Psychiatr Prax 2023; 50(02): 64-66
DOI: 10.1055/a-1944-9333
Debatte: Pro & Kontra

Psychologinnen und Psychologen im Bereitschaftsdienst

Sylvia Claus

 

Kontra

Psychische Erkrankungen sind häufig: Laut DEGS – Studie erfüllt etwa ein Drittel der Allgemeinbevölkerung im Laufe eines Jahres die Kriterien für mindestens eine psychische Erkrankung, 1–2% sind schwer psychisch krank [1]. Die Inanspruchnahme der zentralen Notaufnahme durch psychiatrische Patienten liegt bei 12% und damit an vierter Stelle, im ärztlichen Notdienst sind es etwa 25% [2].

Aufgrund flächendeckend fehlender ambulanter Krisenversorgung ist der Druck auf die Dienstärzte in psychiatrischen Kliniken enorm, sie sehen rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr Notfälle, beurteilen Dringlichkeit und Gefährdungslage und führen Patienten einer bedarfsgerechten Behandlung zu. Neben der zentralen Aufnahme muss bei reduzierter personeller Ausstattung außerhalb der Regelarbeitszeit auch die stationäre Patientenversorgung von den diensttuenden Mitarbeitenden sichergestellt werden. Regionale Unterschiede bedingen vielfältige Dienstmodelle, Nachtdienste werden separat und individuell mit den Kostenträgern vereinbart. Während im Tagdienst eine Vielzahl von Berufsgruppen am Behandlungsprozess beteiligt ist, wird die Notfallversorgung in den psychiatrischen Kliniken vorwiegend durch den ärztlichen und den pflegerischen Dienst aufrechterhalten. Bei gravierendem Ärztemangel und einer Mehrung der Psychologinnen und Psychologen in den Kliniken liegt der Gedanke nahe, insbesondere approbierte Beschäftigte dieser Berufsgruppe am Nachtdienst zu beteiligen. Dabei gilt es folgende Aspekte zu berücksichtigen:

Psychiatrische Symptomatik bei organisch – bedingten Erkrankungen

Psychiatrische Syndrome im Rahmen somatischer Erkrankungen sind häufig, die Prävalenz ist schwer abschätzbar, sie umfassen etwa 20% aller Anfragen im Konsiliar- und Liaisondienst eines Allgemeinkrankenhauses [3]. Medikamentöse, akutneurologische, infektiöse, aber auch metabolische und andere somatische Ursachen müssen differentialdiagnostisch berücksichtigt werden bei deliranter, psychotischer oder affektiver Symptomatik. Psychoorganische Störungen bedürfen neben einer frühzeitigen Diagnostik einer differenzierten medikamentösen Behandlung [4]. Eine körperliche und neurologische Untersuchung unmittelbar in der Aufnahmesituation ist die Basis für erste differentialdiagnostische Überlegungen, Laboruntersuchungen, Bildgebung sowie eine fremdanamnestische Erhebung der somatischen Vorgeschichte. Dabei bedarf es eines breiten fach- und allgemeinmedizinischen Verständnisses, um die klinische Symptomatik mit den pathophysiologischen Zusammenhängen in Beziehung zu setzen und eine zielgerichtete Behandlung einzuleiten. Völlig zurecht wird vor diesem Hintergrund auch in der neuen Musterweiterbildungsordnung am neurologischen Jahr als Teil der Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie festgehalten.


Psychiatrische Notfälle

Psychomotorische Erregungszustände bedingen Akutaufnahme, häufig in der Nacht und nicht selten in Polizeibegleitung: Neben schweren Alkoholintoxikationen und akut exazerbierten Psychosen kommen sie bei dementiellen Erkrankungen oder im Rahmen eines multifaktoriell bedingten Delirs vor. Diese Patientinnen und Patienten sind in der Regel nicht mit einer freiwilligen Aufnahme einverstanden und es bedarf einerseits umfassender deeskalierender Maßnahmen, um die Krise zu entschärfen und andererseits – wenn nicht anders möglich – einer entschlossenen sedierenden Medikation, um die Gefahrenlage abzuwenden [5]. In solchen Stresssituationen muss eine kontinuierliche Überwachung und Interpretation der Vitalparameter und der klinischen Symptomatik gewährleistet sein. Der Behandler muss erfahren und vertraut sein mit der entsprechenden Notfallmedikation, mit dem Ziel der emotionalen Entlastung gerade in Situationen, in denen die Kommunikation erheblich erschwert ist.


Zwangsmaßnahmen

Psychiatrische Kliniken haben neben der medizinischen Behandlung auch einen Sicherungsauftrag bei akuten Gefährdungslagen, deren Ursache in einer psychischen Erkrankung vermutet wird. Gelingt es nicht, die Betroffenen von der Notwendigkeit des Krankenhausaufenthaltes zu überzeugen, wird ein richterliches Unterbringungsverfahren in die Wege geleitet. Im Einzelfall werden Fixierungsmaßnahmen mit entsprechender sedierender Medikation erforderlich. Hierbei handelt es sich um einen erheblichen Eingriff in die persönliche Freiheit des Einzelnen, der alle medizinisch relevanten Aspekte, die zur Unterbringung geführt haben, berücksichtigen muss [6]. Um dies sicherzustellen, bedarf es der psychiatrischen Expertise und der ärztlichen Letztverantwortung für den diagnostischen und therapeutischen Behandlungsverlauf. Dies muss zeitnah und nach persönlicher Beurteilung der Situation erfolgen und kann nicht durch einen lediglich im Hintergrund tätigen fachärztlichen Dienst ersetzt werden.


Somatische Komorbidität

Fazit

In keiner medizinischen Fachdisziplin ist die multiprofessionelle Zusammenarbeit von so großer Bedeutung wie in der Psychiatrie. Die Evidenz psychotherapeutischer Interventionen ist unbestritten und hat zurecht Einzug gefunden in allen Behandlungsleitlinien. Bezüglich der Erfordernisse bei der psychiatrischen Aufnahme und in psychiatrischen Notfallsituationen während des Klinik-aufenthaltes bedarf es allerdings allgemeinmedizinischer und fachpsychiatrischer Kenntnisse, die weder im Rahmen eines Psychologie- Studiums noch im Rahmen des neuen Studienganges Psychotherapie erworben werden. Das Psychotherapie-Direktstudium fördert die Aufspaltung zwischen Körper und Seele und koppelt die nicht-ärztlichen Psychotherapeuten weiter von der Medizin ab [7]. Patienten in unklaren Notfallsituationen – egal ob psychisch oder somatisch bedingt – haben ein Recht auf kompetente ärztliche Diagnostik und Behandlung, hier müssen körperlich und seelisch erkrankte Menschen uneingeschränkt gleichgestellt bleiben. Der Einsatz von Psychologinnen und Psychologen im Nachtdienst kann in psychiatrischen Fachkliniken allenfalls ein Add-on zur Unterstützung der Dienstärzte, die die Gesamtverantwortung für die medizinische Versorgung aller Patienten tragen, sein.



Autorinnen/Autoren

Zoom
Sylvia Claus

Interessenkonflikt

Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. med. Sylvia Claus
Pfalzklinikum für Psychiatrie und Neurologie
Weinstraße 100
76889 KlingenmünsterDeutschland

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
14. März 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


Zoom
Sylvia Claus