Fallbericht
Eine 14 Jahre alte Patientin mit unauffälliger Eigen- und Familienanamnese beklagte
seit 2 Wochen bestehende Kopfschmerzen. Zur stationären Aufnahme in einem peripheren
Krankenhaus führten stärkste Zephalgie (8/10) und unstillbares Erbrechen (ohne Fieber
bzw. Durchfall) seit dem Vortag. Es entwickelte sich eine progrediente, sich rasch
verschlechternde neurologische Funktionsstörung, im Sinne von Visusverlust, Gleichgewichtsstörung,
verwaschener Sprache und Apathie, weiterhin ohne Fieber. Das führte zur Akutverlegung
in unsere intensivmedizinische Betreuung.
Klinik
In der klinischen Untersuchung zeigte sich ein 14-jähriges Mädchen in deutlich reduziertem
Allgemeinzustand, orientiert, aber mit verlangsamten Reaktionen, stärksten Kopfschmerzen
ohne meningitische oder Infekt-Zeichen, intern keine Auffälligkeiten bis auf Tachykardie
sowie hypertone RR-Werte (145/95 mmHg). Haut reizlos, ohne Petechien, äußerlich sichtbare
Verletzungen, Exantheme oder Ekzeme, unauffälliger Gelenkstatus, keine Organomegalie.
Labor
Die Laboruntersuchungen zeigten initial keine Entzündungszeichen: Blutbild und Differenzierung
sowie BSR und CRP unauffällig und verblieben während des ganzen Aufenthaltes normwertig.
Die serologischen Untersuchungen ergaben bis auf schwach positive IgM- und IgG-Antikörper
gegen Coxsackie-Virus und am 2. stationären Tag in unserer Klinik positive IgA-Antikörper
für Adenoviren, ansonsten keine Hinweise auf eine infektiöse Ursache. Aufgrund des
rezidivierenden Erbrechens zeigte sich initial eine Azidose mit Basenüberschuss von
–10,7 mmol/l bei normwertigen Elektrolyten. Blut- und Liquorkulturen verblieben mehrfach
ohne Wachstum von Bakterien und Pilzen. Die untersuchten virologischen Direktnachweise
aus Plasma und Liquor blieben unauffällig.
Bildgebung
Das im peripheren Krankenhaus durchgeführte erste MRT schloss eine Blutung bzw. tumoröse
Veränderung aus und zeigte eine Zerebellitis: ödematöse Veränderungen kortikal im
Zerebellum bei raumfordernder Wirkung auf den 4. Ventrikel und diskret eingeengten
basalen Zisternen; leicht erweitertes Ventrikelsystem supratentoriell im Sinne einer
Liquorzirkulationsstörung ohne supratentorielle Parenchym-Manifestation.
Therapie
Nach Verlegung wurde eine Lumbalpunktion durchgeführt, die eine Pleozytose zeigte,
sodass initial antimikrobiell mit Cefotaxim und Aciclovir behandelt wurde. Es erfolgte
eine antiemetische Therapie mit Ondansetron, supportiv wurde mit Paracetamol, Ibuprofen
bzw. Novaminsulfon behandelt, im Verlauf Eskalation mit Morphin bzw. Piritramid.
Die Patientin sprach nicht auf die antimikrobielle Therapie an und es persistierten
die bestehenden neurologischen Ausfälle. Am 5. Tag kam es zu einer neu aufgetretenen
Harninkontinenz und die Bildgebung (MRT-Schädel/-Wirbelsäule) zeigte eine unveränderte
Zerebellitis ohne Hinweis auf eine enzephalitische Mitbeteiligung oder eine Ausdehnung
nach spinal. Eine autoimmune Genese der aseptischen Zerebellitis wurde nach Ausschluss
von MS bzw. ADEM oder einer anderen spinalen Ursache der Symptomatik vermutet und
es wurde eine Methylprednisolon-Pulstherapie über 3 Tage und eine hochdosierte Immunglobulintherapie
für 5 Tage durchgeführt. Darunter kam es zu einer milden Besserung der Symptomatik.
Am 12. stationären Behandlungstag trat erneut eine Visusstörung auf, die sich im MRT
durch eine Störung im blickmotorischen Hirnstammzentrum (zerebelläre Herde im Arteria-cerebelli-anterior-inferior-Gebiet
bds.) erklärte, sodass ein erneuter Methylprednisolon-Puls für 3 Tage und anschließende
orale Prednisolon-Therapie (nach Neuritis-N.-optici-Schema) initiiert wude unter supportiver
Behandlung mit Carboanhydrase-Hemmer bei noch bestehendem zerebellärem Ödem.
Ursache dieses Geschehens war letztlich eine in der Lumbalpunktion nachgewiesene Glutamat-Rezeptor
(Typ N-methyl-D-Aspartat, NMDA)-Enzephalitis mit intrazellulärem Inositol-1,4,5-Triphosphat-Rezeptor-Typ-1
(iTPR1)-Autoantikörper-positive Zerebellitis. Anti-NMDA-Antikörper ließen sich nur
im Liquor, nicht jedoch im Serum nachweisen. Die Untersuchungen auf sonstige autoimmunologische
oder immunologische Erkrankungen blieben unauffällig. Im Verlauf wurde auf Plasmapherese
verzichtet, jedoch die Therapie mit anti-CD20 monoklonalen Antikörpern – Rituximab
(insgesamt 6 Pulse) – begonnen, was zu einer raschen Besserung der neurologischen
Symptomatik führte. Unter intensiver Physiotherapie und rehabilitativer Anschlussheilbehandlung
kam es zu einer Restitutio ad integrum, die Patientin besucht die Schule und ist beschwerdefrei,
wird aber aufgrund der iatrogenen B-Zell-Depletion immunologisch überwacht.
Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis
Die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis ist die häufigste Autoimmunenzephalitis mit Nachweis
von IgG-Antikörpern gegen die glutamate ionotropic receptor NMDA type subunit 1 (GluN1)-Untereinheit
des N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptors (NMDAR). Dies blockiert die Interaktion zwischen
NMDAR und Ephrin-Typ-B-Rezeptor 2 (EphB2), sodass der Rezeptor internalisiert wird.
Betroffen sind insbesondere exzitatorische und inhibitorische Neurone des Hippocampus.
Die NMDA-Rezeptor-Enzephalitis wurde 2007 erstbeschrieben und früher der Gruppe der
unspezifischen Enzephalitis bzw. der limbischen Enzephalitis zugeordnet [1], [2].
Bei einem Teil der Patienten besteht eine Assoziation mit einer Tumorerkrankung (Ovarialteratome
bei Frauen < 50 Jahren). Auch eine Assoziation mit Herpes-simplex-Enzephalitis ist
beschrieben [1], [3].
Zur Prävalenz der Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis liegen aktuell noch keine genauen
Daten vor. Frauen sind ca. 4 × häufiger betroffen als Männer. Die Erkrankung kann
in jedem Alter auftreten, meist bereits im jungen Erwachsenenalter, ca. 37 % der Patienten
sind jünger als 18 Jahre [1], [4].
Die klinischen Symptome können mit einer Prodromalphase beginnen und beinhalten anfangs
unspezifische Symptome wie Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit und Appetitlosigkeit. Im
Verlauf entwickeln sich neurologische Auffälligkeiten wie Gedächtnis- bzw. Bewusstseinsstörungen,
neu aufgetretene epileptische Anfälle, Sprach- bzw. Bewegungsstörungen, autonome Funktionsstörungen
(z. B. Dysregulation von Blutdruck- und Körpertemperatur), aber auch psychische oder
psychiatrische Auffälligkeiten wie Verhaltensstörungen, Verwirrtheit oder Halluzinationen
[4]–[7].
Zur Diagnosestellung können bei V. a. Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis die Antikörper
im Liquor, teilweise auch im Serum, nachgewiesen werden. Nicht immer sind aber die
im Liquor nachgewiesenen Autoantikörper auch im Serum nachweisbar, sodass die Liquoranalyse
aufgrund der höheren Sensitivität bevorzugt eingesetzt wird. Veränderungen im Elektroenzephalogramm
(EEG) können vorhanden sein, wie fokale oder diffuse Verlangsamung, Dysrhythmien,
epilepsietypische Aktivität oder „extreme delta brushs“. Auffällige Befunde in der
kranialen Magnetresonanztomografie (cMRT) sind aber nur bei ca. der Hälfte der Patienten
nachweisbar und das cMRT kann anfangs sogar bei bis zu 90 % der Betroffenen unauffällig
sein.
Stellen sich Pathologien dar, können die Veränderungen sehr variabel sein. Die Flair-
oder T2-Sequenzen können Hyperintensitäten im medialen Temporallappen, zerebraler
oder zerebellärer Kortex, Basalganglien und Hirnstamm zeigen. Bei unauffälligen Befunden
und typischer psychiatrischer Symptomatik ist eine zeitnahe Liquordiagnostik zwingend
erforderlich, wobei eine Pleozytose im Liquor oder Nachweis oligoklonaler Banden möglich
sind [5], [8]. Daneben sollte eine Tumorsuche initiiert werden, insbesondere gynäkologische bzw.
urologische Diagnostik, um möglicherweise assoziierte Tumoren erkennen und mitbehandeln
zu können [1], [4].
Andere Ursachen einer Enzephalitis wie Virusenzephalitiden, Lues, progressive multifokale
Leukenzephalopathie (PML), Intoxikationen, Kollagenosen (z. B. SLE, Sjögren-Syndrom),
ZNS-Vaskulitis, septische Enzephalitis, metabolische Enzephalopathien, Meningeosis
carcinomatosa, NHL und Schizophrenie sollten ausgeschlossen sein. Differenzialdiagnosen
stellen auch die limbische Enzephalitis bzw. weitere Formen der Autoimmunenzephalitis
dar. Hier können Antikörper u. a. gegen AMPAR, GABA-B-Rezeptor, LGI1 oder CASPR2 oder
Anti-mGluR5- oder Neurexin-3α-Antikörper vorliegen [3], [4], [7], [8].
Bisher gibt es für die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis keine validierte Therapie.
Glukokortikoide aber auch intravenöse Immunglobuline (IVIG) spielen eine große Rolle,
weiterhin kommen Rituximab, ergänzend eventuell Cyclophosphamid zum Einsatz. In Fallberichten
ist der Proteaseinhibitor Bortezomib verabreicht worden [4], [9], [10].
Bei Assoziation ist eine Tumorresektion günstig für die Prognose. Rund 75 % der Patienten
genesen vollständig oder mit nur leichten bleibenden neurologischen Einschränkungen.
Etwa ⅕ überlebt mit schweren Schäden und in ca. 4 % ist die Prognose infaust. Rezidive
sind in 10–15 % der Fälle innerhalb von 2 Jahren beschrieben [4], [9], [10].
Als seltene Ursache einer Enzephalitis sollte differenzialdiagnostisch eine Autoimmunenzephalitis
bedacht werden und entsprechende Autoantikörperdiagnostik im Liquor veranlasst werden.