Originalpublikation
Recchia F, Leung CK, Chin EC et al. Comparative effectiveness of exercise,
antidepressants and their combination in treating non-severe depression: a
systematic review and network meta-analysis of randomised controlled trials. British
Journal of Sports Medicine 2022[1]
Durch eine bessere Diagnostik, eine höhere Sensibilisierung der
Bevölkerung, die zunehmende Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen und
veränderte Lebensumstände hat die Zahl von Menschen mit einer
Depression in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen [2]. Schätzungsweise über 300
Millionen Menschen leiden weltweit an einer depressiven Störung [3]. In der Bundesrepublik beläuft sich die
Prävalenz von Depression auf etwa 8%. Über das gesamte Leben
wird das Risiko, an einer Depression zu erkranken, auf 12%
geschätzt, wobei Frauen mit über 15% etwa doppelt so
häufig betroffen sind wie Männer [4]. Eine Analyse der Arbeitsunfähigkeitsfälle von
TK-Versicherten zeigte, dass depressionsbedingte Arbeitsausfälle im Schnitt
ein halbes Jahr andauern und damit fünfmal so viel Zeit wie der
durchschnittliche AU-Fall in Anspruch nehmen [5].
Depressionen sind hierdurch für 7% aller AU-Tage verantwortlich.
Neben dem Leid für das Individuum stellen sie dementsprechend auch ein
wichtiges gesundheits- sowie wirtschaftspolitisches Problem dar.
Um Depressionen entgegenzuwirken, sind Antidepressiva das Mittel der Wahl [6]. Jedoch ist ihr Einsatz umstritten, da die
Kurzzeiteffekte häufig nur gering ausfallen und ihr Einsatz langfristig mit
vielen Nebenwirkungen einhergeht [7].
Körperliches Training bzw. Bewegungstherapie sind dementgegen nicht nur
nebenwirkungsarm, sondern erfreuen sich vieler zusätzlicher
Begleitwirkungen.
Wie effektiv körperliches Training bei moderater Depression
tatsächlich ist und wie es im Vergleich zu pharmakologischen Substanzen
abschneidet, hat eine jüngst im British Journal of Sportsmedicine
veröffentliche Netzwerk-Meta-Analyse (NMA) untersucht [1].
Im Gegensatz zu konventionellen Meta-Analysen, deren Ziel es ist, die mittlere
Wirksamkeit einer Intervention gegenüber einer Kontrollintervention zu
untersuchen (paarweiser Vergleich), werden in NMA verschiedene
Interventionsformen miteinander verglichen. Darüber hinaus werden in NMA
auch indirekte Vergleiche angestellt, also Interventionen miteinander
verglichen, zu denen es gar keine Vergleichsstudien gibt. Sie sind allerdings
über die Kontrollintervention miteinander verknüpft, und
über den Mehrwert im Vergleich zur Kontrollintervention wird
schließlich der Vergleich zwischen den Interventionen angestellt [8].
Die Autoren durchsuchten sieben Datenbanken (Embase, MEDLINE (PubMed), PsycINFO,
Cochrane Library, Web of Science, Scopus und SportDiscus) und konnten
schließlich 21 Originalarbeiten mit 2551 Patienten in die Analyse
einschließen. Hierbei wurden ausschließlich randomisiert
kontrollierte Studien berücksichtigt, welche (1) die Wirksamkeit einer
Bewegungsintervention direkt mit der Wirksamkeit von Antidepressiva verglichen, in
welchen (2) die Wirksamkeit von Bewegung oder Antidepressiva gegenüber einer
Kontrollintervention untersucht wurde oder in welchen (3) eine Kombination aus
Bewegung und Medikament Interventionen nur einer der beiden Interventionsformen
gegenübergestellt wurde. Als Endpunkt wurde die Schwere der Depression
anhand klinisch bewährter Skalen erhoben. Für die Analyse wurden
ausschließlich Menschen mit einer klinisch diagnostizierten, leichten bis
mittleren Depression eingeschlossen, da für schwerere Fälle keine
ausreichende Literatur vorliegt. Aus den 21 Studien konnten insgesamt 25
Effektstärken extrahiert werden. Diese Effektstärken beziehen sich
auf folgende Gruppenvergleiche: Antidepressiva vs. Kontrolle (n=11),
Bewegung vs. Kontrolle (n=6) Kombination vs. Antidepressiva (n=4),
Antidepressiva vs. Bewegung (n=3) und Kombination vs. Bewegung
(n=1). Das Bias-Risiko lag bei fünf Studien im niedrigen Bereich,
bei 15 Studien im moderaten Bereich und bei einer Studie im hohen Bereich.
Alle Interventionen zeigten sich im Vergleich zu den Kontrollen effektiv. So
erreichten die Bewegungsinterventionen (Standardisierte Mittelwertsdifferenz (SMD)
= −0,45, 95% Konfidenzintervall (KI)=
− 0,67; − 0,23) im Schnitt denselben Effekt wie die
Kombinationsintervention (SMD=−0,45, 95% KI:
− 0,76; − 0,14). Antidepressiva allein erreichten
eine mittlere Symptomminderung von SMD=− 0,33 (95%
KI: − 0,48; − 0,19), die zwar deskriptiv kleiner
ausfällt (SMD=− 0,12, 95% KI:
− 0,33; 0,10), sich jedoch inferenzstatistisch nicht vom Effekt der
Bewegungsinterventionen unterscheidet.
Neben der Wirksamkeit verglichen die Autoren die Drop-out-Raten der Studienarme als
Indikator für die Akzeptanz der Interventionsformen durch die Patienten.
Hier schnitt die Bewegungsintervention schlechter als die Vergleichsinterventionen
ab. So ist die mittlere Chance eines Drop-outs im Kontext einer
Bewegungsintervention um knapp ein Drittel höher als bei der Gabe von
Antidepressiva (Relatives Risiko (RR)=1,31, 95% KI:
1,09–1,57). Interessanterweise trat dies nicht bei der Kombination aus
Bewegung und Antidepressiva auf (RR=0,99, 95% KI:
0,62–1,57), deren Schätzwerte jedoch über eine hohe
Unsicherheit verfügen, wie man am fast doppelt so breiten Konfidenzintervall
sehen kann. Punkten konnten die Bewegungsinterventionen dafür in der Anzahl
von adversen Events (AE), die mit 9% deutlich niedriger abschnitten als die
pharmakologischen Studienarme mit 22% AEs. Alle Ergebnisse konnten im Rahmen
klassischer paarweiser Meta-Analysen validiert und bestätigt werden.
In ihrer Übersichtsarbeit konnten Recchia und Kollegen zeigen, dass sowohl
Antidepressiva als auch Bewegung wirksame Interventionsformen bei Menschen mit
milder bis moderater Depression sind. Darüber hinaus konnte jedoch keine
Überlegenheit der pharmakologischen Interventionen gegenüber
Bewegungsinterventionen festgestellt werden. Rein deskriptiv zeigten die
Bewegungsinterventionen sogar eine leichte Überlegenheit. Erstaunlich ist in
diesem Kontext auch, dass die Kombination von Bewegung und Medikament keinen
Mehrwert gegenüber den Einzelinterventionen zeigte. Auf Seiten der Akzeptanz
schneiden die Bewegungsinterventionen etwas schlechter ab, da in ihnen
größere Drop-out-Raten festgestellt wurden. Hierdurch könnte
–ausgehend von der Annahme, dass jene Personen aus den Studien ausscheiden,
bei denen Bewegung keine oder sogar negative Effekte zeigt – eine Verzerrung
des wahren Effektes im Sinne einer Überschätzung des
Bewegungseffektes stattgefunden haben. Für die Konzeption von
Bewegungsprogrammen bedeutet dies, dass potenziellen Barrieren gegenüber
Bewegung, die vor allem im emotionalen Bereich zu erwarten sind, durch entsprechende
Maßnahmen entgegengewirkt werden sollte [9]. Um Bewegungstherapie optimal zu gestalten, reicht der physiologische
Effekt demzufolge nicht allein aus. Vielmehr muss sie auch eine psychologische,
verhaltensorientierte Komponente berücksichtigen, damit so viele Menschen
wie möglich erreicht werden.
Trotz dieser vielversprechenden Ergebnisse bleiben jedoch auch einige Kritikpunkte
offen. Zunächst besteht die Analyse aus vergleichsweise wenigen Studien,
wodurch die systematische Untersuchung von Varianzquellen zwischen den Studien
verwehrt blieb. Eine dieser Varianzquellen könnten beispielsweise die
unterschiedlichen Kontrollbedingungen (z. B. inaktive Kontrollgruppe,
Placebo-Kontrollgruppe) in den Bewegungsstudien darstellen, die aus praktischen
Gründen in der Analyse zusammengeworfen wurden. Ebenso wurden auch alle
Bewegungsinterventionen zusammengefasst, ohne dass eine Unterscheidung zwischen Art
und Modalität der Bewegung berücksichtigt wurde. Des Weiteren wurden
in der Analyse konsequent Studien ausgeschlossen, in welchen Patienten mit schwerer
Symptomatik rekrutiert wurden, wodurch eine enorme Zahl an pharmakologischen Studien
nicht berücksichtigt wurde. In einer vergleichbaren NMA, welche
ausschließlich Antidepressive betrachtete, wurden über 500 Studien
analysiert [10].
Diese Befunde zeigen einerseits das gewaltige Potenzial von Bewegung, andererseits
beleuchten sie wichtige Forschungslücken. So sollten zukünftige
Studien beispielsweise untersuchen, mit welchen Maßnahmen die Akzeptanz der
Bewegungstherapie optimiert werden kann, wie die Effekte der Bewegungstherapie durch
Variation der Bewegungsmodalitäten beeinflusst werden, ob sich die
Wirksamkeit auch bei Menschen mit schwerer Symptomatik replizieren lässt und
wie nachhaltig der Effekt der Bewegungsintervention ist, sowohl hinsichtlich der
antidepressiven Wirkung als auch darin, einen körperlich aktiven Lebensstil
zu etablieren.
Womit auch der zentrale Kritikpunkt an derartigen Meta-Analysen aufkommt. Sie geben
eine eindeutige Antwort auf die Frage, ob Bewegung im Generellen wirksam ist und ob
sie auch mit anderen Interventionsformen mithalten kann. Jedoch lässt die
Komplexität von Bewegungstherapie mit ihren vielen Komponenten, ihrer hohen
Personalisierung und den mannigfaltigen Möglichkeiten der Trainingssteuerung
eigentlich keine angemessene Vergleichbarkeit der Interventionen zu, wodurch viele
Detailfragen der Praxis nicht adressiert werden können.