Fortschr Neurol Psychiatr 2024; 92(04): 121-127
DOI: 10.1055/a-1930-3133
Originalarbeit

Vom Nationalsozialisten zum Hitler-Erklärer: Die autobiografischen Umdeutungen des Psychiaters Johann Recktenwald (1882–1964)

From Nazi to Hitler Analyst: The Autobiographical Reinterpretations of the Psychiatrist Johann Recktenwald (1882–1964)
Dominik Groß
1   Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, RWTH Aachen University, Medical Faculty, Aachen, Germany
,
Mathias Schmidt
1   Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, RWTH Aachen University, Medical Faculty, Aachen, Germany
,
Pascal Engels
1   Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, RWTH Aachen University, Medical Faculty, Aachen, Germany
,
Stephanie Kaiser
1   Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, RWTH Aachen University, Medical Faculty, Aachen, Germany
› Author Affiliations

Zusammenfassung

Ziel der Studie Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht der bislang wenig beleuchtete Psychiater Johann Recktenwald (1882–1964): Vom Vorwurf des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ freigesprochen, trat er im Nachkriegsdeutschland mit einer neuropsychiatrischen Abhandlung über Hitler an die Öffentlichkeit. Doch steht diese Selbstdarstellung eines Hitler-kritischen Nervenarztes im Einklang mit den überlieferten historischen Quellen? Wie war Recktenwalds Verhältnis zum NS-Regime, und wie verhielt er sich im „Dritten Reich“ gegenüber den ihm anvertrauten Patienten?

Methodik Der Aufsatz basiert im Wesentlichen auf z.T. erstmals ausgewerteten Dokumenten verschiedenster Archive sowie auf Gerichtsprotokollen. Diese werden ergänzt und abgeglichen mit den Schriften Recktenwalds und der verfügbaren Sekundärliteratur.

Ergebnisse Recktenwald diente sich im „Dritten Reich“ in mehrfacher Hinsicht dem NS-Regime an, trug Mitverantwortung für zahlreiche Patientenmorde und rückte so in die Rolle eines NS-Täters. Nach seinem Freispruch im Nachkriegsdeutschland war er bestrebt, durch die kritische Auseinandersetzung mit der Psychopathologie Hitlers eine persönliche Distanz zum Nationalsozialismus zu konstruieren, die zugleich der eigenen Exkulpation diente.

Schlussfolgerung Recktenwald ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel für den Versuch von NS-Tätern, die eigene Rolle im „Dritten Reich“ retrospektiv umzuschreiben – und zugleich Spiegelbild einer Nachkriegsgesellschaft, die bereit war, derartige biografische Umdeutungen zu akzeptieren, um der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ausweichen zu können. 

Abstract

Aim of the study The focus of this article is the psychiatrist Johann Recktenwald (1882–1964) who has so far received little attention: acquitted of the charge of “crimes against humanity”, he went public in post-war Germany with a neuropsychiatric treatise on Hitler. But is this appearance as a Hitler-critical psychiatrist consistent with the available historical sources? What was Recktenwald’s relationship with the Nazi regime, and how did he behave in the “Third Reich” towards the patients entrusted to his care?

Methods The paper is largely based on documents from various archives, some of which have been evaluated for the first time, and on court records. The latter are supplemented and compared with the writings of Recktenwald and the available secondary literature.

Results During the “Third Reich”, Recktenwald served the Nazi regime in many ways, was jointly responsible for numerous patient murders and thus moved into the role of a Nazi perpetrator. After his acquittal in post-war Germany, he endeavored to construct a personal distance to National Socialism by critically examining Hitler’s psychopathology, which at the same time served his own exculpation.

Conclusion Recktenwald is a particularly impressive example of the efforts of Nazi perpetrators to retrospectively rewrite their own role in the “Third Reich” – and at the same time a reflection of a post-war society that was willing to accept such biographical reinterpretations in order to avoid coming to terms with the Nazi past.



Publication History

Received: 24 September 2020

Accepted: 22 August 2022

Article published online:
29 November 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
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