Z Sex Forsch 2022; 35(04): 246-247
DOI: 10.1055/a-1956-7155
Buchbesprechungen

The Oxford Handbook of Sexual and Gender Minority Mental Health

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Esther D. Rothblum, Hrsg. The Oxford Handbook of Sexual and Gender Minority Mental Health. New York, NY: Oxford University Press 2020 (Reihe: Oxford Library of Psychology). 984 Seiten, USD 115,00

Der Blick der Psychiatrie und Psychotherapie auf sexuelle und geschlechtliche Minderheiten (Sexual and Gender Minorities, SGM) hat sich in den Jahrzehnten seit ihren Anfängen stetig gewandelt. Mit sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten meinen die Autor*innen Lesben, Schwule, Bisexuelle und auch alle sexuellen Identitäten, die von der Mann-Frau-Binarität abweichen (also inter, trans*, non-binär etc.). Während in den 1950er-Jahren Homosexualität noch als eine psychische Störung betrachtet wurde, ist diese Diagnose spätestens seit den 1990er-Jahren nicht mehr in den offiziellen Diagnosemanualen enthalten. Eine ähnliche Tendenz hin zur Depathologisierung erleben wir gerade hinsichtlich Geschlechtsidentitäten, die von der Mann-Frau-Binarität abweichen, was sich auch in der aktuellen ICD-11 abzeichnet.

Nichtsdestotrotz sind die Herausforderungen und Besonderheiten für die mentale Gesundheit von SGM-Personen nicht so gut untersucht wie diejenigen für die psychische Gesundheit von heterosexuellen cis Personen. Dies hat den Ursprung darin, dass bisher stets der Fokus auf der „Störung“ lag, welche im Zentrum der Forschung stand. Erst in den letzten Jahren fand hier ein Paradigmenwechsel statt und die psychische Gesundheit dieser Minderheiten wird jenseits des Störungsbegriffes untersucht.

Eine mittlerweile häufig wiederholte Beobachtung ist, dass SGM-Menschen häufiger unter psychischen Erkrankungen leiden als die heterosexuelle cis Bevölkerung. Dies wird häufig mit der Minderheiten-Stress-Hypothese erklärt, die besagt, dass SGM-Personen vermehrt psychosozialen Stressoren (z. B. Ausgrenzung, Stigmatisierung) ausgesetzt sind, was wiederum die Entstehung von psychischen Erkrankungen begünstigt.

Im vorliegenden Handbuch werden die aktuellen Befunde zur psychischen Gesundheit von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten zusammengetragen und referiert. Das Buch besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil finden sich zwei geschichtliche Abrisse über die bisherigen Entwicklungen in den Disziplinen der Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie, unterteilt nach sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität. Diese Kapitel stellen eindrucksvoll den Weg dar, den diese Disziplinen genommen haben, um beim heutigen Verständnis einer nicht-pathologischen Sichtweise auf sexuelle Minderheiten anzukommen. In Bezug auf geschlechtliche Minderheiten hat sich bereits einiges in die Richtung der Depathologisierung bewegt, dennoch befinden wir uns wohl noch mitten in der Debatte.

Im zweiten Teil werden einzelne Aspekte psychischer Gesundheit genauer beleuchtet und jeweils der aktuelle Forschungsstand zusammengetragen. Dieser Teil des Buches ist, ähnlich wie bspw. ICD-10-Kapitel, nach Diagnosen psychischer Erkrankungen unterteilt: Depression, Angststörung, Suchterkrankungen etc. Dieser Teil eignet sich besonders gut als Nachschlagewerk für klinisch arbeitende Kolleg*innen. Positiv hervorzugeheben ist hier, dass die Autor*innen auch explizit auf die Situation von Menschen in nicht-westlichen Ländern eingehen, deren gesellschaftliche Situation mit denen der westlichen Welt häufig nicht vergleichbar ist. Einziger Wermutstropfen: Liest man das Buch am Stück, so wirken die Informationen recht redundant, da sexuelle Minderheiten eben beispielsweise sowohl von Depressionen als auch Angststörungen (usw.) häufiger betroffen sind und die zugrunde liegenden Modelle sich ähneln. Da dieses Werk aber aufgrund seines Umfangs wohl häufig als Nachschlagewerk genutzt werden wird, ist dieser Kritikpunkt vernachlässigbar.

Im dritten Teil des Buches werden spezifische Populationen von geschlechtlichen Minderheiten untersucht und der intersektionale Ansatz des Buches noch einmal vertieft. So gibt es ein Kapitel über Schwarze SGM-Personen in den USA, aber auch ein Kapitel über ältere Erwachsene, über Kinder und auch über Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen. Auch non-binäre, intersex* und polyamourös lebende Menschen werden referiert. Das ganze Spektrum der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt wird abgebildet, was sicherlich eine Stärke dieses Werkes darstellt. Darüber hinaus werden aktuelle Forschungslücken aufgezeigt und diskutiert, was dieses Buch auch für Wissenschaftler*innen interessant macht.

Das Buch präsentiert sich als wertvolles Nachschlagewerk, das in seinem intersektionalen Ansatz sicherlich auf der Höhe der Zeit ist. Es kann, trotz seines Fokus auf die US-amerikanische Gesellschaft, sowohl in der klinischen Praxis als auch als Überblickswerk für die wissenschaftliche Debatte dienen.

Laura I. Kürbitz (Hamburg)



Publication History

Article published online:
06 December 2022

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