Zusammenfassung
Autismus ist eine durch genetische und umweltbedingte Faktoren verursachte Störung
der Gehirnentwicklung im frühen Kindesalter. Es gibt verschiedene Schweregrade, von
leichten sozialen Defiziten (manchmal in Kombination mit besonderen Fähigkeiten wie
Kopfrechnen oder eidetischem Vorstellungsvermögen) bis hin zur schweren geistigen
Behinderung und lebenslanger deutlicher Beeinträchtigung. In den letzten 50 Jahren
ist die Prävalenz von Autismus von einem Fall auf 5000 auf einen Fall von 44 Kindern
exponentiell gestiegen. Für dieses Phänomen wurden mehrere Ursachen vorgeschlagen
– von einer Ausweitung des Krankheitskonzepts und einer Zunahme des Wissens über und
Bewusstseins für die Krankheit bis hin zu einer tatsächlichen Zunahme der Störung,
die durch die Elternschaft in einem späteren Alter verursacht wird. Experten sind
sich jedoch einig darüber, dass etwa die Hälfte dieses dramatischen Anstiegs – um
mehr als das 100-Fache – ungeklärt ist. Ausgehend von den jüngsten Beobachtungen eines
Zusammenhangs zwischen der frühen Nutzung von Bildschirmmedien und der Entwicklung
autistischer Symptome wird hier argumentiert, dass ein zentrales Merkmal der heutigen
Umwelt von Kleinkindern, die digitalen Bildschirmmedien, den gemeldeten Anstieg der
Prävalenz mit erklären könnte.
Einleitung
Stellen Sie sich einmal vor, die Häufigkeit von Schlaganfällen, Blinddarmentzündungen
oder Magenkrebs hätte sich in den letzten 50 Jahren verhundertfacht: Das würde zu
kritischem Nachfragen und der Forderung nach wissenschaftlicher Aufklärung und wahrscheinlich
auch zu ziemlich viel Aufregung und Bestürzung führen. Nun gibt es eine im Kindesalter
auftretende, meist zu lebenslanger Behinderung unterschiedlichen Grades führende Störung
der Entwicklung, für die eine solche explosionsartig verlaufende Veränderung der Auftretenshäufigkeit
tatsächlich beschrieben wurde: Autismus.
Mit dem Wort Autismus wird etwa seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts eine Störung
der kindlichen Entwicklung bezeichnet, die sich im ersten bis vierten Jahr nach der
Geburt zeigt, vor allem den (zwischenmenschlichen) Kontakt, die Kommunikation mit
anderen Menschen (Sprachentwicklung) und die motorische Entwicklung betrifft ([
Abb. 1
]). Das Kind reagiert nicht oder nur verzögert auf Ansprache, wendet sich nicht zu,
nimmt keinen Blickkontakt auf, interessiert sich mehr für Sachen als für Menschen
und neigt zum Wiederholen der immer gleichen Verhaltensweisen. Zu den Störungen der
Grob- und Feinmotorik gehören ungelenke sowie stereotype, repetitive und bedeutungslose
Bewegungen wie z. B. Schaukeln des Körpers, sowie Störungen von Mimik und Gestik (ausdruckslos
bzw. von der Kommunikation entkoppelt). Hinzu kommen oft Störungen der Wahrnehmung
sowie des Verhaltens, von sehr häufigen Schwierigkeiten beim Essen bis hin zu heftigen
Wutausbrüchen mit Schreien, Schlagen und Selbstverletzungen. Die intellektuelle Entwicklung
und die Sprachentwicklung können normal sein, oder einzeln oder beide gestört sein
[60], [61].
Abb. 1 Die Symptome der Autismus-Spektrum-Störung können in erster Näherung in 3 sich überlappende
Gruppen eingeteilt werden (nach Daten aus [9]). Jedes einzelne Symptom kann mehr oder weniger stark ausgeprägt sein, d. h. der
Übergang zur Normalität ist fließend. Im Kern besteht die Störung in einer Verminderung
von mentalistischem Denken, Fühlen und Verhalten, womit gemeint ist, dass der andere
nicht als Subjekt, sondern als Objekt begriffen wird. Nur zwischen 2 Subjekten kann
sich soziale Reziprozität, Sprache und Kommunikation entwickeln. Geschieht dies nicht,
kommt es zu Fehlentwicklungen, die durch fehlende Flexibilität (immer wieder das Gleiche
reflexhaft denken, sagen und tun) gekennzeichnet ist.
Unterschied man früher den schweren, meist im ersten Lebensjahr auftretenden, oft
mit Intelligenzminderung einhergehenden frühkindlichen Autismus nach Kanner und das
leichtgradigen, zuweilen mit Sonderbegabungen kombinierte und meist nach dem dritten
Lebensjahr auftretende Asperger-Syndrom (von Asperger zunächst „autistische Persönlichkeit“
genannt), so wird seit gut 2 Jahrzehnten von einem Spektrum gesprochen: Die Krankheit
heißt „offiziell“ Autismus-Spektrum-Störung (Disorder) – international abgekürzt ASD.
Sowohl die Klinik (Schwere, Verteilung und Verlauf der unterschiedlichen Symptome)
als auch die mittlerweile immer besser bekannte Genetik des Autismus sprechen für
ein solches Spektrum.
Prävalenz: Enormer Anstieg – ungeklärt
Prävalenz: Enormer Anstieg – ungeklärt
Das US-amerikanische Center for Disease Control and Prevention (CDC) gibt die Prävalenz
von ASD bei Kindern im Alter von 8 Jahren für das Jahr 2018 mit 23 von 1000 an (bzw.
1 von 44 Kindern), wobei Jungen 4,2-fach häufiger betroffen sind als Mädchen. Auch
gibt es in den USA erhebliche regionale Unterschiede: Die Prävalenz reicht von 16,5
pro 1000 in Missouri bis zu 38,9 pro 1000 in Kalifornien [40]. Die Häufigkeit von ASD hat sich damit von 1975, wo sie bei einem Fall unter 5000
Kindern lag, auf einen Fall unter 44 Kindern im Jahr 2018 gesteigert ([
Abb. 2
]), d. h. in einem Zeitraum von 43 Jahren mehr als verhundertfacht [54].
Abb. 2 Die Prävalenz von ASD bei Kindern im Alter von 8 Jahren hat sich innerhalb von 43
Jahren mehr als verhundertfacht. Die Daten bis 2009 entstammen der Übersicht von Weintraub
[69], die Werte für 2012, 2014 und 2018 wurden vom CDC publiziert, zuletzt Ende des Jahres
2021 [40].
Kein geringerer als der „Vater der britischen Kinderpsychiatrie“ [2], der 2021 verstorbene Sir Michael Rutter (1933–2021), machte sich bereits vor 18
Jahren Gedanken über die (damals erst etwa 15-fache) Zunahme des Vorkommens von ASD
[51]. Die von ihm identifizierten Gründe sind:
-
Eine verbreiterte Konzeption von Autismus, die auch leichtere Fälle miteinschließt.
Dies hat die Häufigkeit der Diagnosen etwa vervierfacht. Hierbei spielte die britische
Psychiaterin Lorna Wing (1928–2014) eine große Rolle, die eine autistische Tochter
hatte und sich aus diesem Grund mit den Arbeiten von Asperger befasste. Sie übersetzte
seine Arbeiten, wodurch die – wenn auch sehr späte – Rezeption von dessen Arbeiten
im angloamerikanischen Sprachraum überhaupt erst erfolgte [72]. Auch die Tatsache, dass in neueren Studien der Prozentsatz der Intelligenzminderung
unter Menschen mit ASD deutlich geringer ist, spricht für eine Verbreiterung des Autismuskonzepts
mit Einschluss leichterer Fälle. Hierzu bemerkt Rutter klar: „Obwohl bei allen ASD-Varianten
ein erheblicher Anstieg zu verzeichnen ist, scheint dieser bei denjenigen mit normalem
nonverbalen IQ am größten gewesen zu sein. Dies impliziert eine Ausweitung der diagnostischen
Kriterien“ [51].
-
Große Studien an jeweils mehr als 10000 Kindern, die alle untersucht wurden, um durch
ein gestuftes Verfahren Kinder mit ASD „herauszufiltern“, ergaben durchweg höhere
Häufigkeiten als man zunächst dadurch gefunden hatte, dass man nur diejenigen Kinder
berücksichtigte, die zum Arzt gebracht wurden. Es gab also in der Zeit vor diesen
Studien offensichtlich eine erhebliche Dunkelziffer. Auch hierdurch allein dürfte
die Zahl der Fälle von ASD auf das 3- bis 4-Fache des früher angenommenen Wertes angestiegen
sein.
-
Noch in den 1960er- und 1970er-Jahren war Autismus kaum bekannt und es gab daher auch
wenige Ärzte, die diagnostisch auf der Höhe der Zeit waren. Ähnlich wie bei den Aufmerksamkeitsstörungen
sorgte also erst eine größere Bekanntheit des klinischen Bildes für einen Anstieg
der Diagnosen. Die Größe dieses Effektes in Zahlen ist schwer abzuschätzen.
-
Es gab schließlich begriffliche Veränderungen: (a) Die Erstbeschreiber vermuteten
eine psychologische Verursachung des Autismus und stellten aus diesem Grund die Diagnose
Autismus nur dann, wenn eine schwere Intelligenzminderung oder hirnorganische Veränderungen
nicht vorlagen (z. B. beim Down-Syndrom). Dies änderte sich jedoch mit der Zeit, sodass
Rutter zufolge mindestens 10 % des Anstiegs der Diagnosen auf dieser Grundlage zu
erklären sind. (b) Bei etwa 50 % der Kinder mit frühkindlichem Autismus findet man
weitere somatische Diagnosen, und zu Beginn der Autismusbeschreibungen wurden auch
diese Kinder von der Diagnose aus diesem Grund ausgeschlossen. Zwischenzeitlich hatte
sich jedoch geklärt, dass es sich beim Autismus um ein biologisches Entwicklungsdefizit
handelt, sodass allein der Hinweis auf eine zugrunde liegende biologische Störung
kein Ausschlusskriterium mehr darstellte.[
1
] (c) Seit der ersten genetischen Studie an 21 gleichgeschlechtlichen Zwillingspaaren
(11 eineiig und 10 zweieiig), bei denen mindestens ein Zwilling einen frühkindlichen
Autismus aufwies, zeigte sich eine hohe Heritabilität [16].[
2
] Weitere Studien belegten, dass bei Geschwistern von Patienten mit relativ schwerem
ASD einzelne Symptome oder mildere Formen von ASD gehäuft vorkommen [5], was ebenfalls für eine sehr deutliche erbliche Komponente spricht.
„Betrachtet man der Gesamtheit der Erkenntnisse, so kann kein Zweifel daran bestehen,
dass ein wesentlicher Teil des Anstiegs der Fälle von ASD auf eine Kombination aus
besserer Erfassung einerseits und der Erweiterung des diagnostischen Konzepts andererseits
zurückzuführen ist. Es lässt sich jedoch nicht feststellen, ob diese Faktoren für
den gesamten Anstieg der Häufigkeit von Autismus verantwortlich sind. Als diese Frage
auf einem internationalen Expertentreffen[
3
] erörtert wurde, herrschte Einigkeit darüber, dass keine eindeutigen Schlussfolgerungen
möglich sind. [… Es] bleibt die Möglichkeit bestehen, dass es darüber hinaus einen
echten Anstieg gegeben hat, der nicht einfach eine Folge von Änderungen in der Methodik
ist“ beurteilte Rutter im Jahr 2005 (S. 7) abschließend die Lage [51].
Danach ging der Anstieg ungebremst weiter, wie aus einer im Fachblatt Nature vor 12
Jahren erschienenen Übersicht [69] sowie den neueren vom CDC publizierten Daten entnommen werden kann [40]. Auch die Nature-Übersicht stellt klar, dass eine größere Bekanntheit der Diagnose
und eine breitere Definition für einen Teil des beobachteten Anstiegs verantwortlich
sind. Weiterhin werden lokale Häufungen (weil z. B. Nachbarn sich gegenseitig informieren),
bessere Hilfsangebote für autistische Kindern (mit der Folge, dass die Diagnose einer
schweren psychiatrischen Krankheit nicht mehr als Stigma, sondern als finanzieller
Vorteil angesehen und daher aktiv gesucht wird), sowie das Älterwerden von Eltern
(mit einer dadurch bedingten höheren Wahrscheinlichkeit, ein autistisches Kind zu
bekommen) diskutiert. Die Nature-Übersicht macht aber auch klar, dass diese Rechnung
nicht vollständig aufgeht ([
Abb. 3
]). „Wenn sich der Anstieg des Autismus hauptsächlich durch zunehmende Sensibilisierung,
Diagnose und soziale Faktoren erklären ließe, dann waren die dazu beitragenden Umweltfaktoren
schon immer vorhanden – vielleicht eine zu einem ungünstigen Zeitpunkt in der Schwangerschaft
aufgetretene Infektion oder irgendein Ernährungsdefizit. Wenn sich der Anstieg jedoch
nicht wegdiskutieren lässt – und zumindest ein Teil des Anstiegs ,real‘ ist –, dann
müssen neue Faktoren die Ursache sein, die von der Wissenschaft dringend aufgeklärt
werden sollten“ [69].
Abb. 3 Gründe für die Zunahme der Diagnose Autismus in den vergangenen Jahrzehnten (Grafik
nach [69], mit Daten aus [76], [77]). Knapp die Hälfte des Anstiegs der Häufigkeit der Diagnose „Autismus“ über die
letzten Jahrzehnte ist unaufgeklärt.
Genetik
In genetischer Hinsicht gibt es einerseits seltene, monogen und mit hoher Penetranz
vererbte Syndrome, die Symptome beinhalten, welche auch bei Autismus bestehen, die
man jedoch nicht unter die Spektrum-Störung einordnet. Die große Mehrheit der Fälle
von ASD (wenn nicht alle, sofern man alles andere tatsächlich ausschließt) ist durch
eine Vielzahl von (wahrscheinlich mehr als 1000) Genen mit jeweils nur sehr geringem
Einfluss (unter 1 %) verursacht [11]. Vererbt wird also nicht die Krankheit ASD, sondern eine bestimmte Wahrscheinlichkeit,
diese Krankheit zu bekommen – ein Sachverhalt, der für die meisten häufigen psychiatrischen
Erkrankungen zutrifft. Die Angaben zur Größe der durch genetische bzw. umweltbedingte
Faktoren erklärten Varianz des Auftretens von ASD schwanken erheblich, wobei weitgehend
Einigkeit darüber besteht, dass der genetische Anteil vergleichsweise größer ist.
Die Wahrscheinlichkeit, an ASD zu erkranken, wenn ein Geschwister bereits erkrankt
ist, liegt bei 10–15%. Allerdings erkranken Jungen etwa 4-mal häufiger als Mädchen,
weswegen man von einem „female protective effect“ (FPE; übersetzt etwa: schützende
Auswirkung von Weiblichkeit) spricht [23]. Erkrankte Mädchen müssen daher eine höhere genetische Belastung (weil sie trotz
FPE erkrankt sind) aufweisen, was sich tatsächlich daran zeigt, dass deren Brüder
mit höherer Wahrscheinlichkeit an ASD leiden als die Brüder erkrankter Jungen [64].
Umweltfaktoren
Die Entwicklung von Autismus erfolgt nicht völlig eigengesetzlich allein nach einem
vorgegebenen genetischen Programm. Vielmehr wurde schon in Leo Kanners 28-Jahre-Katamnese
der 11 Patienten aus seiner Erstbeschreibung klar, dass Umweltfaktoren und damit Lernprozesse
den Verlauf der Erkrankung positiv oder negativ beeinflussen können [33], [34]. Auch die Erkenntnisse von Studien aus den letzten 2 Jahrzehnten legen nahe, dass
eine Intervention vor dem Auftreten von ASD-Symptomen zu besseren Entwicklungsergebnissen
führen kann. Zudem deuten klinische Studien darauf hin, dass die therapeutischen Ergebnisse
umso besser sind, je früher die Intervention durchgeführt wird. Man sollte also nicht
abwarten, bis sich das Vollbild des Autismus entwickelt hat, sondern bei Risikokindern
(d. h. jüngeren Geschwistern eines Kindes mit ASD) früh mit therapeutischen Maßnahmen
beginnen.
Wie bereits erwähnt, gehört eine verminderte Neigung zur Herstellung von Blickkontakt
zu den Symptomen von ASD. In einer Langzeitstudie an 59 Säuglingen mit hohem Risiko
für ASD und 51 Säuglingen mit geringem Risiko, ASD zu entwickeln, wurde die Entwicklung
der Augenbewegungen in den ersten 3 Lebensjahren untersucht [30]. Bei Kindern, bei denen später Autismus diagnostiziert wurde, war der Augenkontakt
nach der Geburt normal, nahm jedoch kurz nach dem zweiten Lebensmonat ab. Diese Ergebnisse
führten zu weiteren Studien [17], die diese Auffälligkeit als eine der frühesten Manifestationen von Autismus nachweisen
und als frühen diagnostischen Marker etablieren konnten [70].
Eine multidisziplinäre Gruppe von Experten diskutieren den konzeptionellen Rahmen
für Verhaltensinterventionen in der präsymptomatischen Periode vor der Konsolidierung
der Symptome zu einer Diagnose bei Säuglingen ab einem Alter von 6 Monaten [21]. Aus entwicklungsneurobiologischer Sicht erscheinen solche frühen Interventionen
sinnvoll, jedoch fehlen belastbare Daten zur Wirksamkeit.
Die Auffassung von Autismus als „Spektrum“ mit mehr oder weniger starken genetischen
und umweltbedingten Belastungsfaktoren hat den Vorteil, dass man Präventionsmaßnahmen
in den Blick nehmen kann, die sich auf die Verminderung von ungünstigen Umweltfaktoren
beziehen. Genau an dieser Stelle kommen die Erfahrungen zu Bildschirmmediennutzung
und der Entwicklung von Sozialverhalten ins Spiel.
Schon lange ist bekannt, dass die vor dem Bildschirm verbrachte Zeit sich negativ
auf die kindliche Entwicklung auswirkt, wobei sowohl die kognitive als auch die psychosoziale
Entwicklung betroffen ist. Neuere Längsschnittuntersuchungen gehen über Korrelationen
hinaus und weisen deutlich auf einen kausalen Zusammenhang hin [15], [39]. So beeinflusst die Bildschirmzeit im Vorschulalter von 2 bzw. 3 Jahren die kognitive
Entwicklung 1 bzw. 2 Jahre später deutlich, wie eine Längsschnittstudie an 2441 Müttern
und deren Kindern ergab [39]. Ebenfalls im Rahmen einer prospektiven Langzeitstudie an 7450 Kindern aus der Early
Childhood Longitudinal Study-Birth Cohort Study zeigte sich ein Zusammenhang zwischen
Medienexposition (Fernseh- und Videokonsum) im Alter von 2 Jahren und Selbstregulationsproblemen
im späteren Lebensalter [49]. Der Zusammenhang war in Haushalten mit niedrigem sozioökonomischem Status stärker
ausgeprägt.
Bildschirme und ASD-Symptome
Bildschirme und ASD-Symptome
Ältere Studien hatten keinen Zusammenhang zwischen Bildschirmmedienkonsum und Autismus
gefunden [43], was möglicherweise daran lag, dass erst die große Verbreitung von Smartphones und
Tablets in Familien während der vergangenen 5–10 Jahre und vor allem die von Säuglingen
und Kleinkindern mit ihnen verbrachte Zeit solche dramatischen Auswirkungen nach sich
ziehen konnten. Anders gewendet: Schon früher wurden Fernseher, Playstation oder Computer
als Babysitter eingesetzt, aber erst in den letzten Jahren verbringen Kleinkinder
zusätzlich sehr viel Zeit mit Smartphones und Tablets. Dadurch hat sich die Datenlage
geändert, sodass vor allem Arbeiten aus den vergangenen 5 Jahren den Zusammenhang
zwischen Bildschirmzeit im Säuglingsalter und Autismus ab 3 Jahren klar und deutlich
beschreiben.
Aus dem Jahr 2021 stammt eine Studie mit dem Titel „Correlation Between Screen Time
and Autistic Symptoms as well as Developmental Quotients in Children with Autism Spectrum
Disorder“ (Korrelation zwischen Bildschirmzeit und autistischen Symptomen sowie Entwicklungsquotienten
bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung), die in Frontiers in Psychiatry veröffentlicht
wurde. Untersucht wurden 158 Kinder, 101 Kinder mit diagnostizierter ASD und 57 Kinder
mit normaler Entwicklung. Die Forscher analysierten das Ausmaß der Bildschirmexposition
in beiden Gruppen und den Zusammenhang mit ASD-Einstufungsergebnissen. Die Studie
nennt 2 Hauptergebnisse:
-
Die Bildschirmzeit von Kindern mit ASD war länger als die von Kindern mit normaler
Entwicklung.
-
Die Bildschirmzeit stand im klaren Zusammenhang mit autistischen Symptomen und den
Entwicklungsquotienten (DQ) der Kinder mit ASD: „Je länger die Bildschirmzeit, desto
deutlicher die autismusähnlichen Symptome“. Eine längere Bildschirmzeit führte zu
kürzerer Spielzeit, kürzerer Zeit für die Begleitung durch Betreuungspersonen und
kürzerer Zeit für soziale Interaktionen. Außerdem stand die Bildschirmzeit in Zusammenhang
mit der Sprachentwicklung der Kinder: „Je jünger das Alter und je länger die Bildschirmzeit,
desto gravierender die Auswirkungen auf die Sprachentwicklung“.
Eine Studie an rund 84 030 japanischen Familien ergab, dass die Wahrscheinlichkeit
für Jungen, im Alter von 3 Jahren Symptome einer ASD zu zeigen, umso größer ist, je
mehr Zeit sie im Alter von einem Jahr vor Bildschirmen verbrachten. Für Mädchen wurde
dieser Zusammenhang nicht gefunden [36]. In der Studie gaben etwa 330 Mütter an, dass bei ihrem Kind im Alter von 3 Jahren
Autismus diagnostiziert worden war, was einer Prävalenz von etwa 0,4 % entspricht.
Es gab 3-mal so viele autistische Jungen wie autistische Mädchen, und der Anteil der
Kinder mit Autismus stieg laut der Studie mit zunehmender Bildschirmzeit.
Eine Übersichtsarbeit zum Zusammenhang von Autismus und dem Konsum von Bildschirmmedien
wurde bereits 3 Jahre zuvor publiziert [56]. In den 16 ausgewählten und ausgewerteten Studien zeigte sich erstens mehr Bildschirmmedienkonsum
bei Kindern mit ASD im Vergleich zu normalen Kindern und zweitens vergleichsweise
früherer Bildschirmmedienkonsum. Auch zeigten sich ungünstige Auswirkungen, wenn Bildschirmmedien
zur Beruhigung der Kinder eingesetzt wurden. Insgesamt kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt
(Frühjahr 2023) festgestellt werden, dass die ungünstigen Auswirkungen von mehr Bildschirmzeit
im Alter von 0–3 Jahren auf die kindliche Entwicklung im Allgemeinen und die Ausbildung
von Symptomen von ASD im Besonderen gut belegt sind.
Corona, Bildschirme und Autismus
Corona, Bildschirme und Autismus
Schulschließungen, soziale Distanzierung und andere Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie
im Jahr 2020 haben zu einem massiven Anstieg der von Kindern und Jugendlichen vor
Bildschirmmedien verbrachten Zeit geführt [46], [48], [74], was bekanntermaßen zu negativen Auswirkungen auf deren körperliche und geistige
Gesundheit geführt hat [59]. Dabei waren die Auswirkungen bei sozial benachteiligten bzw. kranken Kindern und
Jugendlichen besonders groß, weswegen diese Auswirkungen auch bei Patienten mit ASD
größer waren als bei normalentwickelten Kindern und Jugendlichen [6], [45], [65].
Beispielsweise verglich eine Studie die Mediennutzungsgewohnheiten von 26 Patienten
mit ASD und 24 gesunden Kontrollen im Alter von 13–18 Jahren [1]. Die Ergebnisse zeigten Unterschiede bei der Nutzung und der Begründung der Nutzung
zwischen den beiden Gruppen. Zwar war die mit sozialen Medien verbrachte Zeit in beiden
Gruppen nicht verschieden, aber die Teilnehmer mit ASD unterschieden sich von den
Jugendlichen ohne ASD sowohl in Bezug auf die bevorzugten Social-Media-Seiten (ASD:
YouTube; Kontrollpersonen: Snapchat) als auch in Bezug auf die Gründe für die Nutzung.
Mehr als 90 % der Teilnehmer ohne ASD gaben an, Social-Media-Seiten hauptsächlich
für soziale Interaktionen zu nutzen, wohingegen knapp 60 % der Teilnehmer mit ASD
Entertainment als Hauptgrund für die Wahl einer Social-Media-Seite angaben. Soziale
Medien werden von ASD-Patienten also weniger in sozialer Hinsicht genutzt.
Bildschirme und virtueller Autismus
Bildschirme und virtueller Autismus
Der Terminus „virtueller Autismus“ wurde vor 6 Jahren von dem rumänischen Psychologen
Marius Zamfir eingeführt. Der führte damals in Bukarest eine Kampagne zur Bewusstmachung
der Gefahren übermäßiger, von kleinen Kindern vor Bildschirmmedien verbrachten Zeit.
Während seiner mehr als 10-jährigen Arbeit im Bereich von Evaluation, Diagnose und
Therapie autistischer Kinder war ihm aufgefallen, dass viele dieser Kinder sehr viel
Zeit vor Bildschirmen verbracht hatten. Eine Reihe von Kinderpsychiatern und Psychologen
verwendete den Terminus „virtueller Autismus“ seither, um das Phänomen zu beschreiben,
dass Säuglinge, die viel Zeit mit Bildschirmen zubringen, wenige Jahre später Symptome
von Autismus entwickeln können.
Es wird dabei angenommen, dass virtueller Autismus ähnliche Anzeichen wie ASD hervorruft,
die sich im Allgemeinen um die Meilensteine der kindlichen Entwicklung drehen. Kinder,
die von virtuellem Autismus betroffen sind, neigen vor allem dazu, Blickkontakt zu
vermeiden, reagieren nicht, wenn ihr Name gerufen wird, haben eine sehr geringe Aufmerksamkeitsspanne
und nehmen ihre Umgebung nicht mehr wahr, selbst wenn sie in Gesellschaft sind. Meistens
sind diese Anzeichen für ihre Eltern, Kinderbetreuer oder Vorschullehrer sichtbar,
besonders wenn sie mit Freunden oder Gleichaltrigen spielen.
In seiner Übersicht zu virtuellem Autismus hat der französische Kinderpsychiater Bruno
Harlé [24] eine Reihe von Beschreibungen aus unterschiedlichen Ländern (Frankreich, Japan,
Katar, Rumänien, USA, Thailand und Tunesien) wie folgt zusammengefasst: Die Kinder
sind unter 4 Jahre alt, verbrachten ab dem ersten Lebensjahr täglich mindestens 4
Stunden – in vielen Fällen auch noch wesentlich mehr Zeit – mit Bildschirmmedien und
entwickelten Symptome der ASD. Die Symptome waren jedoch meist innerhalb von Wochen
bis Monaten rückläufig, sofern es gelang, den Medienkonsum zu stoppen. Hierzu musste
man die Eltern des Kindes davon überzeugen, sämtliche Bildschirmmedien im Umfeld des
Kindes zu entfernen und die Bildschirmzeit durch realen spielerischen Eltern-Kind-Kontakt
zu ersetzen.
Aber braucht man die Unterscheidung überhaupt? – Genetische Determinanten der Sprache
gibt es durchaus. Wenn jedoch während der Zeit der Sprachentwicklung mit Kindern nicht
gesprochen wird, lernen sie ebenfalls, nicht zu sprechen. Bleibt es dabei und haben
sie erst einmal etwa das 14. Lebensjahr erreicht, ist der Zustand irreversibel. Vor
Bildschirmen kann man die Muttersprache nicht lernen, wie man schon länger weiß. Im
Hinblick auf die Sprache ist mithin längst klar, dass sowohl genetische als auch Umweltfaktoren
einen Einfluss auf ihre Entwicklung haben. Liegt die Störung erst einmal vor, besteht
die Therapie im Üben – unabhängig davon, welche Faktoren im Einzelnen dazu geführt
haben.
Aus meiner Sicht liegen die Dinge beim Autismus kaum anders. Damit wird auch klar,
dass der Ausprägungsgrad einzelner Aspekte der Störung von deren Beginn abhängen muss:
Beim frühkindlichen Autismus, der mit 10–12 Monaten beginnt, muss die Sprachentwicklung
gestört sein; wenn der Autismus dagegen erst im vierten Lebensjahr beginnt, ist die
Sprachentwicklung weitgehend erfolgt. Und das bedeutet u. a. Folgendes: Wenn im ersten
Lebensjahr die Sprachentwicklung aufgrund ausbleibender Lernprozesse beeinträchtigt
ist, zeigt sich dies im Alter von 3 Jahren als erhöhte Wahrscheinlichkeit, an ASD
zu leiden (denn die verzögerte Sprachentwicklung ist ein wesentliches diagnostisches
Kriterium).
Diskussion
Das Syndrom Autismus wurde vor etwa 80 Jahren erstmals, zunächst als schwere psychologisch
verursachte Entwicklungsstörung mit Beeinträchtigung von Sozialverhalten, Kommunikation
und Sprache sowie motorischen Stereotypien beschrieben. Vor 50 Jahren zeigten dann
entsprechende Studien eine erhebliche genetische Komponente, und in den vergangenen
20 Jahren wurde die Neurobiologie der Störung in zunehmendem Maße aufgeklärt. Nach
dem gegenwärtigen Stand der Forschung wird die ASD als Konnektom-Dysfunktion aufgefasst
[78], d. h. als abweichende funktionelle Konnektivität im Gehirn, insbesondere im Default-Mode-Netzwerk
(DMN). Diese Abweichungen im Konnektom des Gehirns konnten mit individuellen klinischen
Symptomen [14] einschließlich der Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten [44] in Verbindung gebracht werden. Diese Studien haben Einblicke in das Verständnis
der biologischen Grundlagen von ASD aus einer Netzwerkperspektive geliefert und erlauben
darüber hinaus die gemeinsame Betrachtung genetischer und umweltbedingter Faktoren
bei der Entstehung dieses Syndroms.
Bis vor weniger als 10 Jahren hatte man den Zusammenhang zwischen der mit Bildschirmmedien
im Säuglings- und Kleinkindalter verbrachten Zeit und Autismus nicht auf dem Radarschirm.
Mittlerweile ergab eine größere Zahl von Studien, die mit Kindern zwischen 0 und 4
Jahren durchgeführt wurden, dass Säuglinge und Kleinkinder, die zu viel Zeit vor Bildschirmen
wie Fernsehern, Mobiltelefonen, Tablets und Computern verbrachten, dazu neigen, Symptome
zu entwickeln, die einer ASD ähneln. Bei 1-Jährigen, die auf Bildschirme schauen,
ist das Risiko, autismusähnliche Symptome zu entwickeln, um 4,2 % höher als bei Kindern,
die mit ihrer Familie spielen, wie eine japanische Studie zeigte.
Trotz der Empfehlung der American Academy of Pediatrics, dass Kinder unter 2 Jahren
nicht mit Bildschirmen in Berührung kommen sollten und dass die Bildschirmzeit für
2- bis 5-Jährige auf eine Stunde pro Tag begrenzt werden sollte, sind in der westlichen
Welt die meisten Kleinkinder den verschiedensten Bildschirmmedien offensichtlich deutlich
länger als einer Stunde ausgesetzt. Ist es ein Zufall, dass die exponentiell ansteigende
Prävalenz des Autismus parallel zu der steigenden Zeit verläuft, die kleine Kinder
vor dem Bildschirm verbringen? – Ich glaube nicht.
Wir leben im „digitalen Zeitalter“ und ein Leben ohne Smartphone, Laptop oder Tablet
kann sich kaum noch jemand vorstellen. Viele junge Eltern nutzen diese Geräte auch,
um ihre Babys zu beruhigen, vom Abspielen von Kinderliedern bis zum Ansehen von Zeichentrickfilmen.
Fast jeden Tag hören oder lesen wir, dass Kleinkinder intelligent genug sind, um Handys
zu entsperren oder Anwendungen selbstständig zu öffnen. All dies wird von einer übergroßen
Lobby – tatsächlich der mit weitem Abstand finanzstärksten Lobby der Welt – als Beleg
dafür angeführt, dass Kleinkinder in ihrer intellektuellen Entwicklung vom Umgang
mit Bildschirmmedien profitieren. Demgegenüber haben Mediziner, Entwicklungsneurobiologen
und Psychologen und Kinderpsychologen längst das genaue Gegenteil davon in einer großen
Zahl methodisch aufwändig durchgeführter Studien nachgewiesen. Es wird höchste Zeit,
dass wir diese Erkenntnisse ernst nehmen und danach handeln. Bildschirmmedien schaden
Säuglingen, Kleinkindern, Vorschulkindern und Grundschulkindern massiv und haben in
diesem Alter keinerlei nachgewiesenen Nutzen [62]. Wer einem Kleinkind ein Smartphone oder Tablet gibt, muss wissen, dass er damit
dessen normaler, gesunder Entwicklung schadet.
Ein Letztes: Wie können Sie Ihre Kleinsten schützen? – Die gute Nachricht für Eltern
ist, dass Sie, wenn Sie diese Symptome bei Ihrem Kleinkind erkennen, noch eine Chance
auf eine schnelle Genesung haben. Kinderpsychologen raten, die tägliche Bildschirmzeit
so weit wie möglich einzuschränken und vermehrt menschliche Kontakte herzustellen,
um für Ablenkung zu sorgen und die sozialen Verarbeitungsprozesse zu fördern. Das
Aufstellen von Regeln in Bezug auf das Fernsehen und andere digitale Geräte hilft,
Ihr Kind zu kontrollieren, und die Belohnung Ihres kleinen Schatzes, wenn er oder
sie sich an diese Regeln hält, wirkt sich positiv auf sein Verhalten aus. Außerdem
sollten wir als liebevolle Eltern einen Teil unseres Tages dafür reservieren, uns
mit unseren Kindern zu beschäftigen und Zeit mit ihnen zu verbringen, was nicht nur
zur Entwicklung gesunder Beziehungen beiträgt, sondern Ihnen auch ein besseres Gleichgewicht
zwischen Beruf und Privatleben ermöglicht.