Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2023; 28(05): 236-241
DOI: 10.1055/a-1967-4931
Originalarbeit

Führt die Einführung eines DMP Adipositas zur Verbesserung der Behandlung von Adipositaspatient*innen: eine qualitative Analyse

Does the Introduction of an Obesity DMP Lead to an Improvement in the Treatment of Obesity Patients? A Qualitative Analysis
Denise Wellhöfer

Zusammenfassung

Hintergrund Disease Management Programme (DMP) sind strukturierte Behandlungsprogramme zur koordinierten Behandlung ausgewählter chronischer Krankheiten von der Prävention bis zur Nachsorge [1]. Das zunächst 2022 geplante strukturierte Behandlungsprogramm (DMP) Adipositas soll im Rahmen des Gesetzes 2023 auf den Weg gebracht werden [2] [11]. In Deutschland sind laut Adipositas Gesellschaft (DAG) ein Viertel der rund 66 Millionen erwachsenen Bundesbürger* innen adipös, davon sind 23% Männer und 24% Frauen [3] [4]. Die Weltgesundheitsorganisation klassifiziert Erwachsene mit einem BMI über 30 als adipös [5]. Die Krankheit trägt zu einem erhöhten Risiko für verschiedene Gesundheitsprobleme und Folgeerkrankungen bei. Mit diesen vielfältig assoziierten Folgeerkrankungen entstehen erhebliche Kosten für das Gesundheits- und Sozialsystem [6] [7]. Obwohl es bereits zahlreiche verschiedene Programme und einen großen Markt für die Abnehmindustrie gibt, ist eine kontinuierliche, strukturierte Versorgung von Menschen mit Adipositas noch nicht gewährleistet [8]. Eine Möglichkeit zur Versorgungsunterstützung liegt in den Bereichen Digital Health [9] und Interprofessionelle Zusammenarbeit, die aus Expert*innensicht eingeschätzt werden soll.

Zielsetzung Das Studienziel ist eine qualitative Analyse der Einschätzungen von ernährungs- und adipositasspezifischen Expert*innen aus verschiedenen Professionen, die sich derzeit mit der Behandlung von Adipositas beschäftigen. Sie sollen zur neuen möglichen Versorgungsform befragt werden, um denkbare Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren zu erforschen. Zudem wird eine Einschätzung des potenziellen DMP Adipositas im Zusammenhang mit Digital Health und Interprofessionalität untersucht.

Methode Es wurden halbstrukturierte qualitative Interviews mit zehn Expert*innen aus verschiedenen ernährungs- und adipositasspezifischen Bereichen geführt und unter Einsatz des qualitativen Datenanalyseprogramms MAXQDA auf Basis der Analyse nach Kuckartz inhaltsanalytisch ausgewertet [10].

Ergebnisse Die Ergebnisse zeigen, dass ein Disease Management Programm eine Reihe an Erfolgsaspekten mit sich bringt, jedoch auch gewisse Misserfolge mit sich bringen kann. Dabei stellte sich in diesem Zusammenhang heraus, dass Aspekte wie interprofessionelle Behandlung, festgelegte Finanzierung, gesteigerte Selbstwahrnehmung, Langzeiteffektivität, Frühdiagnostik, gesteigerte Lebensqualität, Wissensvermittlung, Adipositas-Lotsen und die Anerkennung des Krankheitsbild Adipositas als erfolgsversprechend angesehen werden und durch den strukturierten, definierten Behandlungspfades des künftigen Disease Management Programm Adipositas gefördert werden sollten. Der Wunsch nach einem definierten Schweregrad für die spezifischen Behandlungsziele der Expert*innen wurde zusätzlich als Erfolgsfaktor analysiert. Der Umgang mit Digital Health wurde ambivalent, sowohl vorteilig als auch nachteilig, bewertet. So kann eine digitale Gesundheitsanwendung neben der persönlichen Betreuung einen positiven Aspekt im Bereich Prävention und Langzeitbetreuung mit sich bringen. In Bezug auf die interprofessionelle Zusammenarbeit in einem DMP wurde diese als überwiegend förderlich erachtet und nur dann negativ konnotiert, wenn Interessenskonflikte, beispielsweise durch den bereits genannten Aspekt der Finanzierung, entstehen.

Fazit Zusammenfassend hat diese qualitative Forschung gezeigt, dass neben einem DMP weitere Schritte nötig sind und Optimierungsbedarf bei bereits bestehenden Ansätzen in der Adipositasversorgung in Deutschland besteht. Dabei wurde sowohl auf die nötige politische Unterstützung, die Finanzierung auf den verschiedenen Ebenen, als auch den Zeitfaktor für eine ausreichende individuelle Ursachenanalyse, Aufklärung und Wissensvermittlung sowie allgemeine Gesundheitsförderung eingegangen. Diese Forschungsarbeit kann durch die Darlegung der bestehenden Defizite und Optimierungsvorschläge der Expert*innen dazu führen, dass die Gesundheitskompetenz der interprofessionellen Akteur*innen in der Adipositasversorgung, die Förderung von digitalen Gesundheitsanwendungen in Kombination mit einem strukturierten Behandlungsprogramm und die politische Aufmerksamkeit für die Erkrankung Adipositas gestärkt werden und in diesen Bereichen in Zukunft nachjustiert wird.

Abstract

Background Disease Management Programmes (DMPs) are structured treatment programmes for the coordinated treatment of selected chronic diseases from prevention to aftercare [1]. The structured treatment programme (DMP) for obesity, initially planned for 2022, is to launched under the law 2023 [2] [11]. According to the German Obesity Society (DAG), a quarter of Germany’s 66 million adult citizens are obese, 23% of whom are men and 24% women [3] [4]. The World Health Organisation classifies adults with a BMI over 30 as obese [5]. The disease contributes to an increased risk of various health problems and secondary diseases. These variously associated secondary diseases result in considerable costs for the health and social system [6] [7]. Despite numerous different programmes and a large market for the weight loss industry, continuous, structured care for people with obesity is not yet guaranteed [8]. Due to the considerable delta between actual and target care for obesity, a DMP obesity appears to be a sensible solution. One possibility to support care is the aspect of digital health [9] and interprofessional collaboration, which will be assessed from an expert perspective.

Objective The aim of the study is to qualitatively analyse the view of nutrition and obesity-specific experts currently involved in the treatment of obesity on the new possible form of care DMP Obesity in order to investigate possible success and failure factors. Furthermore, an assessment of the DMP potential in the context of digital health and interprofessionality was made.

Method Semi-structured qualitative interviews were conducted with ten experts from different nutrition and obesity-specific fields analysed using the MAXQDA computer system based on content analysis according to Kuckartz [10].

Results The results show that a disease management programme brings a number of aspects of success, but can also cause certain failures. In this context, it turned out that aspects such as interprofessional treatment, fixed financing, increased self-awareness, long-term effectiveness, early diagnosis, increased quality of life, knowledge transfer, obesity pilots and the recognition of obesity as a disease are expected to be promoted and promising through the structured defined treatment path of the future Disease Management Programme Obesity. The desire for a clearly defined severity level for the specific treatment goals of the experts was additionally analysed as a success factor. The handling of digital health was evaluated ambivalently, both advantageously and disadvantageously. Thus, a digital health application can bring a positive aspect in the area of prevention and long-term care in addition to personal care. With regard to interprofessional cooperation in a DMP, this was considered to be predominantly supportive and only negative when conflicts of interest arise, for example, due to the already mentioned aspect of financing.

Conclusion In conclusion, this qualitative research has shown that in addition to a DMP, there are further steps and a need for optimisation in already existing approaches in obesity care in Germany. Political support, funding at the different levels as well as the time factor for sufficient individual cause analysis, education and knowledge transfer as well as health promotion were addressed again. This research can lead of the existing deficits and optimisation proposals of the experts to a strengthening of the health competence of the interprofessional actors in obesity care, the promotion of digital health applications in combination with a structured treatment programme and the political attention for the disease obesity as well as to readjustments in the future.



Publication History

Article published online:
14 December 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
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