum. Auch zeigten sich ungünstige Auswirkungen, wenn Bildschirmmedien zur Beruhigung der Kinder eingesetzt wurden. Insgesamt kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Frühjahr 2023) festgestellt werden, dass die ungünstigen Auswirkungen von mehr Bildschirmzeit im Alter von 0–3 Jahren auf die kindliche Entwicklung im Allgemeinen und die Ausbildung von Symptomen von ASD im Besonderen gut belegt sind.
Corona, Bildschirme und Autismus
Corona, Bildschirme und Autismus
Schulschließungen, soziale Distanzierung und andere Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie im Jahr 2020 haben zu einem massiven Anstieg der von Kindern und Jugendlichen vor Bildschirmmedien verbrachten Zeit geführt [46], [48], [74], was bekanntermaßen zu negativen Auswirkungen auf deren körperliche und geistige Gesundheit geführt hat [59]. Dabei waren die Auswirkungen bei sozial benachteiligten bzw. kranken Kindern und Jugendlichen besonders groß, weswegen diese Auswirkungen auch bei Patienten mit ASD größer waren als bei normalentwickelten Kindern und Jugendlichen [6], [45], [65].
Beispielsweise verglich eine Studie die Mediennutzungsgewohnheiten von 26 Patienten mit ASD und 24 gesunden Kontrollen im Alter von 13–18 Jahren [1]. Die Ergebnisse zeigten Unterschiede bei der Nutzung und der Begründung der Nutzung zwischen den beiden Gruppen. Zwar war die mit sozialen Medien verbrachte Zeit in beiden Gruppen nicht verschieden, aber die Teilnehmer mit ASD unterschieden sich von den Jugendlichen ohne ASD sowohl in Bezug auf die bevorzugten Social-Media-Seiten (ASD: YouTube; Kontrollpersonen: Snapchat) als auch in Bezug auf die Gründe für die Nutzung. Mehr als 90 % der Teilnehmer ohne ASD gaben an, Social-Media-Seiten hauptsächlich für soziale Interaktionen zu nutzen, wohingegen knapp 60 % der Teilnehmer mit ASD Entertainment als Hauptgrund für die Wahl einer Social-Media-Seite angaben. Soziale Medien werden von ASD-Patienten also weniger in sozialer Hinsicht genutzt.
Bildschirme und virtueller Autismus
Bildschirme und virtueller Autismus
Der Terminus „virtueller Autismus“ wurde vor 6 Jahren von dem rumänischen Psychologen Marius Zamfir eingeführt. Der führte damals in Bukarest eine Kampagne zur Bewusstmachung der Gefahren übermäßiger, von kleinen Kindern vor Bildschirmmedien verbrachten Zeit. Während seiner mehr als 10-jährigen Arbeit im Bereich von Evaluation, Diagnose und Therapie autistischer Kinder war ihm aufgefallen, dass viele dieser Kinder sehr viel Zeit vor Bildschirmen verbracht hatten. Eine Reihe von Kinderpsychiatern und Psychologen verwendete den Terminus „virtueller Autismus“ seither, um das Phänomen zu beschreiben, dass Säuglinge, die viel Zeit mit Bildschirmen zubringen, wenige Jahre später Symptome von Autismus entwickeln können.
Es wird dabei angenommen, dass virtueller Autismus ähnliche Anzeichen wie ASD hervorruft, die sich im Allgemeinen um die Meilensteine der kindlichen Entwicklung drehen. Kinder, die von virtuellem Autismus betroffen sind, neigen vor allem dazu, Blickkontakt zu vermeiden, reagieren nicht, wenn ihr Name gerufen wird, haben eine sehr geringe Aufmerksamkeitsspanne und nehmen ihre Umgebung nicht mehr wahr, selbst wenn sie in Gesellschaft sind. Meistens sind diese Anzeichen für ihre Eltern, Kinderbetreuer oder Vorschullehrer sichtbar, besonders wenn sie mit Freunden oder Gleichaltrigen spielen.
In seiner Übersicht zu virtuellem Autismus hat der französische Kinderpsychiater Bruno Harlé [24] eine Reihe von Beschreibungen aus unterschiedlichen Ländern (Frankreich, Japan, Katar, Rumänien, USA, Thailand und Tunesien) wie folgt zusammengefasst: Die Kinder sind unter 4 Jahre alt, verbrachten ab dem ersten Lebensjahr täglich mindestens 4 Stunden – in vielen Fällen auch noch wesentlich mehr Zeit – mit Bildschirmmedien und entwickelten Symptome der ASD. Die Symptome waren jedoch meist innerhalb von Wochen bis Monaten rückläufig, sofern es gelang, den Medienkonsum zu stoppen. Hierzu musste man die Eltern des Kindes davon überzeugen, sämtliche Bildschirmmedien im Umfeld des Kindes zu entfernen und die Bildschirmzeit durch realen spielerischen Eltern-Kind-Kontakt zu ersetzen.
Aber braucht man die Unterscheidung überhaupt? – Genetische Determinanten der Sprache gibt es durchaus. Wenn jedoch während der Zeit der Sprachentwicklung mit Kindern nicht gesprochen wird, lernen sie ebenfalls, nicht zu sprechen. Bleibt es dabei und haben sie erst einmal etwa das 14. Lebensjahr erreicht, ist der Zustand irreversibel. Vor Bildschirmen kann man die Muttersprache nicht lernen, wie man schon länger weiß. Im Hinblick auf die Sprache ist mithin längst klar, dass sowohl genetische als auch Umweltfaktoren einen Einfluss auf ihre Entwicklung haben. Liegt die Störung erst einmal vor, besteht die Therapie im Üben – unabhängig davon, welche Faktoren im Einzelnen dazu geführt haben.
Aus meiner Sicht liegen die Dinge beim Autismus kaum anders. Damit wird auch klar, dass der Ausprägungsgrad einzelner Aspekte der Störung von deren Beginn abhängen muss: Beim frühkindlichen Autismus, der mit 10–12 Monaten beginnt, muss die Sprachentwicklung gestört sein; wenn der Autismus dagegen erst im vierten Lebensjahr beginnt, ist die Sprachentwicklung weitgehend erfolgt. Und das bedeutet u. a. Folgendes: Wenn im ersten Lebensjahr die Sprachentwicklung aufgrund ausbleibender Lernprozesse beeinträchtigt ist, zeigt sich dies im Alter von 3 Jahren als erhöhte Wahrscheinlichkeit, an ASD zu leiden (denn die verzögerte Sprachentwicklung ist ein wesentliches diagnostisches Kriterium).
Diskussion
Das Syndrom Autismus wurde vor etwa 80 Jahren erstmals, zunächst als schwere psychologisch verursachte Entwicklungsstörung mit Beeinträchtigung von Sozialverhalten, Kommunikation und Sprache sowie motorischen Stereotypien beschrieben. Vor 50 Jahren zeigten dann entsprechende Studien eine erhebliche genetische Komponente, und in den vergangenen 20 Jahren wurde die Neurobiologie der Störung in zunehmendem Maße aufgeklärt. Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung wird die ASD als Konnektom-Dysfunktion aufgefasst [78], d. h. als abweichende funktionelle Konnektivität im Gehirn, insbesondere im Default-Mode-Netzwerk (DMN). Diese Abweichungen im Konnektom des Gehirns konnten mit individuellen klinischen Symptomen [14] einschließlich der Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten [44] in Verbindung gebracht werden. Diese Studien haben Einblicke in das Verständnis der biologischen Grundlagen von ASD aus einer Netzwerkperspektive geliefert und erlauben darüber hinaus die gemeinsame Betrachtung genetischer und umweltbedingter Faktoren bei der Entstehung dieses Syndroms.
Bis vor weniger als 10 Jahren hatte man den Zusammenhang zwischen der mit Bildschirmmedien im Säuglings- und Kleinkindalter verbrachten Zeit und Autismus nicht auf dem Radarschirm. Mittlerweile ergab eine größere Zahl von Studien, die mit Kindern zwischen 0 und 4 Jahren durchgeführt wurden, dass Säuglinge und Kleinkinder, die zu viel Zeit vor Bildschirmen wie Fernsehern, Mobiltelefonen, Tablets und Computern verbrachten, dazu neigen, Symptome zu entwickeln, die einer ASD ähneln. Bei 1-Jährigen, die auf Bildschirme schauen, ist das Risiko, autismusähnliche Symptome zu entwickeln, um 4,2 % höher als bei Kindern, die mit ihrer Familie spielen, wie eine japanische Studie zeigte.
Trotz der Empfehlung der American Academy of Pediatrics, dass Kinder unter 2 Jahren nicht mit Bildschirmen in Berührung kommen sollten und dass die Bildschirmzeit für 2- bis 5-Jährige auf eine Stunde pro Tag begrenzt werden sollte, sind in der westlichen Welt die meisten Kleinkinder den verschiedensten Bildschirmmedien offensichtlich deutlich länger als einer Stunde ausgesetzt. Ist es ein Zufall, dass die exponentiell ansteigende Prävalenz des Autismus parallel zu der steigenden Zeit verläuft, die kleine Kinder vor dem Bildschirm verbringen? – Ich glaube nicht.
Wir leben im „digitalen Zeitalter“ und ein Leben ohne Smartphone, Laptop oder Tablet kann sich kaum noch jemand vorstellen. Viele junge Eltern nutzen diese Geräte auch, um ihre Babys zu beruhigen, vom Abspielen von Kinderliedern bis zum Ansehen von Zeichentrickfilmen. Fast jeden Tag hören oder lesen wir, dass Kleinkinder intelligent genug sind, um Handys zu entsperren oder Anwendungen selbstständig zu öffnen. All dies wird von einer übergroßen Lobby – tatsächlich der mit weitem Abstand finanzstärksten Lobby der Welt – als Beleg dafür angeführt, dass Kleinkinder in ihrer intellektuellen Entwicklung vom Umgang mit Bildschirmmedien profitieren. Demgegenüber haben Mediziner, Entwicklungsneurobiologen und Psychologen und Kinderpsychologen längst das genaue Gegenteil davon in einer großen Zahl methodisch aufwändig durchgeführter Studien nachgewiesen. Es wird höchste Zeit, dass wir diese Erkenntnisse ernst nehmen und danach handeln. Bildschirmmedien schaden Säuglingen, Kleinkindern, Vorschulkindern und Grundschulkindern massiv und haben in diesem Alter keinerlei nachgewiesenen Nutzen [62]. Wer einem Kleinkind ein Smartphone oder Tablet gibt, muss wissen, dass er damit dessen normaler, gesunder Entwicklung schadet.
Ein Letztes: Wie können Sie Ihre Kleinsten schützen? – Die gute Nachricht für Eltern ist, dass Sie, wenn Sie diese Symptome bei Ihrem Kleinkind erkennen, noch eine Chance auf eine schnelle Genesung haben. Kinderpsychologen raten, die tägliche Bildschirmzeit so weit wie möglich einzuschränken und vermehrt menschliche Kontakte herzustellen, um für Ablenkung zu sorgen und die sozialen Verarbeitungsprozesse zu fördern. Das Aufstellen von Regeln in Bezug auf das Fernsehen und andere digitale Geräte hilft, Ihr Kind zu kontrollieren, und die Belohnung Ihres kleinen Schatzes, wenn er oder sie sich an diese Regeln hält, wirkt sich positiv auf sein Verhalten aus. Außerdem sollten wir als liebevolle Eltern einen Teil unseres Tages dafür reservieren, uns mit unseren Kindern zu beschäftigen und Zeit mit ihnen zu verbringen, was nicht nur zur Entwicklung gesunder Beziehungen beiträgt, sondern Ihnen auch ein besseres Gleichgewicht zwischen Beruf und Privatleben ermöglicht.