CC BY-NC-ND 4.0 · Gesundheitswesen 2023; 85(06): 547-553
DOI: 10.1055/a-1976-1856
Originalarbeit

Umsetzung der Reform der Psychotherapie-Richtlinie 2017: Ergebnisse aus Fokusgruppen im Rahmen des Innovationsfonds-Projekts EVA PT-RL

Reform Implementation of the Psychotherapy Guideline 2017: Results from Focus Groups Within the Framework of the Innovation Fund Project EVA PT-RL
Carina Abels
1   Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg Essen Lehrstuhl für Medizinmanagement, Essen, Germany
,
Sandra Diekmann
2   EsFoMed, Essener Forschungsinstitut für Medizinmanagement GmbH, Essen, Germany
,
Silke Neusser
2   EsFoMed, Essener Forschungsinstitut für Medizinmanagement GmbH, Essen, Germany
,
Sarah Schlierenkamp
2   EsFoMed, Essener Forschungsinstitut für Medizinmanagement GmbH, Essen, Germany
,
Jürgen Wasem
1   Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg Essen Lehrstuhl für Medizinmanagement, Essen, Germany
,
Anke Walendzik
1   Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg Essen Lehrstuhl für Medizinmanagement, Essen, Germany
› Author Affiliations
Fundref Information Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses 01VSF19006.
 

Zusammenfassung

Hintergrund Psychische Erkrankungen verursachen sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Belastungen. Zentrales Ziel der Strukturreform der Psychotherapie-Richtlinie (Inkrafttreten 2017) war die verbesserte Steuerung des Zugangs zur psychotherapeutischen Versorgung. Die hier vorgestellten Fokusgruppen, die im Rahmen des durch den Innovationsfonds geförderten Forschungsprojekts „Evaluation der Psychotherapie-Richtlinie (Eva PT-RL)“ durchgeführt wurden, adressieren die Umsetzung der Ziele der Reform und der einzelnen neu eingeführten Versorgungselemente sowie Hürden bei der Implementierung aus der Perspektive von Leistungserbringer*innen, Patient*innen und Kostenträgern.

Methoden Es wurden sechs Fokusgruppen und fünf Einzelinterviews mit Personen der drei genannten Stakeholder-Gruppen durchgeführt. Grundlage war ein an die jeweilige Personengruppe angepasster auf Basis einer strukturierten Literaturrecherche erstellter halbstrukturierter Gesprächsleitfaden. Die Gespräche wurden von einem Moderatorinnenteam per Videokonferenz durchgeführt, aufgezeichnet und transkribiert. Die Auswertung erfolgte über eine qualitative Inhaltsanalyse in Anlehnung an Mayring.

Ergebnisse Eine allgemein positive Beurteilung insbesondere hinsichtlich des Erstzugangs zur psychotherapeutischen Versorgung erfuhr die psychotherapeutische Sprechstunde, wobei gleichzeitig ein verzögerter Übergang zur gegebenenfalls folgenden Richtlinien-Psychotherapie insbesondere aufgrund Kapazitätenmangels kritisch diskutiert wurde. Es wurden günstige Effekte der telefonischen Erreichbarkeitszeiten sowie einer verstärkten Vernetzung der psychotherapeutischen Versorgung auch mit anderen psychosozialen Angeboten angesprochen. Die Umsetzung der Akutbehandlung und der Rezidivprophylaxe wurde jedoch eher kritisch diskutiert. Als zentrales Ergebnis zeigt sich, dass der durch die Reform angestrebte Anstoß zum Paradigmenwechsel von Psychotherapeut*innen unterschiedlich wahrgenommen und umgesetzt wird – von einem Fokus auf individuelle Therapieprozesse hin zur Public Mental Health-Perspektive mit einer Verpflichtung zur Versorgungssteuerung.

Schlussfolgerung Angesichts der variablen Strategien zur Umsetzung der Strukturreform durch die Psychotherapeut*innen, der Kritik an der Ausgestaltung einzelner Reformelemente und der Diskussion um Verzögerungen beim Zugang zur Richtlinientherapie aus der psychotherapeutischen Sprechstunde besteht weiterer Forschungsbedarf. Die Ergebnisse der Fokusgruppen dienen als Grundlage für die folgenden Projektschritte, u. a. eine Befragung von Psychotherapeut*innen, Patient*innen und hausärztlich tätigen Ärzt*innen.


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Abstract

Background Mental illnesses cause both individual and social burdens. The main goal of the structural reform of the Psychotherapy Guideline of 2017 was to improve access to psychotherapeutic care. The focus groups, which were conducted as part of the research project “Evaluation of the Psychotherapy Guideline (Eva PT-RL)” funded by the Innovation Fund, address the implementation of the goals of the reform and the individual newly introduced care elements as well as hurdles to implementation from the perspective of service providers, patients and insurers.

Methods Six focus groups and five individual interviews were conducted with people from the three stakeholder groups mentioned above. The basis was a semistructured interview guide adapted to the respective group of people based on a structured literature research. The interviews were conducted by a team of moderators via video conference, recorded and transcribed. The analysis was carried out via a qualitative content analysis based on Mayring.

Results The initial psychotherapeutic consultation received a generally positive assessment particularly with regard to timely initial access to psychotherapeutic care. At the same time a delayed transition to subsequent guideline psychotherapy due to a lack of capacity was criticized by all participant groups. Beneficial effects of telephone accessibility as well as increased networking of psychotherapeutic care also with other psychosocial services were mentioned. However the implementation of acute treatment and relapse prophylaxis was found to be inadequate. The central finding was that the impulse for a paradigm shift aimed at by the reform was perceived and implemented differently by the psychotherapists – from a focus on individual therapy processes to a public mental health perspective with a commitment to care coordination.

Conclusion Some elements of the reform were criticized by stakeholders, the transition from initial appointments to continuous treatment was considered as not timely enough, and the design of other elements (acute treatment and relapse prevention regulations) was assessed as improvable. There is a need for further research. The results of the focus groups serve as a basis for following project steps including a survey of psychotherapists, patients and GPs.


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Einleitung

Psychische Störungen betreffen 27,8% (ca. 17,8 Millionen Menschen) der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland pro Jahr [1] [2]. Etwa 10% aller Kinder und Jugendlichen zeigten in einer Querschnittsbefragung Symptome psychischer Auffälligkeiten, über 20% berichteten über Beeinträchtigungen aufgrund psychischer Probleme [3]. Für Betroffene und Angehörige stellen psychische Störungen eine enorme individuelle Belastung mit einer hohen Krankheitslast dar [4] und sind darüber hinaus mit erheblichen gesellschaftlichen Herausforderungen verbunden. Eine psychotherapeutische Behandlung stellt dabei einen wesentlichen Baustein in der leitliniengerechten Behandlung psychischer Störungen dar [5]. Verschiedene Untersuchungen deuteten allerdings immer wieder auf Schnittstellenprobleme hin [6]. In diesem Zusammenhang wurden auch Wartezeiten auf die psychotherapeutische Behandlung und Probleme im Zugang der Versicherten zur Psychotherapie diskutiert, die zu Unter- und Fehlversorgung führen können. Die Zugangsprobleme sind zudem regional unterschiedlich ausgeprägt und führen zu entsprechenden Versorgungsdisparitäten. Zugangshürden durch Wartezeiten und erschwerte Suchprozesse können auch zu den manifesten Versorgungsunterschieden je nach sozioökonomischem Status der Patient*innen beitragen [7] [8]. Andererseits kann ein verspäteter Zugang zu psychotherapeutischer Diagnostik die Patientensteuerung in möglicherweise passendere Versorgungsangebote bei fehlender Indikation für eine Richtlinientherapie behindern.

Mit der Strukturreform der Psychotherapie-Richtlinie, welche 2017 inkraftgetreten ist, wurden u. a. neue Elemente in die Versorgung eingeführt (vgl. [Tab. 1]). Zentrales Ziel war die Verbesserung des Zugangs zur Psychotherapie für Versicherte [9]. Inwieweit dieses Ziel erreicht werden konnte, wie die neu eingeführten Elemente in der Praxis umgesetzt werden und welche Hemmnisse und Hürden sich dabei zeigen, wird durch das vom Innovationsfonds geförderte Forschungsprojekt „Evaluation der Psychotherapie-Richtlinie (Eva PT-RL)“ untersucht. Es wird ein Methodenmix aus quantitativen und qualitativen Methoden genutzt. Fokusgruppengespräche mit Psychotherapeut*innen, Krankenkassenmitarbeiter*innen und Patientenvertreter*innen, deren Ergebnisse hier vorgestellt werden, dienen dabei zur Hypothesengenerierung.

Tab. 1 Kurzdarstellung der neu eingeführten Versorgungselemente durch die Reform der Psychotherapie-Richtlinie 2017.

Versorgungselemente

Inhalt

Telefonische Erreichbarkeit

Verpflichtende telefonische Erreichbarkeitszeiten der psychotherapeutischen Praxen für die Terminkoordination (200 Minuten/Woche bei vollem, 100 Minuten/Woche bei hälftigem Versorgungsauftrag; Mindesteinheit: 25 Min.).

Psychotherapeutische Sprechstunde

Kernelement der Reform mit Filter- und Steuerungsfunktion, verpflichtende Vorhaltung von mindestens 100 Minuten bei vollem und mindestens 50 Minuten bei einem hälftigen Versorgungsauftrag pro Woche. In Einheiten von mindestens 25 Minuten wird geklärt, ob ein Verdacht auf eine psychische Krankheit vorliegt und der*die Patient*in eine Psychotherapie benötigt oder ob ihm mit anderen Unterstützungs- und Beratungsangeboten geholfen werden kann. Auch erste therapeutische Interventionen sind möglich.

Psychotherapeutische Akutbehandlung

Die Akutbehandlung hat zum Ziel, in Krisensituationen mit unmittelbarer Behandlungsbedürftigkeit einen zeitnahen Zugang zur symptomatischen Behandlung im Anschluss an die Sprechstunde zu ermöglichen (bis zu 24 Einheiten von mindestens 25 Minuten, bis zu 600 Min. je Krankheitsfall).

Rezidivprophylaxe

Die Rezidivprophylaxe kann unter Anrechnung auf das für Patient*innen bewilligte Gesamtkontingent an Langzeittherapie niedrigfrequent für bis zu 2 Jahren nach Beendigung der Langzeittherapie zur Stabilisierung der Patient*innen vorgesehen und durchgeführt werden.

Quelle: [10], eigene Darstellung

Ziel des vorliegenden Artikels ist die Darstellung der Sicht dieser drei Gruppen auf die Umsetzung der neuen Elemente im Rahmen der psychotherapeutischen Versorgung sowie die Beschreibung von ggf. wahrgenommenen Hemmnissen und Hürden.


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Methodik

Grundlage der Fokusgruppen ist ein halbstrukturierter Gesprächsleitfaden, der auf Basis einer strukturierten Literaturrecherche entwickelt wurde. Die Fragen zur Umsetzung der neuen Elemente wurden auf die Ebene der einzelnen neuen Bausteine (vgl. [Tab. 1]) heruntergebrochen und es wurde nach den subjektiven Erfahrungen im eigenen Arbeitsalltag (Psychotherapeut*innen und Krankenkassen-Mitarbeiter*innen) sowie den Erfahrungen der Patient*innen gefragt. Hierzu wurden offene Fragen formuliert. Die Fokusgruppen wurden nach Zielgruppen (Psychotherapeut*innen, Krankenkassenmitarbeiter*innen, Patientenvertreter*innen) aufgeteilt sowie innerhalb der Zielgruppe der Psychotherapeut*innen differenziert nach Psychotherapeut*innen für Kinder und Jugendliche sowie für Erwachsene. Die Gesprächsleitfäden wurden an die jeweilige Perspektive angepasst. Da die Fragestellungen für die Psychotherapeut*innen aufgrund ihrer Rolle für die Umsetzung der Strukturreform sehr komplex waren, wurde die Thematik außerdem durch zwei unterschiedlich fokussierte Gesprächsleitfäden auf jeweils zwei Fokusgruppen aufgeteilt.

Rekrutierung

Die Rekrutierung erfolgte mit Unterstützung der Partner des Projektkonsortiums. Die psychotherapeutischen Teilnehmer*innen wurden über die drei beteiligten Psychotherapeutenverbände gewonnen, die Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV), die Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendpsychotherapeuten in Deutschland (VAKJP) und den Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland (BKJPP). Bei den Psychotherapeut*innen wurden sowohl ärztliche als auch Psychologische Psychotherapeut*innen sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen mit unterschiedlichen Therapieverfahren einbezogen. Bei der Rekrutierung wurde für die Fokusgruppen der Psychotherapeut*innen weiterhin auf Geschlecht, Alter sowie Region der Teilnehmer*innen geachtet. Es wurde eine Aufwandspauschale von 50 Euro gezahlt. Für die Krankenkassen wurden Mitarbeiter*innen verschiedener Kassenarten befragt. Für die Fokusgruppe der Patientenvertreter*innen wurde die Expertise für verschiedene Krankheitsbilder über einschlägige Selbsthilfegruppen einbezogen.


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Durchführung

Die Fokusgruppen wurden nach Krueger und Casey durch ein Moderatorinnenteam unter Nutzung der vorab entwickelten Gesprächsleitfäden geleitet. Der Verlauf der online durchgeführten Fokusgruppen wurde jeweils audio-visuell aufgezeichnet.


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Auswertung

Die Aufnahmen wurden vollständig entsprechend gängiger Transkriptionsregeln transkribiert [11]. Auf dieser Basis erfolgte eine qualitative Inhaltsanalyse in Anlehnung an Mayring mit Hilfe des Programms MAXQDA [12]. Bei der Kodierung wurde eine Mischform aus deduktiver und induktiver Kategorienbildung verwendet und nach dem Vier-Augenprinzip qualitätsgesichert [13].


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Ergebnisse

Insgesamt wurden sechs Fokusgruppen im Oktober und November 2020 per Videokonferenz durchgeführt. Zudem fanden fünf leitfadengestützte Interviews mit zu den Fokusgruppenterminen verhinderten Personen statt. Pro Fokusgruppe nahmen zwischen 5 und 12 Teilnehmer*innen teil.[1]

An den vier Fokusgruppen der Psychotherapeut*innen für die Behandlung Erwachsener sowie Kinder und Jugendliche nahmen insgesamt 31 Personen teil. Eine Person wurde im Rahmen eines Einzelinterviews befragt. Mit 18 Personen war die Teilnehmerzahl in den zwei Fokusgruppen mit Kinder- und Jugendpsychotherapeuten etwas größer als bei den Erwachsenenpsychotherapeuten (14 Teilnehmende). 20 der 32 Teilnehmenden (62,5%) waren weiblich, 78% (25 Teilnehmende) gaben an 50 Jahre oder älter zu sein. In die Fokusgruppen wurden sowohl Psychologische (75%) als auch ärztliche Psychotherapeuten (25%) einbezogen. Ergänzend zur Einzeltherapie bieten etwa 40% der Teilnehmenden Gruppentherapien an. Weitere Angaben der Teilnehmenden, etwa zur Dauer der Praxistätigkeit und dem Ort der psychotherapeutischen Praxis finden sich in [Abb. 1] [2] und [Tab. 2]:

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Abb. 1 Ort der psychotherapeutischen Praxis.
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Abb. 2 Dauer der Praxistätigkeit.

Tab. 2 Teilnehmende Psychotherapeuten nach Therapieverfahren.

Therapieverfahren

analytische Psychotherapie

12

tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

22

Verhaltenstherapie

12

systemische Therapie

2

An der Fokusgruppe mit Kassenvertreter*innen nahmen 8 Personen teil, ergänzend fand ein Einzelinterview statt. Es wurden die Perspektiven von vier Kassenarten (Ersatzkassen, Allgemeine Ortskrankenkassen, Betriebskrankenkassen und Innungskrankenkassen) abgebildet. Die Teilnehmenden waren mehrheitlich operativ, d. h. im direkten Kontakt mit den Versicherten, tätig.

Die Fokusgruppe zur Abbildung der Patientenperspektive hatte 6 Teilnehmende. Ergänzend wurden drei Einzelinterviews geführt. Durch die Teilnehmenden konnte ein großes Spektrum an psychischen Erkrankungen (u. a. Depressionen, Angststörungen, Bipolare Störungen, Zwangsstörungen, ADHS) abgebildet werden. Der Erfahrungshintergrund der Patientenvertreter*innen deckte hierbei sowohl die häufigsten Diagnosen in der Versorgung erwachsener Patient*innen als auch von Kindern und Jugendlichen ab.

Telefonische Erreichbarkeit

In den Fokusgruppen der Psychotherapeut*innen wird deutlich, dass die telefonischen Erreichbarkeitszeiten sehr unterschiedlich umgesetzt werden. Einerseits versuchen einige Psychotherapeut*innen diese so in ihre üblichen Abläufe einzubauen, dass sie möglichst wenig zusätzliche Zeiten und weitere Veränderungen benötigen.

„Ich mache es auch in der Mittagszeit. Ich habe es gleichzeitig als Büro-Organisations-Zeit und damit geht das.”

Andererseits wird in Praxen stärker als bisher mit Büropersonal gearbeitet. Vor dem Hintergrund fehlender Möglichkeiten, neue Patient*innen in die Therapie aufzunehmen, kann die Erreichbarkeitszeit auch als Herausforderung erlebt werden:

„Und das ist nicht so sehr eine Muffelstimmung, da nicht ans Telefon zu gehen. Das ist irgendwie auch verständlich, zumindest bei uns, wo die Wartezeit immer so mindestens ein Jahr lang war, in guten Praxen oder in Praxen, die sehr hoch frequentiert waren sogar noch länger. Das ist einfach Quälerei, sich da ans Telefon zu setzen.“

Außerdem wird angemerkt, dass die Patient*innen sich nicht an die telefonischen Sprechzeiten halten würden.

Sowohl seitens Patient*innen- als auch Krankenkassenvertreter*innen wird teilweise beklagt, dass auch zu den telefonischen Erreichbarkeitszeiten zum Teil niemand in der Praxis zu erreichen sei.

In allen Fokusgruppen werden jedoch auch vielfältige, positive Aspekte der Nutzung der telefonischen Erreichbarkeit berichtet: einerseits wird, wie erwartet, die Vereinbarung von Sprechstundenterminen genannt, auch in Teilen begleitet von einer frühzeitigen Information, dass keine Termine für Richtlinientherapie frei sind, andererseits aber auch die Nutzung für Absprachen mit in Behandlung befindlichen Patient*innen, Kontaktaufnahmen durch Kliniken, Absprachen mit Kolleg*innen, Krankenkassen, Ärzt*innen und Gutachter*innen.


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Psychotherapeutische Sprechstunde

Die Psychotherapeut*innen beschreiben die Umsetzung der psychotherapeutischen Sprechstunde unterschiedlich. Dabei zeigen sich verschiedene Formen der Einbindung der Sprechstunde in die Arbeit der psychotherapeutischen Praxis: Einige Therapeut*innen geben an, nur dann Sprechstunden anzubieten, wenn im Anschluss ein Platz für eine Richtlinientherapie frei ist:

„Ich finde das sehr schwierig, den Patienten zu einem Gespräch zu sehen und ihn dann wieder weg zu schicken.”

Andere Therapeut*innen begreifen die Sprechstunde jedoch als grundsätzlich verändertes Element hinsichtlich der Kontakt- und Beziehungsgestaltung, wo bereits zu Beginn klar ist, dass eine Therapie nicht immer bei dem/der Therapeut*in möglich ist, der/die auch die Sprechstunde durchführt. Weiterhin wird die Sprechstunde als Chance zu einer erweiterten Probatorik oder frühzeitigen Diagnostik gesehen. Sehr bewusst wird in einigen Fällen die Steuerungsfunktion der Sprechstunde als positiv wahrgenommen:

„Man kann so ein bisschen entspannter miteinander erstmal auch warm werden und anfangen und dann eben sehen: Brauche ich das überhaupt, dass man eine Psychotherapie macht oder geht es eben ohne, oder ist das eben doch kein Patient, keine Patientin für eine Psychotherapie. Ich finde das gut und sinnvoll als sozusagen niederschwelligere Stufe und Angebot.“

In allen Fokusgruppen wird konstatiert, dass sich der erste Zugang zum*zur Psychotherapeut*in durch die Einführung der Sprechstunde beschleunigt habe. Ein Teil der Psychotherapeut*innen beschreibt auch eine Veränderung des Patientenklientels:

Es „kommen deutlich mehr Patienten, bei denen eine Richtlinienpsychotherapie nicht indiziert ist. Das, sondern andere Maßnahmen. Also auch die unterschiedlichsten Formen psychosozialer Betreuung oder psychiatrischer oder sozialpsychiatrischer Betreuung. Es kommen auch deutlich mehr Patienten, die ein Rentenanliegen haben.

Von Seiten der Patientenvertreter*innen wird allerdings kritisiert, dass Patient*innen sich teilweise durch die Sprechstunde unter Druck gesetzt fühlten, zu beweisen, dass ihnen eine Psychotherapie zustehe. Zudem berichten sie, dass den Patient*innen nicht immer der Unterschied zwischen einer Sprechstunde und dem Beginn einer Richtlinientherapie klar sei, was zu Enttäuschungen führe.

Psychotherapeut*innen beschreiben, sowohl im Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen als auch mit Erwachsenen, sehr vielfältige Arten von Empfehlungen im Anschluss an die Sprechstunden.

„So können demnach Patient*innen kompetente Aufklärung darüber bekommen, was gibt es eigentlich alles so an Möglichkeiten. Von Beratungsstellen über tagesklinische Angebote bis hin zu psychiatrischen Institutsambulanzen. Also das erklärt denen ja sonst keiner.“

Die Patientenvertreter*innen sehen die Berufsgruppe der Psychotherapeut*innen in sich differenziert hinsichtlich der Empfehlungen im Anschluss an die Sprechstunde:

Es gibt sehr sehr engagierte Therapeuten, die sich gut auskennen in der lokalen Versorgungslandschaft.“ […] „Aber es gibt eben leider auch sehr viele, die da nicht so firm sind und da gar nicht die Möglichkeit haben oder die Ideen haben, wo sie vielleicht für die Übergangszeit, also in der Wartezeit auch ein Therapieplatz, wo sie hin vermitteln können”.

Von Kassenseite wird einerseits die Steuerungsfunktion der Sprechstunde positiv gesehen, jedoch bemängelt, dass die Krankenkassen keine Informationen über die Empfehlungen als Ergebnis der Sprechstunde erhalten.

„Denn am Ende des Tages weiß ich ja dann immer noch nicht, ob […] in der Sprechstunde vielleicht eher, sagen wir mal Angebote außerhalb einer Psychotherapie empfohlen wurden, und wir bekommen aber dennoch den Antrag auf Psychotherapie.“

In der Fokusgruppe wird unter den Kassenvertreter*innen kontrovers diskutiert, ob die jeweiligen Kassen basierend auf bekannten Empfehlungen auch in der Lage wären, den Weiterleitungsprozess aktiv zu begleiten.

Die Psychotherapeut*innen diskutierten über den Einfluss der Reform auf die Vernetzung untereinander und mit anderen Institutionen durch die Einführung insbesondere der Sprechstunde. Während einige hier keine Veränderungen sehen, konstatieren andere eine stärkere Auseinandersetzung mit anderen Versorgungsangeboten. Auch die Psychotherapeut*innen selber seien untereinander zwecks Weiterverweisung stärker vernetzt. Aktivitäten, u. a. der Psychotherapeutenkammern, werden in diesem Zusammenhang als förderlich erwähnt. Problematisiert wurde jedoch, dass sich die für Richtlinientherapie zur Verfügung stehende Arbeitszeit durch das Sprechstundenangebot (ergänzt um den zusätzlichen Aufwand durch die telefonischen Erreichbarkeitszeiten) vermindert habe. Ein Mangel an Kapazitäten für die Richtlinientherapie und entsprechende Wartezeiten führten bei den Patient*innen teilweise zur Inanspruchnahme mehrerer Sprechstunden bei verschiedenen Psychotherapeut*innen.

Von allen Interessensgruppen wird ein Mangel an Therapieplätzen im ländlichen Raum berichtet. Dazu kritisieren Patientenvertreter*innen die eingeschränkte Möglichkeit, eine Psychotherapie über Kostenerstattung bei einem/-er nicht im Rahmen der Bedarfsplanung zugelassenen Psychotherapeut*in zu erhalten, falls nicht die Dringlichkeit auf der nach der Sprechstunde ausgehändigten individuellen Patienteninformation (PTV 11) bescheinigt ist. Die Mangelsituation an Psychotherapie-Angeboten führe außerdem aus Sicht von Patientenvertreter*innen zu fehlenden Wahlmöglichkeiten und damit zum Teil schlechter Patient-Therapeut-Passung.


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Psychotherapeutische Akutbehandlung

Die Akutbehandlung und deren Umsetzung wird insbesondere in den Fokusgruppen der Psychotherapeut*innen thematisiert. Sowohl die Psychotherapeut*innen als auch die Kassenvertreter*innen gaben an, dass die Akutbehandlung bislang eher seltener genutzt/abgerechnet wird. Dabei wurde die Leistungsform unterschiedlich eingeschätzt, einerseits als gute Möglichkeit zur Intervention in akuten Krisen, andererseits als Ausdruck eines als versorgungspolitisch problematisch konnotierten Trends zur Kurzzeittherapie.

Die Psychotherapeut*innen geben an, in der Regel keine festen Zeiten für Akuttherapien aktiv vorzuhalten, sondern diese, wenn überhaupt, flexibel einzusetzen. Dann ist das Nutzungsspektrum allerdings breit und reicht von der Behandlung einer erneuten Krise bereits bekannter Patient*innen bis hin zur Indikationsüberprüfung für eine Überleitung in eine Richtlinientherapie. Bezüglich der Einbindung in das Gesamtkonzept der Psychotherapie-Richtlinie wird seitens der teilnehmenden Psychotherapeut*innen kritisiert, dass die Akutbehandlung auf das Stundenkontingent der Richtlinientherapie angerechnet wird. Einige Kassenvertreter*innen berichten aufgrund von Rückmeldungen ihrer Versicherten, dass teilweise auf eine erste Stunde Akutbehandlung keine weiteren Behandlungsstunden angeboten würden.


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Rezidivprophylaxe

Bezüglich der Rezidivprophylaxe zeigen sich Psychotherapeut*innen und Patientenvertreter*innen in ihrer Einschätzung sehr ähnlich. Grundsätzlich werden sowohl ein Ausschleichen der Therapie als auch die Möglichkeit einer späteren Krisenintervention als sinnvoll angesehen. Allerdings wird keine relevante Erweiterung im Vergleich zur Praxis vor der Reform gesehen:

Aber ich hatte immer die Möglichkeit, die Sitzungsfrequenz zum Ende der Behandlung zu strecken. […] Also ich konnte auch in dieser Richtlinie vor der Reform meine Patienten adäquat behandeln“.

Insbesondere wird kritisiert, dass die Stunden der Rezidivprophylaxe im Therapiekontingent enthalten sind. Nach Einschätzung der Kassenvertreter*innen wird diese Leistungsform relativ selten explizit genutzt.

Alter Wein in neue Schläuche oder verändertes Versorgungsmodell?

Die Reform der Psychotherapie-Richtlinie setzte u. a. auf einen Paradigmenwechsel in der Rolle der Psychotherapeut*innen; neben die individuelle Patient*innenbehandlung sollte verstärkt eine allgemeine Versorgungsorientierung gestellt werden, die sich in einer erweiterten Steuerungsfunktion der Patient*innenströme ausdrücken sollte. Dieser Paradigmenwechsel wurde in den Fokusgruppen seitens der Psychotherapeut*innen unterschiedlich rezipiert. Die Statements zeigen ein Spannungsfeld zwischen einer allgemeinen Versorgungsorientierung und einer rein individuellen Perspektive mit dem Fokus auf der Beibehaltung der bisherigen Vorgehensweise: Einige der Teilnehmer*innen unterstützen den Paradigmenwechsel zum Versorger stark:

„Das heißt also die kuschelige Eins-zu-Eins Beziehung in der privaten Praxis verlassen und eine Verantwortung spüren über den Menschen, der da zu einem gekommen ist, dessen Versorgung mit in die Hand zu nehmen. Selbst wenn man sie auch selber gar nicht machen kann.“

Andere wiederum setzen die bisherige aus ihrer Sicht bewährte Praxis fort:

„Und ich habe mir dann recht erfolgreich vorgenommen meine bisherige Arbeitsweise selbstbestimmt fortzuführen, um mich nicht so viel ändern zu lassen.“

Eine dritte Gruppe nimmt Versorgungsziele und individuelle therapeutische Beziehung insbesondere auch unter dem Eindruck weiter bestehender Wartezeiten auf Richtlinientherapie teilweise im Konflikt wahr und versucht, für sich gangbare Wege zu finden:

„Auf der anderen Seite sind wir Teil dieser Versorgung und können aus meiner Sicht jetzt auch nicht da jeder sein eigenes Konzept haben. Aber ich finde es einen konflikthaften Bereich, also ich finde das schwierig. Ich mach es so gut es geht, wie wahrscheinlich die Meisten.“

In einer Fokusgruppe der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen wird der Aspekt thematisiert, dass die Versorgungs- und Vernetzungsorientierung in dieser Gruppe aufgrund ihrer häufigen beruflichen Vorerfahrung in anderen sozialen Berufen stärker sein könnte als bei den Erwachsenenpsychotherapeut*innen mit häufig geradlinigeren Berufszugängen. Angemerkt wurde außerdem, dass der Versorgungsaspekt auf dem Land aufgrund des generell geringeren Angebots an Leistungserbringern schon vor der Strukturreform eine größere Rolle gespielt habe.


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Diskussion

Die Ergebnisse der Fokusgruppen zeigen, dass die telefonische Erreichbarkeit und die psychotherapeutische Sprechstunde von den unterschiedlichen Akteuren durchaus positiv aufgenommen wurden und zur Verbesserung der Versorgung bzw. einzelner Abläufe beigetragen haben. Aus Patient*innensicht besteht allerdings teilweise Unbehagen bzgl. der Bewertung ihrer Behandlungsbedürftigkeit in der Sprechstunde.

Insgesamt wird deutlich, dass sich eine verbesserte Versorgungssteuerung durch die Einführung einer vorgelagerten Sprechstunde nicht per se, also unabhängig von der Art der Umsetzung und den Rahmenbedingungen für das Leistungsangebot, ergibt. Die Fokusgruppenergebnisse deuten darauf hin, dass der Anstoß zum Paradigmenwechsel durch die Reform seitens der Psychotherapeut*innen sehr unterschiedlich wahrgenommen und umgesetzt wird. Es existiert ein Spannungsfeld zwischen der in der Richtlinienreform adressierten Public-Health Perspektive mit Fokus auf der Steuerung der Versorgung einerseits und der Konzentration auf den individuellen Therapieprozess der eigenen Patient*innen andererseits. Die Balance zwischen beiden Aspekten wird seitens der Psychotherapeut*innen individuell unterschiedlich eingeschätzt und implementiert. Zudem bestehen strukturelle Aspekte, die sich ausgehend von der individuellen Ebene der einzelnen Therapeut*innen nur bedingt beeinflussen lassen, so wie das jeweilige regionale Angebot in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung. Auch vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen wird die ungleichmäßige regionale Verteilung des Angebots an ambulanter Psychotherapie beschrieben [14]. Diese Problematik überlagert auch die Wahrnehmung der Reformauswirkungen durch die Patient*innen, die von Friktionen beim Übergang von der Sprechstunde in die Richtlinientherapie betroffen sind. Insgesamt wird in der Literatur übereinstimmend berichtet, dass die psychotherapeutische Sprechstunde den psychotherapeutischen Erstkontakt erleichtert; inwiefern aber wiederum die Zeiten bis zum Beginn einer Richtlinientherapie weiterhin zu lang bleiben oder sich sogar verlängert haben, bleibt bisher strittig, siehe z. B. [15] [16].

Kritischer werden die Einführung der psychotherapeutischen Akutbehandlung und Rezidivprophylaxe diskutiert. Auch Studien zeigen Zurückhaltung gegenüber der Anwendung [16] [17]. Obwohl grundsätzlich die Ziele dieser beiden Elemente positiv bewertet werden, scheint die praktische Umsetzung aus verschiedenen Gründen schwierig. Seitens der Psychotherapeut*innen wird insbesondere bemängelt, dass sowohl die Stunden der Akutbehandlung als auch die der Rezidivprophylaxe auf die Therapiekontingente der Richtlinientherapie angerechnet werden. Dies führt dazu, dass bei Durchführung einer Akutbehandlung oder Rezidivprophylaxe die Anzahl an Therapiestunden für Richtlinientherapie sinken.

Allerdings sind bei der Interpretation der Ergebnisse auch Limitationen zu berücksichtigen. Fokusgruppen dienen in erster Linie der Hypothesengenerierung. Aufgrund der Größe und Anzahl der Fokusgruppen lassen sich ihre Ergebnisse nicht verallgemeinern. Die hier durchgeführten Fokusgruppen geben erste wichtige Hinweise darauf, welche Elemente der Reform aus den unterschiedlichen Perspektiven positiv aufgenommen wurden und an welchen Stellen Hemmnisse und Hürden wahrgenommen werden, die ggf. Anpassungen erforderlich machen könnten.

Fazit

Die Ergebnisse der Fokusgruppen machen deutlich, dass die Strukturreform der Psychotherapie-Richtlinie durch die niedergelassenen Psychotherapeut*innen sehr unterschiedlich umgesetzt wird. Dabei besteht nach den Berichten von Teilnehmer*innen der Fokusgruppen die Mangelsituation an Therapieplätzen für die Richtlinientherapie insbesondere in ländlichen Regionen fort. Die auf Basis der Fokusgruppen entwickelten Hypothesen werden im Rahmen von geplanten quantitativen Befragungen und der Routinedatenanalyse überprüft.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Danksagung

Ein Dank geht an die Projektpartner für Ihre Unterstützung bei der Umsetzung der Fokusgruppen und Interviews.

1 Die hier vorgestellten Daten stammen aus einer anonymen Umfrage, die den Teilnehmenden vor Beginn der Fokusgruppe/des Einzelinterviews zugesandt wurde. Es kann retrospektiv nicht nachvollzogen werden, ob alle Teilnehmenden an der Umfrage teilgenommen haben und ob ggf. Personen, die spontan verhindert waren, die Umfrage bereits ausgefüllt hatten.



Korrespondenzadresse

Dr. Carina Abels
Universitat Duisburg-Essen – Campus Essen
Lehrstuhl für Medizinmanagement
Thea-Leymann-Str. 9
45141 Essen
Germany   

Publication History

Article published online:
12 April 2023

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Abb. 1 Ort der psychotherapeutischen Praxis.
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Abb. 2 Dauer der Praxistätigkeit.