Klinische Präsentation
Mit der Zulassung der ersten Impfstoffe gegen das severe acute respiratory
syndrome coronavirus-2 (SARS-CoV-2) durch die Europäische
Arzneimittelagentur (EMA) verband sich Ende des Jahres 2020 die Aussicht, ein
wirksames Mittel zur Eindämmung der coronavirus infection disease
2019 (COVID-19) Pandemie zur Verfügung zu haben. Nur wenige Wochen
nach dem Start der Impfkampagne kam es im März 2021 allerdings zu ersten
Meldungen über schwere post-vakzinale Komplikationen. Betroffen waren
Personen, die einen der Adenovirus-vektorbasierten Impfstoffe der beiden Firmen
AstraZeneca (ChAdOx1 nCoV-19) oder später Johnson & Johnson
(AD26.COV2.S) erhielten [1]
[2]. ChAdOx1 nCoV-19 basiert auf einem
rekombinanten Schimpansen-Adenovirus-Vektor, bei AD26.COV2.S handelt es sich um
einen rekombinanten humanen Adenovirus Typ 26 Vektor [1]. Beide übertragen DNA in die humane
Muskelzelle, die das Spike-Glykoprotein von SARS-CoV-2 enkodiert. Die Produktion der
Adenovirus-Vektoren erfolgt in humanen Zellkulturen (T-REx-293 Zellen [humane
embryonale Nierenzellen], ein HEK293 Derivat und PER.C6 TetR Zellen [humane
embryonale Retinazellen]) [3]
[4]
[5].
Das klinische Bild dieser Impfkomplikation ist geprägt von
ungewöhnlichen Thrombosen, vor allem in den Hirn- und Sinusvenen. In einer
größeren Fallserie (n=220) zur VITT aus dem Vereinigten
Königreich wiesen 50% der Patienten Sinus- und Hirnvenenthrombosen
auf, gefolgt von Lungenarterienembolien (29%), Thrombosen im
Splanchnikusgebiet (19%) und tiefe Beinvenenthrombosen (18%) [6]. Bei 29% der Patienten waren
Gefäßterritorien von zwei oder mehr Organsystemen betroffen. Jeder
fünfte Patient (21%) wies auch arterielle Thrombosen auf.
Die aktuell international etablierten Bezeichnungen sind Vaccine-induced immune
thrombotic thrombocytopenia (VITT) oder gemäß der World
Health Organization (WHO) Thrombosis with thrombocytopenia syndrome (TTS).
Der Begriff TTS sollte dabei eher als Überbegriff für das klinische
Bild einer Thrombozytopenie mit Thrombosen nach Impfung verstanden werden. Wenn dann
zusätzlich zu den klinischen Charakteristika plättchenaktivierende
PF4-abhängige Antikörper nachgewiesen werden, sollte aus Sicht der
Autoren weiterhin der Begriff VITT verwendet werden. Einige Patienten wurden
beobachtet, die eine Thrombozytopenie und Thrombosen entwickelt haben, ohne dass
funktionell aktive Anti-PF4-Antikörper gefunden worden. Es ist daher
möglich, dass auch andere Mechanismen, als die in diesem Artikel
beschriebenen Anti-PF4-Antikörper das Bild einer TTS auslösen.
Auch die COVID-19-Erkrankung selbst kann selten mit Sinus- und Hirnvenenthrombosen
einhergehen. Ihre Häufigkeit wurde in einer aktuellen Meta-Analyse mit 0,8
pro 100.000 hospitalierten COVID-19-Patienten angegeben [7]. Ähnlich wie bei der VITT kommt es
hier in der Mehrzahl der Fälle zur Manifestation multipler Thrombosen an
unterschiedlichen Stellen des zerebralen Sinus- und Venensystems.
Parenchymatöse Stauungsblutung treten in bis zu 42% der
Fälle auf und die Krankenhaus-Mortalität ist mit 40%
ebenfalls hoch [7]. Die Pathophysiologie der
COVID-19-assoziierten Sinus- und Hirnvenenthrombosen ist bislang nicht
geklärt und anders als bei der VITT konnten bislang keine
Frühindikatoren identifiziert werden.
Bei der VITT manifestieren sich die Thrombosen in der Regel 5–20 Tage nach
der Impfung. Bislang sind nahezu alle publizierten VITT-Fälle nach der
ersten Impfung mit dem ChAdOx1 nCoV-19- oder AD26.COV2.SVakzin aufgetreten. Erst
kürzlich wurde aus einer europäischen Registerstudie der erste
sichere Fall einer VITT beschrieben, die nach der 2. Impfung mit ChAdOx1 nCoV-19
aufgetreten ist [8]. Die Tatsache, dass die 2.
Impfung gegen SARS-CoV-2 in vielen europäischen Ländern seltener mit
dem ChAdOx1 nCoV-19-Vakzin durchgeführt wurde, erklärt die viel
seltener dokumentierten VITT-Fälle nach der 2. Impfung nicht ausreichend.
Die Ursache hierfür liegt vermutlich in der spezifischen PF4-vermittelen
Immunreaktion, die der Pathogenese der VITT zugrundeliegt.
Laborchemisch weisen die Betroffenen eine Kombination aus erniedrigter
Thrombozytenzahl und stark erhöhten D-Dimeren auf. Die Letalität in
den ersten publizierten Fallserien lag bei bis zu 60% [9]
[10]
[11]. Vor allem das
Ausmaß der Thrombozytopenie und die Manifestation intrakranieller Blutungen
ist mit einer erhöhten Letalität verbunden [6]. Viele der Betroffenen waren zuvor gesund
und wiesen keine relevanten Vorerkrankungen auf. Verglichen mit Sinus- und
Hirnvenenthrombosen anderer Ätiologien sind die klinischen Verläufe
bei der VITT schwerer [12]. Patienten mit
einer VITT weisen doppelt so häufig intrazerebrale Blutungen auf (68 vs.
35% bei nicht VITT-assoz. HSVT), haben eine 5-fach erhöhte
Wahrscheinlichkeit ein Koma zu entwickeln (24 vs. 5%) und müssen
mehr als 4-mal so häufig auf einer Intensivstation behandelt werden (80 vs.
18%) [12]. Die Manifestation von meist
multiplen Mikro- und Makrothrombosen an unterschiedlichen Lokalisationen der
zerebralen Sinus und Hirnvenen bei der VITT ist wahrscheinlich eine plausible
Erklärung für die schwereren Verläufe VITT-assozierter
Sinus- und Hirnvenenthrombosen im Vergleich zu einfachen Sinus- und
Hirnvenenthrombosen. [Abb. 1] zeigt das
Kopf-CT eines Patienten mit einer letal verlaufenden diffusen Sinus- und
Hirnvenenthrombosierung und ausgedehnter intrazerebraler Stauungsblutung im Rahmen
einer VITT. Es ist möglich, dass die hohe Rate intrakranieller Blutungen
durch einen zweiten Antikörper gegen Thrombozyten begünstigt wird.
In einem Mausmodell wurde kürzlich gezeigt, dass Adenoviren, die an die
Thrombozyten binden, über die Thrombozyten in die Milz gebracht werden und
dort mit B-Zellen reagieren [13]. Das Institut
für Transfusionsmedizin der Universtitätsmedizin Greifswald konnte
bei ca. einem Viertel der Patienten mit VITT zusätzliche
antithrombozytäre Antikörper nachweisen. Die Spezifität
dieser Antikörper unterscheidet sich nicht von Antikörpern, die bei
der typischen Autoimmun-Thrombozytopenie (ITP) gefunden werden [13].
Abb. 1 CT-Kopf eines Patienten mit letal verlaufender Hirn- und
Sinusvenenthrombose bei VITT. Der Patient stellte sich mit Kopfschmerzen und
einer zunehmenden Lähmung der linken Körperhälfte
vor. Im initialen CCT zeigte sich eine ausgedehnte Stauungsblutung
rechtshemispheriell bei diffuser Thrombosierung des Sinus sagittalis
superior und des angrenzenden Sinus rectus sowie einzelner
Brückenvenen rechts frontal. Das hier dargestellte CT erfolgte nach
dekompressiver Hemikraniektomie rechts und zeigt die weitere Progredienz der
Blutung, die schließlich zum Hirnfunktionsausfall
führte.
Aufgrund der hohen Letalität und Morbidität der VITT stoppten im
Frühjahr 2021 einige europäische Länder ihre Impfprogramme
mit ChAdOx1 nCoV-19 (Oxford-AstraZeneca) und AD26.COV2.S (Johnson &
Johnson). Zwei maßgebliche wissenschaftliche Erkenntnisse trugen dazu bei,
frühzeitig die Impfkampagnen wieder aufzunehmen:
-
Bei der VITT handelt um eine sehr seltene Komplikation in der
Größenordnung von 1–3 pro 100.000 Geimpfter (genaue
Inzidenzwerte liegen nicht vor, das Risiko ist jedoch bei
Menschen<60 Jahren höher). Die EMA und nationale
Impfkommissionen konnten rasch feststellen, dass die Vorteile der Impfungen
bei Weitem die potentiellen Risiken einer VITT übertreffen.
-
Es gelang früh die pathophysiologische Assoziation der VITT mit
Thrombozyten-aktivierenden Antikörpern (IgG) gegen
Plättchenfaktor-4 (PF4) aufzudecken und damit gezielte
Therapiemöglichkeiten in Form von i. v.-Immunglobulinen
(IVIG) und einer therapeutischen Antikoagulation zu etablieren [10].
Zusätzlich hat die Beschreibung des Prä-VITT Syndroms, einem
Prodromalstadium der VITT, zu dessen früher Erkennung und Therapie
beigetragen. So können thrombotische und hämorrhagische
Komplikationen der VITT frühzeitig erkannt und gegebenenfalls vermieden
werden [14]
[15]. Die Aufklärung der VITT-Pathogenese, die Etablierung
spezifischer Therapien und die Früherkennung sind im Laufe des Jahres 2021
von einer beeindruckenden Reduktion der VITT-assoziierten Mortalität von
50% auf 5% begleitet worden [16].
Die aktuell gültigen Diagnosekriterien der VITT sind (American Society of
Hematology, aktualisiert 9. Mai 2022 [17]):
-
Symptombeginn 4–42 Tage nach COVID-19 Impfung (ab Tag 20 vor allem
Spätmanifestation mit tiefen Beinvenenthrombosen und
Lungenarterienembolien)
-
Venöse oder arterielle Thrombose (häufig zerebral oder
abdominal)
-
Thrombozytopenie (<150.000/µl)
-
Positiver anti-PF4/Heparin-ELISA
-
Erhöhte D-Dimere (für
VITT>2 mg/l)
Es wird empfohlen, eine VITT-spezifische Behandlung zu beginnen, sobald die
klinischen und laborchemischen Kriterien erfüllt sind (Thrombozytopenie oder
erhöhte D-Dimere), bevor die Ergebnisse des anti-PF4-ELISA vorliegen [17]. Die meisten Fälle einer VITT
zeigen klinisch und laborchemisch einen transienten monophasischen Verlauf mit einem
Abfall der plättchenaktivierenden Anti-PF4-Antikörper nach wenigen
Monaten [18]. Allerdings sind vereinzelt auch
Patienten berichtet worden, bei denen plättchenaktvierende
Anti-PF4-Antikörper über Monate persitierten und dabei zu einem
erneuten Thrombozytenabfall sowie in Einzelfällen auch zu erneuten
Thrombosen führten [19].
Die Pathogenese der VITT
Pathophysiologisch weist die VITT Überschneidungen mit der
Heparin-induzierten Thrombozytopenie auf (HIT). Die mit der VITT assoziierten
Anti-PF4-IgG-Antikörper aktivieren Blutplättchen über den
thrombozytären FcγIIa-Rezeptor. Das Ausmaß der
Plättchenaktivierung wird dabei durch PF4 gesteigert. Ähnlich wie
bei der HIT liegt auch der VITT ein 2-stufiger Prozess zugrunde:
-
Stufe: Konformationsänderung von PF4 und gleichzeitige Induktion
eines inflammatorischen Prozess („danger signal“)
⇒ Bildung von PF4-Antikörpern ⇒ Aktvierung von
B-Zellen ⇒ Produktion von Anti-PF4-Antikörpern
-
Stufe (etwa 5–14d nach der Impfung): Hohe Titer von
Anti-PF4-Antikörpern ⇒ Plättchenaktivierung
über FcγIIa- Rezeptoren ⇒ Entwicklung klinisch
manifester Thrombosen
Für das Verständnis der VITT-Pathogenese ist es hilfreich,
zunächst die Rolle von PF4 und der Anti-PF4-Antikörper bei der
Infektabwehr zu beleuchten.
Die Rolle von PF4 und Anti-PF4-Antikörpern bei der
Infektabwehr
In der Infektabwehr ist PF4 als sog. Opsonin wirksam. Dabei bindet PF4 an
negativ-geladene Oberflächenstrukturen mikrobieller Erreger und schafft
so die Voraussetzung zur Bindung von Anti-PF4-Antikörpern und die
konsekutive Phagozytose [20]
[21]. Vermutlich gehört die anti-PF4
vermittelte Immunreaktion zu den angeborenen Antikörperreaktionen [22]
[23]. Sie hilft die Zeit zwischen Initialphase der Infektion und
Produktion spezifischer Antikörper zu überbrücken.
Wahrscheinlich ist somit die Anti-PF4-Immunantwort eine sehr
ursprüngliche, evolutionär alte Form der Immunabwehr. Nach der
initialen Opsonierung mikrobieller Erreger durch PF4 kommt es zu
Änderungen in der Faltstruktur von PF4 (sog. konformationale
Änderung) [24]. Durch diese
Änderung werden Neo-Epitope exponiert, an die
Anti-PF4-Antikörper binden können [25]
[26]. Untersuchungen unter Blutspendern haben gezeigt, dass sich
niedrige Titer von Anti-PF4-Antikörpern auch bei bis zu 6% von
Gesunden finden [27]. Etwas höhere
Raten finden sich bei Personen mit umschriebenen chronischen
Enzündungen, ohne dass hiermit ein erhöhtes
kardiovaskuläres Risiko oder erhöhte Thromboseraten verbunden
sind [28].
Bindung von PF4 an adenovirale Impfvektoren
Neben Bakterien kann PF4 auch bei Adenoviren, die für die vektorbasierten
COVID-19-Impfstoffe verwendet werden, eine Opsonierung bewirken [29]
[30]. Für die Opsonierung durch PF4 sind bestimmte
elektrostatische Voraussetzungen – speziell negative Ladungen –
an der Erregeroberfläche maßgeblich. Das stark positiv geladene
PF4 bindet ladungsabhängig an die Viren. Mittels
Plasmonenresonanz-Technik wurde gezeigt, dass PF4 mit unterschiedlicher
Affinität an alle drei Adenovirus-Vektoren Ad26, Ad5 und ChAdOx1 bindet.
Dabei wird die notwendige negative Ladung vor allem vom adenoviralen
Hexon-Hüllprotein bereitgestellt. Im ChAdOx1-Vektor ist dies
ausgeprägter als bei den anderen untersuchten Adenovirus-Vektoren.
Biophysikalische Untersuchungen zeigten allerdings, dass die Affinität
von PF4 zu Ad26 (Johnson & Johnson) trotzdem stärker ist als zu
ChAdOx1 ([Abb. 2], [31]). Generell erfolgt die Bindung von PF4
an Adenoviren mit einer vergleichsweise geringen Affinität [31]. Diese Befunde suggerieren, dass
zusätzlich zum Adenovirus-Vektor noch andere Bestandteile aus dem
Impfstoff als Liganden an der Induktion der PF4-vermittelten Immunreaktion der
VITT beteiligt sind. Aktuelle Untersuchungen gehen nun der Frage nach, welche
Impfstoff-Bestandteile hierfür in Frage kommen könnten.
Abb. 2 Plättchenfaktor 4 (PF4) bindet an
Adenovirus-Vektore (ChAdOx1 nCoV).; a) Der ChAdOx1
nCoV-19-Impfstoff bindet PF4. Brownsche-Dynamik Simulation zeigt die
Bindung zwischen dem PF4-Tetramer (rote Punkte) und der
Oberfläche von ChAdOx1 (grau). b) Inhibition der
Interaktion zwischen PF4 und ChAdOx1 durch das Polyanion Fondaparinux
(Abbildung aus [31]).
Michalik et al. (2022) identifizierten in beiden Adenovirus-vektorbasierten
Impfstoffen neben den Hexon-Hüllproteinen der Virus-Oberfläche
auch freie Hexon-Proteine bzw. -Polypeptide und viele Proteine aus der humanen
Zelllinie, in der das Virus propagiert wird [32]. Auch diese sind möglicherweise an der
anti-PF4-vermittelten Immunreaktion beteiligt. Unterstützt wird diese
Annahme durch Untersuchungen der PF4/ChAdOx1-Komplexe mit dem
Super-Resolutionmikroskop. [Abb. 3] zeigt
multimolekulare Komplexe aus PF4 und Bestandteile des Adenovirus-Vektor ChAdOx1,
an die Anti-PF4-Antikörper von VITT-Patienten binden. Die Tatsache, dass
sich einige Anteile dieser Komplexe nicht für das
Hexon-Hüllprotein färben, unterstützt die Vermutung,
dass weitere Impfstoffbestandteile für die Komplexbildung mit PF4
verantwortlich sind.
Abb. 3 Super-Resolutionmikroskopie von PF4/ChAdOx1
nCoV-19-Komplexen, an die Anti-PF4-Antikörper von VITT-Patienten
binden.; 3D-SIM-Mikroskopie (3D structured illumination microscopy)
zeigt Verbindungen von ChAdOx1 nCoV-19-Komponenten (Hexon-Polypeptide in
magenta) mit Komplexen aus Anti-PF4-IgG (türkis) und PF4
(grün). Die Pfeilspitzen zeigen die Lokalisation, an der
Anti-PF4-IgG an Komplexe aus PF4 und Hexon-Polypeptid binden. Der
weiße Balken im Bild rechts unten markiert eine Länge
von 200 nm.
PF4-Bindungspartner jenseits des adenoviralen Hexon-Proteins
Der Bindungspartner von PF4, der für die Induktion der Antikörper
in der VITT-Pathogenese wichtig ist, wurde bislang noch nicht identifiziert. Die
bisherigen Ergebnisse zu einzelnen, potentiellen Kandidaten werden im Folgenden
zusammengefasst:
Glykosaminoglykane
Da die HIT durch einen Komplex aus PF4 und Glykosaminoglykanen (GAG)
induziert wird, erscheint es theoretisch möglich, dass GAG auch bei
der VITT-assoziierten Immunreaktion eine Rolle spielen. Speziell
könnte sulfatiertes GAG, das aus den Zellkulturen (T-REx-293 HEK
Zellen) stammt, die für die Impfstoffherstellung genutzt werden, als
Ligand (Bindungspartner) für PF4 fungieren [33]. Technisch ist es eine
Herausforderung, geringe Konzentrationen von GAG in einer komplexen Matrix
wie einem Impfstoff zu detektieren. Alban et al. (2022) haben hierzu ein
mehrstufiges Verfahren genutzt, mit dem sie nachweisen konnten, dass GAG
mutmaßlich nicht in ausreichender Menge im Impfstoff vorhanden ist,
um für die Bildung von Immunkomplexen mit PF4 eine entscheidende
Rolle zu spielen [34].
EDTA
Mittels NMR wurde an der Universität Greifswald
Ethylendiamintetraessigsäure (EDTA) im AstraZeneca Impfstoff
nachgewiesen. Es wurde hiernach untersucht, ob die
anti-PF4-Antikörper von VITT-Patienten in der Anwesenheit von EDTA
an PF4 binden. Es zeigte sich, dass weder steigende Konzentrationen von EDTA
noch die kompetitive Bindung mit Eisen(III)-chlorid (hohe Affinität
zu EDTA und somit kompetitive Inhibition der Bindung von EDTA an PF4) das
Antikörper-Bindungsverhalten an PF4 beeinflussten.
Nukleinsäuren
DNA, RNA, und Aptamere (einzelsträngiges DNA- und RNA-Oligonukleotid)
können mit PF4 interagieren und jene konformationalen
Strukturänderungen induzieren, die es Anti-PF4-Antikörper
möglich machen, PF4 zu erkennen und zu binden. Im Tierexperiment
zeigte sich ebenfalls, dass PF4/Aptamer-Komplexe die Induktion von
anti-PF4-Antikörpern triggern [35]. Die im Impfstoff enthaltene DNA stammt in erster Linie vom
Adenovirus. Ob die Impfstoffe zusätzlich DNA aus jenen Zellkulturen
beinhalten, in denen das Virus während der Produktion vermehrt wird,
ist nicht abschließend geklärt. Da der Impfstoff
während seiner Herstellung mit DNAse behandelt wird, erscheint dies
allerdings eher unwahrscheinlich.
Polysorbat 80
Auch für Polysorbat 80, einem pharmazeutischen Hilfsstoff, der in
beiden Adenovirus-vektorbasierten Impfstoffen – aber nicht in
mRNA-basierten Impfstoffen – verwendet wird, wurde eine Rolle in der
Pathogenese der VITT diskutiert [36]
[37]. Da Polysorbat 80
allerdings auch für die Herstellung vieler anderer
i. v.-Medikamente, wie z. B. Amiodaron, verwendet wird und
dabei keine vermehrten Thrombosen auftreten, erscheint Polysorbat 80
für die Pathogenese der VITT eher unbedeutend zu sein.
Proteine
Messungen der Proteinkonzentrationen und Analysen der Proteinmuster aus
beiden Adenovirus-vektorbasierten Impfstoffen lassen den Schluss zu, dass
sowohl ChAdOx1 nCoV-19 als auch Ad26.COV2.S neben den adenoviralen
Proteinen, auch Proteine aus jenen Zellkulturen beinhalten, die für
die Vermehrung des Adenovirus-Vektor während der Produktion genutzt
werden [32]
[38]. Ob diese Proteine direkt in die
anti-PF4-vermittelte Immunreaktion der VITT involviert sind, ist offen.
[Abb. 4] listet die
Proteinzusammensetzung von ChAdOx1 nCoV-19 und Ad26.COV2.S auf. Die
Tatsache, dass sich die zehn häufigsten Proteine des ChAdOx1
nCoV-19-Impfstoffes nicht in Ad26.COV2.S nachweisen lassen, macht es weniger
wahrscheinlich, dass diese Proteine direkt an der Pathogenese der VITT
beteiligt sind.
Abb. 4 Proteine, die in Analysen von ChAdOx1 nCoV-19 und
Ad26.COV2.S identifiziert wurden (weitere Details in [32]).
Zusammengefasst bindet PF4 im Rahmen der VITT an Adenovirus-Vektoren, was in
erster Linie über die negative Ladung von
Hexon-Hüllproteinen vermittelt wird. Außerdem sind freie
Hexon-Proteine in beiden Adenovirus-vektorbasierten Impfstoffen in die
Bildung von PF4-Komplexen involviert ([Abb.
3]). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist noch unklar, ob
weitere Bindungspartner (Liganden) in die Bildung von Komplexen mit PF4
involviert sind, an die Anti-PF4-Antikörper binden und die
VITT-spezifische Immunreaktion auslösen. Erst wenn der
Bindungspartner identifiziert ist, können die Impfstoffe so
modifiziert werden, dass das Risiko der Induktion einer VITT reduziert
wird.
Die Bindungsstelle von Anti-PF4-Antikörpern auf PF4
Die genauere Charakterisierung der Epitope im PF4-Molekül, an die
Anti-PF4-Antikörper im Rahmen der VITT binden, ist ebenfalls Gegenstand
aktueller Forschung. Um diese Epitope zu charakterisieren, nutzen Huynh et al.
(2021) die Alanin-Scantechnik (Mutagenese) [39]. Mit dieser Technik wurden systematisch einzelne
Aminosäuren im PF4-Molekül modifiziert. Die so modifizierten
PF4-Moleküle erlauben es, jene Aminosäuren zu identifizieren,
die für die Bindung von Anti-PF4-Antikörpern notwendig sind. Mit
diesem Ansatz zeigte sich, dass Anti-PF4-Antikörper von VITT-Patienten
an andere Epitope auf PF4 binden als die Anti-PF4-Antikörper bei der
HIT. Die Anti-PF4-Antikörper bei der VITT erkennen aber
Aminosäuren, die ebenfalls relevant für die Bindung von Heparin
an PF4 sind. Dieser Befund könnte wichtige klinische Implikationen
für die Behandlung der VITT haben. Da Heparin die Bindung von
Anti-PF4-Antikörpern an PF4 inhibieren kann, könnte es
theoretisch als Antidot bei der VITT eingesetzt werden. Klinisch belegt wurde
diese Theorie bislang nicht [40]. Vielmehr
empfehlen internationale Leitlinien aktuell weiterhin, kein Heparin bei der VITT
einzusetzen [17].
Ein weiterer methodischer Ansatz, um spezifische Bindungsstellen zu
charakterisieren, stellen monoklonale Antikörper dar, die mit
patienteneigenen Anti-PF4-Antikörpern konkurrieren. Vayne et al. (2022)
charakterisierten mit 1E12 den ersten VITT-ähnlichen monoklonalen
Antikörper [41]. 1E12 ist ein
chimärer Anti-PF4-Antikörper mit einem humanen Fc-Fragment, der
vollständig die Effekte humaner VITT-Antikörper imitiert.
Aktuellen Studienergebnisse zeigen, dass sich die Bindungsepitope an PF4
für Anti-PF4-Antiköper im Rahmen der VITT zu einem relevanten
Anteil mit jenen für Heparin und für den monoklonalen
Antikörper 1E12 überlappen. 1E12 wird damit ein wichtiger
Bestandteil für weitere Experimente zum Verständnis der
VITT-Pathogenese im Tiermodell sein und darüberhinaus helfen, die
Antikörper-Bindungsstellen verschiedener anti-PF4-vermittelter
Erkrankungen, wie VITT und HIT, zu charakterisieren.
Die bisher beschriebenen Bindungscharakteristika könnten nahelegen, dass
ehemalige HIT-IIa-Patienten ein erhöhtes VITT-Risiko nach
SARS-CoV-2-Impfung haben. Klinisch belegen ließ sich diese Vermutung
bislang nicht. In der im Greifswalder Labor untersuchten Kohorte (n=70
VITT Patientinnen und Patienten) gab es keinen Patienten, der zuvor eine HIT
gehabt hat. Vermutlich sind die meisten ehemaligen HIT-Patient*innen
vorsichthalber mit einem mRNA-Vakzin gegen Sars-CoV-2 geimpft worden.
Die Anti-PF4-Immunantwort benötigt ein proinflammatorischen
Milieu
Wie im Folgenden beschrieben, könnten Proteine aus Zellkulturen, die in
der Impfstoffproduktion verwendeten werden, und freie Andenovirus-Proteine
über die Induktion einer inflammatorischen Reaktion („danger
signal“) zu der anti-PF4-vermittelten Immunreaktion der VITT
beitragen. Das Ausmaß der Inflammation ist dabei wahrscheinlich
stärker ausgeprägt, je höher der Anteil von
Zellkultur-Proteinen und freien Adenovirus-Proteine im Impfstoff ist. Die
Tatsache, dass der Anteil dieser Proteine in ChAdOx1-nCoV-19 (AstraZeneca)
höher ist, könnte erklären, warum die Häufigkeit
einer VITT nach Impfung mit ChAdOx1-nCoV-19 etwa dreimal höher als nach
Impfung mit Ad26.COV2.S (Johnson & Johnson) ist [42]
[43].
Analog zur HIT liegt der Pathogenese der VITT auch ein 2-stufiger Prozess
zugrunde:
-
Begleitet von einem inflammatorischen Prozess („danger
signal“) werden unmittelbar nach der Impfung
zunächst PF4-Antigene gebildet (durch konformationale
Änderungen der PF4-Struktur). Das inflammatorische
„danger signal“ aktiviert B-Zellen, die dann
beginnen Anti-PF4-Antikörper zu produzieren.
-
Etwa 5–14d nach der Impfung führen hohe Titer von
Anti-PF4-Antikörpern über FcγIIa- Rezeptoren zu
einer Plättchenaktivierung mit konsekutiver Thrombinbildung, die
die Thrombosen induziert [38].
Klinisch manifestiert sich dieser inflammatorische Prozess in den ersten
24–48 h als typische Impfreaktion mit Fieber,
Schüttelfrost und Kopfschmerzen. Diese akute Impfreaktion ist
wahrscheinlich vor allem durch freie Hexon-Proteine und andere freie
Virusbestandteile verursacht [44].
Zusätzlich können Zellkultur-Proteine (T-REx HEK-293) in der
Initialphase nach der Impfung ins Blut penetrieren. Im Blut werden sie von
präformierten IgG-Antikörpern erkannt [45]. Die Funktion dieser Antikörper
bei Gesunden ist es, intrazelluläre Proteine zu erkennen und so
degradierte Zellkomponenten aus der Zirkulation zu entfernen. Die Bindung dieser
Antikörper an Proteine aus dem Impfstoff führt wahrscheinlich
zur Bildung von Immunkomplexen. Serum-Untersuchungen bei Geimpften und
Ungeimpften zeigten, dass sich diese präformierten
IgG-Antikörper zwar in beiden Gruppen nachweisen ließen. Die
Antikörper-Reaktivität war bei Geimpften aber stärker
ausgeprägt als bei Ungeimpften. Vermutlich wird das Immunsystem durch
die Impfung gegen SARS-CoV-2 in der Produktion dieser Antikörper
verstärkt. Wie in der Pathogenese der HIT könnte dieser
inflammatorische Prozess ein wichtiges Co-Signal darstellen („danger
signal“), das die Anti-PF4-Antikörperproduktion durch
präformierte B-Zellen stimuliert [22]
[35]. Bezogen auf den
ChAdOx1-Impstoff wird dieser inflammatorische Prozess durch EDTA aus dem Vakzin
verstärkt. EDTA steigert das „capillary leakage“
an der Impfstelle, wahrscheinlich hervorgerufen durch Abbau von endothelialen
(VE)-Cadherin [32]
[38]
[46]. Das „capillary leakage“ wiederum
verstärkt den Übertritt von Impfstoff-Proteinen in die
Blutbahn.
VITT-assoziierte Anti-PF4-Antikörper zeigen keine Kreuzreaktion mit
Antikörpern gegen das SARS-CoV2-Spikeprotein
Mit der Erkenntnis, dass die VITT mit Anti-PF4-Antikörpern assoziiert
ist, drängte sich die Frage auf, ob es eine Kreuzreaktion mit
Antikörpern gegen das SARS-CoV-2-Spikeprotein geben könnte und
damit VITT-ähnliche Komplikationen auch nach Impfungen mit
mRNA-Impfstoffen möglich sind. Tatsächlich wurden auch bei
COVID-19-Patienten Antikörper gefunden, die ähnlich wie
Anti-PF4-Antikörper bei VITT-Patienten über
FcγIIa-Rezeptoren zu einer Plättchenaktivierung führen.
Zusätzlich genährt wurde diese Vermutung durch
Computer-Simulationen und 3D-Modellierungen, die eine Ähnlichkeit der
Heparin-Bindungsstelle auf PF4 (an die auch VITT-Antikörper binden) mit
Epitopen auf dem SARS-CoV-2-Spikeprotein zeigten. Um eine potentielle
Kreuzreaktion auszuschließen, wurden im Institut für
Transfusionsmedizin der Universitätsmedizin Greifswald
Anti-PF4-Antikörper von VITT-Patienten isoliert und gegen rekombinantes
SARS-CoV-2-Spikeprotein getestet. Keiner der von VITT-Patienten isolierten
Anti-PF4-Antikörper zeigte eine Kreuzreaktion mit dem
SARS-CoV-2-Spikeprotein. Parallel wurde an einer Kohorte von
PCR-bestätigten COVID-19 Patienten (n=222) gezeigt, dass der
Nachweis von Anti-PF4-Antikörpern hier nicht mit einer erhöhten
Häufigkeit einer Thrombozytopenie oder Thrombosen assoziiert ist. Auch
andere Studien zeigten keine Korrelation von anti-PF4- und anti-SARS-CoV-2
Antikörpern [47]. Diese Daten
führten zu der Einschätzung, dass mRNA-Impfstoffe keine VITT
induzieren sollten. Auch ehemalige VITT-Patienten mit noch zirkulierenden
plättchenaktivierenden Anti-PF4-Antikörpern entwickeln kein
VITT-Rezidiv mit erneuter Thrombozytopenie oder gar Thrombosen, wenn sie mit
einem mRNA-Vakzin geimpft werden [19].
Zusätzlich zeigte sich bei 11 VITT-Patienten, die Covid-19 nach einer
VITT entwickelten, kein Anstieg der Anti-PF4-Antikörpertiter [48].
Erneute Exposition mit mRNA-Impfstoffen gegen SARS-CoV-2
Bei mutmaßlich unerwünschten Immunreaktionen gegen Medikamente
wird das Wiederauftreten von Symptomen während einer erneuten Exposition
häufig als Beweis eines kausalen Zusammenhangs gewertet. In dieser
Hinsicht sind klinische Beobachtungen an VITT-Patienten von Bedeutung, die
jeweils eine 2. Impfung mit einem mRNA-Vakzin erhielten und in keinem Fall ein
VITT-Rezidiv mit Thrombosen oder einer Thrombozytopenie entwickelten [49]
[50]
[51]. Dies
unterstützt auch, dass mRNA-Vakzine keine Ko-Faktoren enthalten oder
induzieren, die für eine Anti-PF4-Antikörper vermittelte
prothrombotische Plättchenaktivierung notwendig wären. Einige
dieser Patienten wiesen auch noch zirkulierende plättchenaktvierende
Anti-PF4-Antikörper im Plasma auf, als die zweite Impfung mit dem
mRNA-Vakzin erfolgte. Auf der anderen Seite beschrieben Lacy et al. (2021)
kürzlich auch fünf Patienten (n=1 mit
bestätigter VITT; n=4 mit möglicher VITT), die ihre 2.
Impfung mit ChAdOx1 nCoV-19 erhielten und ebenfalls kein VITT-Rezidiv oder
sonstige Nebenwirkungen zeigten [51]. Ob
diese Patienten zum Zeitpunkt der 2. Impfung noch plättchenaktvierende
Antikörper aufwiesen, wurde nicht untersucht. Von der HIT ist bekannt,
dass eine kurze Re-Exposition mit Heparin von den meisten Patienten gut
toleriert wird, wenn keine plättchenaktvierenden
Anti-PF4-Antikörper mehr präsent sind [52]. Somit ist die komplikationslose
Re-Exposition mit einem Vakzin kein Beweis, dass dieses Vakzin nicht doch
Faktoren enthält, die in der Lage sind Komplexe mit PF4 zu bilden, die
initial die VITT getriggert haben. Eine mögliche Erklärung,
für die komplikationslose Re-Exposition von ehemaligen VITT-Patienten
mit dem ChAdOx1-Vakzin, ermöglicht auch hier ein Vergleich zur HIT. Die
Anti-PF4-Immunreaktion benötigt bei der VITT analog zur HIT ebenfalls
ein begleitendes inflammatorisches „danger signal“.
Für die HIT konnte dieses Prinzip in einer prospektiven Studie an
Trauma-Patienten demonstriert werden. Verglichen wurden Patienten mit leichtem
und schwerem Trauma. Beide Gruppen erhielten die gleichen Heparin-Dosen
über die gleiche Zeitdauer. Eine Anti-PF4-Reaktion zeigte sich nur bei
Patienten, die aufgrund eines schwerem Traumas operativ versorgt werden mussten
[53]. Analog lässt sich
herleiten, dass bei fehlenden pro-inflammatorischen Signalen zum Zeitpunkt der
2. Impfung seltener eine relevante Anti-PF4-Antwort hervorgerufen wird. In der
Tat scheinen klinische Beobachtungen zu bestätigen, dass die
üblichen frühen Impfreaktionen während der ersten
24–48 h nach der 2. Impfung mit ChAdOx1 weniger
ausgeprägt sind als nach der 1. Impfung.
Die Anti-PF4-Reaktion der VITT ist eine transiente sekundäre
Immunreaktion
Der Symptombeginn bei der VITT liegt typischerweise im Zeitfenster zwischen Tag
5–20 nach der Impfung. Zusätzlich weisen nahezu alle Patienten
mit einer VITT sehr hohe optische Dichtewerte im Anti-PF4/Heparin IgG
EIA auf. Das Auftreten hochtitriger Anti-PF4-IgG Antikörper bereits 5d
nach der Impfung, lässt sich nicht durch eine primäre
Immunantwort erklären. Wie bei der HIT, weist die VITT-assoziierte
Immunreaktion somit Charakteristika einer sekundären Immunreaktion auf
[54]. Ob bei der VITT eine vorherige
Exposition zu Pathogenen notwendig ist, die – wie bei der HIT –
eine primäre Anti-PF4-Immunreaktion triggert, ist gegenwärtig
ungeklärt [20]. Allerdings
ließen sich bei der VITT bisher auch einige Eigenschaften beobachten,
die nicht ganz typisch für eine sekundäre Immunreaktion sind.
Nach einer ausgeprägten sekundären Immunreaktion persistieren
Antikörper typischerweise für mehrere Monate bis Jahre. Dies ist
vor allem für eine sekundäre Immunreaktion nach Impfung der
Fall. Für eine Mehrzahl der VITT-Patienten trifft das allerdings nicht
zu [48]. Die Abnahme der
Anti-PF4-Antikörperspiegel nach der Entwicklung einer VITT ist
ähnlich wie die Antikörper-Dynamik bei der HIT [55]. Allerdings ist die Dauer bis zu einer
Seroreversion bei der VITT länger als bei der HIT. Wahrscheinlich ist
dies durch die ungewöhnlich hohen Antikörperlevel in der
Initialphase der VITT zu erklären [10]. Der rasche Abfall der Antikörpertiter spiegelt, dass die
Immunreaktion bei der VITT nicht dem „klassichen“ Muster einer
sekundären Immunreaktion entspricht.
Im Tiermodell der HIT konnte die Anti-PF4-Immunreaktion auf B-Zellen der
Marginalzone in der Milz zurückgeführt werden [22]. Diese B-Zellsubpopulation stellt eine
erste Immunabwehr durch schnell produziertes IgM und durch Ig-Klassenwechel
entstandenes IgG dar. Der zeitliche Verlauf der klinischen VITT-Manifestation
suggeriert, dass Marginalzonen-B-Zellen auch bei der VITT mögliche
Kanditaten für die Produktion von Anti-PF4-Antikörpern sind. Im
Mausmodell konnte gezeigt werden, dass ChAdOx1 nach i. v.-Injektion an
Thrombozyten bindet und dass diese Thrombozyten mit B-Lymphozyten in der
Marginalzone der Milz interagieren [13].
In einer Subgruppe von VITT-Patienten wurden allerdings noch über sechs
Monate persistierende plättchenaktivierende Anti-PF4-Antikörper
gezeigt [19]
[56]. Ob die persistierende Immunreaktion
weitere B-Zellen neben den Marginalzonen-B-Zellen involviert, ist unklar. Eine
weitere Erkenntnis, die sich aus den Tierexperiementen ergibt, ist, dass
Thrombozyten bei der VITT auch als Antigen-präsentierende Zellen
fungieren. Die gemeinsame Präsentation von Thrombozyten- und
Virusantigenen stellt ein erhöhtes Risiko für die Induktion von
Anti-Thrombozyten-Autoantikörpern dar. In der Tat wurde bei etwa
25% eines VITT-Kollektivs im Serum gezeigt, dass diese auch
Glykoprotein-spezifische Anti-Thrombozyten-Antikörper produzieren [13].
Multimolekulare Komplexe, die PF4 beinhalten, aktvieren auch das Komplementsystem
[57]
[58]. Aggregate aus an PF4 gebundenem Komplement erlauben die Bindung
von B-Zellen über den Komplementrezeptor [57]. Aktuell ist noch unklar, ob das
Komplementsystem analog zur HIT auch eine Rolle in der Immunantwort gegen PF4
bei der VITT spielt.
Anti-PF4-Antikörper führen über
FcγIIa-Rezeptoren auch zu einer Aktvierung von Granulozyten
Sobald B-Zellen zur Produktion von Anti-PF4-Antikörpern stimuliert
werden, dauert es 5–10 Tage bis ausreichende Titer an
Anti-PF4-Antikörpern gebildet sind. Dabei werden Antikörper mit
unterschiedlicher biologischer Relevanz produziert. Bis diese Antikörper
wiederum zur Symptommanifestation führen, dauert es meist nochmal wenige
Tage. Bei mehr als 5% der Geimpften finden sich niedrige Titer von
Anti-PF4-Antikörper. Diese führen weder zu einer
Plättchenaktivierung noch sind sie mit einer Thrombozytopenie oder
Thrombosen assoziiert [59]. Im Gegensatz
dazu wiesen bislang alle untersuchten VITT-Patienten
plättchenaktivierende Anti-PF4-Antikörper auf [60]. Diese Antikörper aktivieren
Thrombozyten über den thrombozytären FcγIIa-Rezeptor.
Blockiert werden kann diese Bindung durch hohe Dosen
i. v.-Immunglobuline (IVIG) und einen Fc-Rezeptor-spezifischen,
monoklonalen Antikörper (MoAb IV.3) [10]
[61]
[62]. Aktivierte Thrombozyten exponieren
wiederum Phosphatidylserin, was als katalytische Oberfläche für
die Thrombinbildung fungiert [63].
Gleichzeitig setzen die Thrombozyten PF4 frei. Das freigesetzte PF4 bindet auf
der Oberfläche von Granulozyten an Chondroitinsulfat. Zu einer
Granulozytenaktivierung kommt es darauffolgend, wenn Anti-PF4-Antikörper
an die Granulozyten binden und deren FcγIIa-Rezeptoren vernetzen. In der
Folge dieses Vorgangs wird nukleäre DNA aus den Granulozyten in einem
Prozess freigesetzt, der als NETose (NET=neutrophil extracellular
traps) bezeichnet wird [38]
[64]. An diese DNA-NETs binden
zunächst PF4-Moleküle und dann auch Anti-PF4-Antikörper.
Dies erlaubt die Bildung großer Immunkomplexe, wodurch ein sich selbst
verstärkender Kreislauf der Zellaktvierung ensteht und das
prothrombotische Stadium der VITT verstärkt und unterhalten wird. Diese
aus in vitro-Experimenten generierten Erkenntnise wurden in vivo
in einem Mausmodell bestätigt [65]. Ferner wurden stark erhöhte Marker der NETose bei
VITT-Patienten nachgewiesen und zusätzlich NETs im Thrombusmaterial aus
Hirn- und Sinusvenenthrombosen von VITT-Patienten nachgewiesen [38].
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Anti-PF4-Antikörper auch an Komplexe aus
PF4 und Heparinsulfat auf Endothelzellen binden. Die damit induzierte
Aktivierung von Endothelzellen setzt von-Willebrand-Faktor frei, an den zuerst
PF4 und dann auch Anti-PF4-Antikörper binden. Dies führt zu
einer weiteren Aktivierung von Thrombozyten und über diese zu einer
Aktivierung von Granulozyten [66]
[67].
Ausblick
Anti-PF4-Antikörper als Ursache von Thrombosen jenseits der
VITT
Die Aufarbeitung der VITT-Pathogenese hat gezeigt, dass
Anti-PF4-Antikörper ungewöhnliche Thrombosen hervorrufen
können. Einige jüngere Beobachtungen lassen vermuten, dass die
Bildung dieser Antikörper nicht spezifisch für
SARS-CoV-2-Impfstoffe oder Adenovirus-vektorbasierte Impfstoffe im Allgemeinen
ist. Eine kürzlich publizierte Kasuistik beschrieb die Entwicklung einer
VITT nach Impfung gegen das humane Papillomavirus (Gardasil) mit dem klinisch
typischen VITT-Bild und der Bildung von plättchenaktivierenden
Anti-PF4-Antikörpern [68]. In
einem anderen Fallbericht wurde eine Frau beschrieben mit einem persistierenden,
PF4-reaktiven monoklonalen IgG-Paraprotein, das Thrombozyten direkt über
den FcγIIa-Rezeptor aktivierte. Diese Patienten zeigte eine chronische,
milde Thrombozytopenie und rekurrierende Thrombosen [69]. Die chronische Hyperkoagulopathie
zeigte hier eine starke Korrelation zwischen dem Ausmaß der
Thrombozytopenie und erhöhten D-Dimeren. Auch wurde kürzlich ein
Fall mit einem spontanen HIT-Syndrom assoziiert mit einem IgG-κ
Paraprotein beschrieben [70]. Basierend
auf diesen Kasuistiken erscheint das Spektrum der anti-PF4-vermittelten
Koagulopathien, die auf einer Fc-Rezeptor-vermittelten Thrombozytenaktvierung
basieren, über Heparin und Impfstoffe hinauszugehen.
Möglichicherweise spielen Anti-PF4-Antikörper auch eine
ursächliche Rolle bei anderen seltenen Erkrankungsformen, die mit
wiederkehrenden venösen und arteriellen Thrombosen unklarer
Ätiologie einhergehen.
Relevanz der VITT heute und Implikationen für die Zukunft
Die rasante Charakterisierung der immunologischen Pathogenese der VITT und die
schnelle Veröffentlichung internationaler Guidelines zum Management der
VITT half, die hohe Mortalität in der Intialphase von ca. 50%
auf 5% zu reduzieren [16]. Damit
entspricht die Mortalität der VITT der von HSVT anderer
Ätiologien [12]. Derzeit kommen
Adenovirus-vektorbasierte Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 vor allem in sog. low
income countries (LIC) zum Einsatz. Aktuell sind weltweit zwar mehr als
12 Milliarden SARS-CoV-2-Impfdosen appliziert worden. Allerdings haben bislang
lediglich 17,6% der Menschen in LICs überhaupt erst ein
Impfdosis erhalten. Um diese Impflücke zu schließen, sind
Impfkampagnen weiterhin auf Adenovirus-vektorbasierte Impfstoffe angewiesen,
weil nur diese ausreichend kostengünstig hergestellt werden
können, um von Gesundheitssystemen ärmerer Länder
bezahlt werden zu können. Die große Herausforderung dabei ist,
VITT-Verdachtsfälle zu identifizieren, die Diagnose zu sichern und
zügig zu therapieren, wenn labordiagnostische und radiologische
Ressourcen in regionalen Gesundheitssystemen limitiert sind. Auch wenn fast alle
bisher publizierten VITT-Fälle nach der 1. Impfung augetreten sind,
zeigen jüngere Berichte, dass eine VITT durchaus auch nach der 2.
Impfung mit einem Adenovirus-vektorbasiertem Vakzin auftreten kann [8]. Dabei ist die Latenz zwischen Impfung
und Symptombeginn möglicherweise etwas kürzer als bei
Manifestation einer VITT nach der 1. Impfung. Um Mortalität und
Morbidität durch schwere Thrombosen gering zu halten, muss es das Ziel
sein, Risikopatienten bereits dann zu erkennen, wenn erst das Prodromalstadium
der VITT, das Prä-VITT-Syndrom, vorliegt. Hierfür ist ein
Clinical Pathway publiziert worden, der auch unter den besonderen
Umständen eines LICs umsetzbar ist [15].