Rofo 2023; 195(02): 175-179
DOI: 10.1055/a-1990-6851
Radiologie und Recht

Update Haftungsrisiken für Radiologen: Diagnoseirrtum. Befunderhebungsfehler. Aufklärungsmangel. Organisationsverschulden

 

I. Einleitung

Haftungsrisiken waren immer wieder Gegenstand von Beiträgen, so zuletzt im Heft 11/2020 (RöFo 2020, S. 1099 ff.) zum Thema Befunderhebungsfehler des Radiologen im Mammografie Screening und im Heft 6/2022 (RöFo 2022, S. 681 ff.) ebenfalls zum Thema Befunderhebungsfehler, dort speziell durch Unterlassen einer weiteren Röntgenaufnahme bei Behandlung in verschiedenen stationären Einrichtungen. Haftungsrisiken können dem Radiologen in den verschiedensten Bereichen seiner Tätigkeit drohen, daher soll in diesem Beitrag der Kreis der haftungsrechtlich relevanten Fehlerquellen anhand aktueller Rechtsprechung einer erweiterten Betrachtung unterzogen werden.


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II. Diagnoseirrtum und Befunderhebungsfehler

Hauptfehlerquelle im Fachgebiet Radiologie ist nach der Rechtsprechung der Diagnoseirrtum bzw. der Befunderhebungsfehler. Ex Post lässt sich schnell behaupten, weitere Untersuchungen hätten zu einer anderen Diagnose und zu therapeutischen Maßnahmen geführt, so dass Schäden auf Seiten des Patienten vermieden worden wären. Im Haftpflichtprozess stellt sich die Frage, ob sich dieser Vorwurf aus der Ex Ante-Sicht halten lässt oder der nachträglich eingetretene Schaden den Blick auf die Befunderhebung verzerrt. Hier ist die Rechtsprechung auf die Expertise des Sachverständigen angewiesen.

1. Urteil des Oberlandesgerichts Dresden: Sachverhalt und Rechtsposition der Klägerin

Das Urteil des Oberlandesgerichts Dresden vom 29.3.2022 (Az.: 4 U 980/21) ist ein Beispiel für die Schnittstelle zwischen sachverständiger Einschätzung und juristischer Subsumtion.

Die Klägerin hatte sich wegen zunehmender Hüftschmerzen in stationäre Behandlung begeben. Es wurden eine Sonographie, eine Laboruntersuchung sowie eine MR-Untersuchung durchgeführt und eine Synovialitis und ein Gelenkerguss im rechten Hüftgelenk diagnostiziert. Es wurde die Diagnose einer juvenilen idiopathischen Arthritis gestellt. Ein paar Monate später stellte sich die Klägerin akut wegen erneuter erheblicher Beschwerden in beiden Hüftgelenken vor. Eine MR-Untersuchung des Beckens ergab den Verdacht auf eine Epiphyseolysis capitis femoris lenta beidseits (ECF). Eine durchgeführte Röntgenuntersuchung nach Lauenstein ergab den Nachweis eines Abrutschens des Schenkelhalses gegenüber dem Hüftkopf links. Eine weitere Röntgenuntersuchung der rechten Seite bestätigte das Abkippen des Hüftkopfes auch auf dieser Seite.

Die Klägerin war der Ansicht, die Behandler hätten bei der ersten stationären Behandlung fehlerhaft Rheuma diagnostiziert und dadurch die zutreffende Diagnosestellung erheblich verzögert. Die Beklagte wäre nach der ersten MR-Aufnahme verpflichtet gewesen, eine Röntgenuntersuchung durchzuführen. Wäre die richtige Diagnose zeitnah gestellt worden, hätte die operative Stabilisierung der Hüftgelenke in zwei einfachen Operationen mit einem Aufenthalt von jeweils einer Woche stationär erfolgen können. Durch die Verzögerung der gebotenen Therapie habe sich der Heilungszeitraum erheblich verlängert. Während dieser Zeit habe die Klägerin an starken Einschränkungen gelitten, sei bettlägerig gewesen und sich nur im Rollstuhl fortbewegen können. Das Risiko, in naher Zukunft auf künstliche Hüftgelenke angewiesen zu sein, habe sich durch die Verzögerung des operativen Eingriffs erhöht.

Der Sachverhalt (verkürzt wiedergegeben) zeigt die typischen Haftungsrisiken des Radiologen. Es geht zunächst um die Frage, ob die erhobenen Befunde richtig interpretiert worden sind, ob also ein Diagnosefehler vorliegt. Dem schließt sich zumeist die Behauptung an, der Radiologe hätte sich mit den erhobenen Befunden nicht begnügen dürfen, er hätte weitere Befunde erheben müssen. Beide Behandlungsfehlervorwürfe gehen meist Hand in Hand, weil die Rechtsprechung höhere Anforderungen an den Nachweis eines vorwerfbaren Diagnosefehlers stellt und der Patient sich – sollte er mit dem Vorwurf des Diagnosefehlers nicht durchdringen – einen Prozesserfolg mit Hilfe der mit der Rechtsfigur des Befunderhebungsfehlers möglicherweise zu seinen Gunsten verbundenen Beweislastumkehr erhofft.


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2. Vorwerfbarer Diagnosefehler oder Diagnoseirrtum

Die Ausführungen des Oberlandesgerichts Dresden zeigen die Schwierigkeiten des Patienten mit dem Nachweis eines vorwerfbaren Diagnosefehlers mit aller Deutlichkeit:

„Irrtümer bei der Diagnosestellung, die in der Praxis nicht selten vorkommen, sind oft nicht Folge eines vorwerfbaren Versehens des Arztes. Die Symptome einer Erkrankung sind nämlich nicht immer eindeutig, sondern können auf verschiedene Ursachen hinweisen. Auch kann jeder Patient wegen Unterschiedlichkeiten des menschlichen Organismus die Zeichen ein- und derselben Krankheit in anderer Ausprägung aufweisen. Diagnoseirrtümer, die objektiv auf eine Fehlinterpretation der Befunde zurückzuführen sind, können deshalb nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden ……... Die Wertung einer objektiv unrichtigen Diagnose als Behandlungsfehler setzt eine vorwerfbare Fehlinterpretation erhobener Befunde oder die Unterlassung für die Diagnosestellung oder ihrer Überprüfung notwendiger Befunderhebung voraus.“


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3. Abgrenzung zum Befunderhebungsfehler

Ein Diagnoseirrtum reicht also für einen Behandlungsfehler nicht, die Fehlbeurteilung muss vielmehr vorwerfbar sein. Anders ist die Rechtslage beim Befunderhebungsfehler. Dieser liegt vor, wenn die unrichtige Diagnose ihren Grund darin hat, dass der Behandler die nach dem medizinischen Standard gebotenen Befunde erst gar nicht veranlasst hat. Hier knüpft also der Behandlungsfehlervorwurf nicht daran an, dass der Behandler einen Befund vorwerfbar falsch interpretiert hat, sondern daran, dass der Befund überhaupt nicht erhoben wurde. Hätte der Behandler den Befund erhoben und sich hierbei ein reaktionspflichtiges Untersuchungsergebnis gezeigt, der Behandler trotz Kenntnis des reaktionspflichtigen Untersuchungsergebnisses jedoch die zutreffenden therapeutischen Maßnahmen unterlassen, würde es sich um einen grob fahrlässigen Behandlungsfehler des Behandlers handeln, was die Beweislage für den Behandlungsfehler zu Gunsten des Patienten verändern würde. Dass ein Befund überhaupt nicht erhoben wurde, darf sich aber nach der Rechtsprechung nicht zu Gunsten des Behandlers auswirken.

Hieraus folgt: Der Befunderhebungsfehler führt zu einer Beweislastumkehr zu Gunsten des Patienten, wenn hypothetisch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein positiver Befund erhoben worden wäre, den zu verkennen fundamental fehlerhaft oder auf den nicht zu reagieren schlechterdings unverständlich gewesen wäre.


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4. Die Rolle des Sachverständigen

Der Sachverständige muss also der Rechtsprechung die medizinischen Anknüpfungstatsachen für die Bewertung des hypothetischen Geschehensablaufs (wäre der Befund erhoben worden) und für die Beurteilung der hinreichenden Wahrscheinlichkeit (nach einem Urteil des Kammergerichts Berlin vom 16.01.2020, Az. 20 U 130/18, soll hinreichende Wahrscheinlichkeit erst bei einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 % erfüllt sein) liefern.


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5. Das Urteil des Oberlandesgerichts Dresden

Das Oberlandesgericht Dresden – sachverständig beraten – mochte dem Radiologen weder einen vorwerfbaren Diagnosefehler noch einen mit einer Beweislastumkehr verbundenen Befunderhebungsfehler vorwerfen.

Nach der Einschätzung des Sachverständigen sei mit der Diagnose einer juvenilen Arthritis eine vertretbare Arbeitsdiagnose gestellt und diese Erkrankung auch behandelt worden, hierbei habe sich klinisch keine Verschlechterung in der Hüfte gezeigt. Es sei daher nicht obligat gewesen, im Rahmen der Erstdiagnostik ein Röntgen nach Lauenstein durchzuführen. Die abweichende Einschätzung des von der Klägerin beauftragten Privatgutachters habe sich nicht mit der von dem Behandler gefundenen vertretbaren Diagnose auseinandergesetzt und den nur diskreten Befund des Abkippens des Femurkopfes nicht in den Blick genommen. Die Verdachtsdiagnose einer rheumatoiden Arthritis sei daher weder unter dem Blickwinkel des Diagnosefehlers noch des Befunderhebungsfehlers vorwerfbar.


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6. Verdachtsdiagnose. Stufendiagnostik

Die Rechtsprechung billigt damit – abhängig von dem Behandler vorliegenden Befunden – eine Befunderhebung im Wege der Stufendiagnostik zu. Nicht jeder denkbare Befund muss sofort erhoben werden. Vielmehr kann der Behandler ausgehend von einer Verdachtsdiagnose zunächst abwarten, ob auf Grund der Verdachtsdiagnose begonnene therapeutische Maßnahmen wirken. Allerdings sollte der Behandler in regelmäßigen Abständen den Erfolg der Therapie kontrollieren und – sollte die Therapie nicht die gewünschte Wirkung haben – die Befunderhebung kritisch überprüfen und ggfs. erweitern.


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III. Aufklärungspflicht und Verletzung der Obhutspflicht als grober Behandlungsfehler

Haftungsrisiken für den Radiologen können jedoch nicht nur im Kernbereich seiner Tätigkeit, der Befunderhebung und der Diagnostik entstehen, sondern auch im Umgang mit dem Patienten, der Kommunikation oder der Wahrung von Obhutspflichten gegenüber dem Patienten. Das zeigt das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 9.12.2020 (Az.: 4 O 12/19).

1. Sachverhalt des Urteils des Landgerichts Dortmund

In diesem Fall begab sich der Kläger aufgrund von Nacken- und Kopfschmerzen mit Druckgefühl zum Zwecke der Abklärung der möglichen Ursachen durch eine MR-Untersuchung zu einem Radiologen. Der Kläger, der in der Vergangenheit bereits mehrere MR-Untersuchungen hatte, also die Abläufe kannte, unterzeichnete die Einwilligungserklärung und wurde durch die MTRA über die anstehende Untersuchung einschließlich Kontrastmittelgabe aufgeklärt. Sie wies den Kläger insbesondere darauf hin, dass er während der Untersuchung still liegen und die Arme am Körper halten solle. Über das Risiko von Frakturverletzungen wurde während des Aufklärungsgesprächs unstreitig nicht gesprochen. Seine Polioerkrankung im Alter von zehn Monaten und die dadurch bedingte Muskelschwäche im linken Arm erwähnte der Kläger während des Aufklärungsgesprächs von sich aus nicht, da er sich nicht so eingeschränkt fühlte, dass er darauf hätte hinweisen müssen. Die schriftliche Einwilligungserklärung sah weder eine Frage zu einer etwaigen Polioerkrankung noch ein Feld zum Eintragen von Sonstigem vor. Der Ablauf der MR-Untersuchung des Kopfes gestaltete sich wie folgt: Der Kläger wurde auf einer beweglichen Liege gelagert und bekam Kopfhörer aufgesetzt. Sodann wurde eine Kopfspule, die für die Durchführung der Untersuchung erforderlich war, platziert. Dem Kläger wurde darüber hinaus eine Vorrichtung in die Hand gegeben, mit der er im Bedarfsfall den aufsichtführenden Personen ein akustisches Signal geben konnte, sollte es zu Auffälligkeiten kommen. Anschließend wurde der Kläger auf der mit Motorkraft betriebenen Liege in das Gerät hineingefahren. An dem Gerät befand sich sowohl links als auch rechts ein Schalter für die Betätigung des Herein- und Herausfahrens der Liege. Einen Nothalteknopf gab es an dem Gerät bauartbedingt nicht. Nach Abschluss der Untersuchung wurde die Liege wieder herausgefahren. Dabei verkeilte sich der linke Arm des Klägers im Gerät, worauf der Kläger mit Rufen und Schreien aufmerksam machte. Der mit dem Herausfahren der Liege von der MTRA beauftragte Mitarbeiter, der ein berufsvorbereitendes Praktikum in der Praxis machte, geriet in Panik und lief zur Tür, um Hilfe zu holen. Der Arm des Klägers wurde nach hinten durchgezogen, wobei es zu einer Querfraktur im oberen Teil des Oberarmknochens links mit Absprengung eines Fragmentes kam.

Der Kläger behauptet, dass vor der Behandlung keine ordnungsgemäße Risikoaufklärung stattgefunden habe. Bei ordnungsgemäßer Aufklärung hätte er weitere eigene Sicherungsmaßnahmen hinsichtlich seines Körpers im MR getroffen. Er hätte darauf bestanden, dass man den Arm festbindet oder ein Seitenteil anbringt, hätte er gewusst, dass man sich bei der Untersuchung den Arm brechen könne. Ferner sei das Gerät nach Abschluss der Untersuchung ohne ausreichende Kontrolle bedient worden. Der Mitarbeiter, der das Herausfahren veranlasst habe, habe während des Vorgangs nicht neben dem Schlitten gestanden, sodass er nicht habe beobachten können, was in der Röhre passiert sei.


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2. Kein Aufklärungsfehler

Das Landgericht Dortmund hat die Aufklärung als solche nicht beanstandet. Es habe keine Aufklärungspflicht hinsichtlich des Risikos einer Fraktur bestanden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müsse der Patient nur „im Großen und Ganzen“ über Chancen und Risiken der Behandlung aufgeklärt werden. Dem Patienten müsse eine allgemeine Vorstellung von dem Ausmaß der mit dem Eingriff verbundenen Gefahren vermittelt werden, ohne diese zu beschönigen oder zu verschlimmern. Dabei sei über schwerwiegende Risiken, die mit einer Operation verbunden sind, grundsätzlich auch dann aufzuklären, wenn sie sich nur selten verwirklichen. Entscheidend für die ärztliche Hinweispflicht sei, ob das betreffende Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und es bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet.

Auch in diesem Fall spielte die Einschätzung des Sachverständigen für die Beurteilung der Aufklärung eine gewichtige Rolle.

Der Sachverständige hatte sich auf Publikationen bezogen, wonach von 1500 gemeldeten Zwischenfällen beim Betrieb eines MRT 11 % auf mechanische Ereignisse zurückzuführen gewesen seien. Dazu hätten aber auch ein Stoßen des Kopfes des Patienten oder ein Ausrutschen des Patienten auf dem Weg zur Liege gehört. Nur im einstelligen Bereich sei es zu Quetschungen gekommen und in 7 bis 8 Fällen zu Frakturen oder Quetschungen, wobei es sich dabei um Rippen oder Finger gehandelt hätte. Dass ein großer Knochen wie bei dem Kläger gebrochen gewesen wäre, sei in den Publikationen nicht beschrieben. Ein ähnlich gelagerter Fall sei ihm nicht untergekommen. Keiner der von ihm befragten Kollegen habe ihm von einem solchen Fall berichten können.

Das Landgericht gelangte daher zu der Auffassung, es habe sich um ein so seltenes Ereignis gehandelt, dass eine Aufklärung hierüber nicht geboten gewesen sei.


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3. Grober Behandlungsfehler

Allerdings sei dem Radiologen ein grober Behandlungsfehler bei dem Herausfahren des Klägers aus dem MR-Gerät nach Abschluss der Untersuchung anzulasten, da sich der der Mitarbeiter trotz der Schreie und Rufe des Klägers vom MR-Gerät entfernt habe, ohne zuvor das Herausfahren der Liege zu stoppen.

Ein Behandlungsfehler sei als grob zu bewerten, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf.

Der Kläger habe beim Herausfahren der Liege durch Schreie und Rufen auf sich aufmerksam gemacht. Gleichwohl habe der Mitarbeiter, der mit dem Herausfahren der Liege befasst gewesen sei, weder versucht, sich durch einen Blick in die Röhre über das Geschehen zu informieren, noch habe er das Herausfahren der Liege gestoppt. Es sei elementares Grundwissen beim Umgang mit Maschinen, dass diese im Falle einer Gefahr zu stoppen sind. Auch wenn das MRT keinen separaten Notschalter gehabt habe, sei ein Knopf vorhanden gewesen, um die Liege zum Stoppen zu bringen. Der Annahme eines groben Fehlers stehe auch nicht entgegen, dass es sich bei dem Mitarbeiter um einen Berufspraktikanten gehandelt habe. Denn für die Bewertung eines Behandlungsfehlers seien nicht die Kenntnisse eines Praktikanten, sondern die einer standardgemäß ausgebildeten Fachkraft – hier einer MTRA – zugrunde zu legen.

Die Einordnung als grober Behandlungsfehler hatte eine Beweislastumkehr zugunsten des Klägers zur Folge.

Der Radiologe, der sich das Fehlverhalten seines Mitarbeiters als eigenes Verschulden zurechnen lassen musste (§ 278 BGB), trug infolgedessen die Beweislast dafür, dass ein grober Behandlungsfehler des Mitarbeiters nicht ursächlich für den Schaden, Querfraktur im oberen Bereich des Oberarmknochens, geworden ist, mithin, dass der haftungsbegründende Ursachenzusammenhang zwischen der Handlungsweise des Mitarbeiters und der Oberarmfraktur des Klägers gänzlich oder äußerst unwahrscheinlich ist. Dies vermochte der Radiologe jedoch nicht zu beweisen, er verlor den Rechtstreit.


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IV. Organisationsverschulden

Welche Haftungsrisiken sich für die Beteiligten aus einer unzureichenden Organisation der Zusammenarbeit mehrerer Fachgebiete ergeben können, zeigt ein Urteil des Landgerichts München II vom 10.05.2022(Az.: 1 O 4395/20).

Die Thematik beschreibt der Leitsatz des Urteils mit aller Deutlichkeit:

„Im Falle einer Schlaganfallbehandlung durch eine internistische Abteilung unter telemedizinischer Hinzuziehung von Neurologen und/oder Radiologen genügen die Beteiligten ihrer Organisations- und Koordinationspflicht nicht bereits durch die Vereinbarung, leitlinienkonform behandeln zu wollen. Vielmehr sind detaillierte Regelungen erforderlich, wer für was zuständig ist. Diese können beispielsweise in einer SOP (Standard Operating Procedure) niedergelegt werden.“

1. Sachverhalt des Urteils des Landgerichts München II

Die Klägerin, eine Mutter von drei, zum Teil noch betreuungsbedürftigen Kindern, war in ihrem Wohnzimmer kollabiert und mittels RTW in ein nahegelegenes Krankenhaus der Regelversorgung verbracht worden. Dieses Krankenhaus war in ein Telemedizin-Netzwerk eingebunden, das in Problemfällen eine spezialisierte neurologische und radiologische Diagnostik eines Krankenhauses mit Maximalversorgung ermöglichte. Bei der Klägerin wurde zunächst eine CT-Untersuchung durchgeführt. Was daraus folgte, ist zwischen den beiden Krankenhäusern streitig. Am Ende ergab sich jedenfalls die Diagnose eines akuten ischämischen Mediainfarkts rechts.

Die Klägerin machte geltend, die Ärzte des Krankenhauses der Regelversorgung hätten die gebotene Diagnostik, insbesondere eine CT-Angiografie im Hinblick auf eine möglicherweise frische, mittels CT nicht ausschließbare Ischämie, nicht rechtzeitig durchgeführt. Das beklagte Krankenhaus macht demgegenüber geltend, die Behandlung sei leitliniengerecht erfolgt, insbesondere seien die Ärzte des Krankenhauses der Maximalversorgung zeitgerecht in die Diagnostik eingebunden worden, hätten aber zu spät auf die Notwendigkeit einer CT-Angiografie hingewiesen.

Sachverständiger in dem Rechtstreit war der Chefarzt einer Abteilung für Innere Medizin eines Krankenhauses, in der jährlich 50–100 Schlaganfallpatienten in Kooperation mit der Neurologie, der Radiologie und der Neuroradiologie eines Universitätsklinikums im Rahmen eines telemedizinischen Netzwerks versorgt werden.


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2. Festlegung der Verantwortlichkeiten vermeidet Organisationsverschulden

Was das Landgericht München II von der Qualität der Kooperation im Fall der Klägerin hielt, lässt sich aus der Begründung des Urteils entnehmen:

„Die Behandlung war jedenfalls insoweit fehlerhaft, als eine CT-Angiografie um mindestens 80 Minuten verzögert worden ist …………... Dabei kann dahinstehen, ob die Verantwortung hierfür bei der Beklagten (scil.: dem Krankenhaus der Regelversorgung) oder der Nebenintervenientin (scil.: dem Krankenhaus der Maximalversorgung) liegt, denn die Beklagte hat sich, soweit sie unter vertraglichen Gesichtspunkten haftet, das Verschulden der Nebenintervenientin gem. § 278 BGB zurechnen zu lassen. ……. Schon allein der Zeitablauf zwischen Abschluss der ersten orientierenden Untersuchungen (gegen 19.15 Uhr) und Indikationsstellung für die CT-Angiografie ist (grob) fehlerhaft. Im Übrigen hat die Beweisaufnahme ergeben, dass die Nebenintervenientin auch die Zeit zwischen der nach ihrer Behauptung erstmaligen Kontaktaufnahme seitens der Beklagten um 19.43 Uhr und 20.05 Uhr nicht hätte verstreichen lassen dürfen, bevor sie die angeforderte Auswertung der radiologischen Befunde übernimmt ………….. Die Nebenintervenientin hat im Übrigen angegeben, dass um 20.15 Uhr eine CT-Angiografie für notwendig erachtet wurde und dies der Beklagten auch mitgeteilt worden sei, diese habe jedoch erst um 21.01 Uhr begonnen. Mindestens 30 Minuten Verzögerung (geht man von einer Aufrüstzeit von 15 Minuten aus, …….) hat also die Beklagte selbst zu verantworten. Soweit, wie vom Sachverständigen nachvollziehbar beanstandet, die Abläufe offensichtlich nicht klar geregelt waren, ist dies ein Organisationsversäumnis, das beide beteiligten Krankenhäuser zu verantworten haben ………. Die Schlaganfallbehandlung ist für alle Beteiligten komplex. Wenn man als kleines Krankenhaus Schlaganfallpatienten versorgt, ist eine engmaschigste Vernetzung erforderlich. Erforderlich sind detaillierte Regelungen, wer für was zuständig ist. Diese können beispielsweise in einer SOP (Standard-Operating-Procedure) niedergelegt werden. Durch die – hier i. W. allein erfolgte – bloße Verständigung der Beteiligten, im Rahmen einer telemedizinischen Schlaganfallversorgung leitlinienkonform behandeln zu wollen, kommen die Beteiligten nicht in hinreichendem Maße ihrer Absprache- und Koordinationsverpflichtung nach ……….., um sicherzustellen, dass die Diagnose- und Behandlungsschritte im Falle der notfallmäßigen Versorgung eines Schlaganfallpatienten mit der gebotenen Schnelligkeit erfolgen.“

Nicht nur die Kooperation zwischen der internistischen Abteilung des Krankenhauses der Regelversorgung und des Krankenhauses der Maximalversorgung sah das Gericht als fehlerhaft an. Weder die Ärzte des Krankenhauses der Regelversorgung noch die des Krankenhauses der Maximalversorgung hätten auf die rechtzeitige Hinzuziehung eines Neurologen gedrängt. Dies zu verlangen, hätte jedoch im Verantwortungsbereich beider beteiligter Funktionseinheiten gestanden.

Da die CT-Angiografie nicht zeitgerecht durchgeführt wurde, ging das Gericht von einem Befunderhebungsfehler aus. Wäre sie zeitgerecht erfolgt, so hätte sie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einen Schlaganfall als reaktionspflichtigen Befund gezeigt (sofortige Verlegung zum Zweck von rekanalisierenden Maßnahmen).

Die Nichtreaktion hierauf wäre „grob fehlerhaft“ gewesen, was zu einer Beweislastumkehr zu Lasten des Krankenhauses der Regelversorgung führte: Bei der Klägerin waren als gesundheitliche Einschränkungen eine Halbseitensymptomatik mit spastischer Hemiparese links in Verbindung mit Sensibilitätsstörungen, ein mildes hirnorganisches Psychosyndrom mit depressiven Episoden verblieben, was Pflegebedürftigkeit sowie die Erforderlichkeit von Rollstuhl bzw. anderweitiger Gehhilfe zur Folge hatte. Das Gericht hielt daher ein Schmerzensgeld in Höhe von 120 000,00 € für gerechtfertigt.


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V. Fazit

Nicht jede unterlassene Befunderhebung führt zu einem vorwerfbaren Befunderhebungsfehler. Ergeben die erhobenen Befunde eine Verdachtsdiagnose, so kann es sinnvoll sein, zunächst auf der Grundlage dieser Verdachtsdiagnose eine Therapie einzuleiten. Es muss aber aus den Behandlungsunterlagen erkennbar sein, welche differentialdiagnostischen Überlegungen zu der Einschätzung geführt haben, eine weitere Befunderhebung (zunächst) zu unterlassen. Ferner muss der Verlauf der Therapie engmaschig kontrolliert werden, um rechtzeitig ggfs. die Erhebung weiterer Befunde zu veranlassen.

Auch eine Verletzung der ärztlichen Obhutspflicht kann als grober Behandlungsfehler gewertet werden. Es lohnt daher, in regelmäßigen Abständen die organisatorischen Abläufe zu prüfen und durch Dienstanweisungen/Fortbildung der Mitarbeiter abzusichern.

Die Schnittstellen der ärztlichen Zusammenarbeit müssen insbesondere im Fall einer fachübergreifenden Kooperation in einer schriftlichen Vereinbarung präzise festgelegt werden.

Dr. Horst Bonvie
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Medizinrecht

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Publication History

Article published online:
01 February 2023

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