Sicher fragen sich einige, warum der kanadische Ergotherapieverband CAOT nach 1997
und 2007 in der aktuellen Publikation von 2022 ein neues Inhaltsmodell, das Canadian
Model of Occupational Participation (CanMOP), sowie ein überarbeitetes Prozessmodell,
den Canadian Occupational Therapy Inter-Relational Practice Process (COTIPP), präsentiert.
Durch gesellschaftliche Veränderungen und berufsinterne Entwicklungen müssen sich
Modelle, die den aktuellen Gegebenheiten entsprechen wollen, in regelmäßigen Abständen
anpassen. Betrachtet man die Entwicklungen des kanadischen Inhaltsmodells, so wird
deutlich, dass die ersten Veröffentlichungen die Performanz, d. h. die Ausführung
von Betätigung in verschiedenen Bereichen (Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit),
in den Mittelpunkt stellen. In den folgenden Veröffentlichungen 2007 und 2013 wurde
das Engagement, was auch das passive „Dabeisein“ bei einer Betätigung inkludiert,
als relevanter Aspekt hinzugefügt. Die Co-Herausgeberinnen der neusten Auflage des
kanadischen Modells CanMOP, Mary Egan und Gay Restall, sowie die umfangreiche Autor*innenschaft
bauen auf die bisherigen Publikationen des CAOT auf, erweitern diese jedoch um die
Betätigungspartizipation von Individuen oder Gemeinschaften wie Familien, Gruppen
oder Populationen.
Kritische Auseinandersetzung
Kritische Auseinandersetzung
Die Autor*innen thematisieren kritisch die Kolonialisierung und deren Folgen auf Betätigungsausführung
und Teilhabe – primär der indigenen Bevölkerung Kanadas. Des Weiteren werden bei der
Auseinandersetzung mit der nationalen und internationalen Perspektive auf Betätigung,
Benachteiligungen von Menschengruppen sowie normative Erwartungen bezüglich Betätigungen,
die überwiegend von einer weißen, weiblichen, aus der Mittelschicht stammenden Gruppe
vorgegeben werden, diskutiert. Indem Autor*innen mit unterschiedlichen Wurzeln und/oder
diverser geschlechtlicher Orientierung zu Wort kommen, wird die Perspektive von benachteiligten
Personengruppen inkludiert.
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, Geschichte und Perspektive nimmt
einen zentralen Stellenwert im CanMOP ein und bedingt eine kritische Auseinandersetzung
mit dem Begriff der Klientenzentrierung, was zu einem erweiterten Ansatz führt: die
Collaborative Relationship-Focused Practice. Dazu erfahren Sie in ergopraxis 2/22
mehr.
Struktur
Prozessmodelle strukturieren das ergotherapeutische Vorgehen im beruflichen Kontext.
Das neue kanadische Inhaltsmodell CanMOP sowie das Canadian Occupational Therapy Inter-Relational
Practice Process Framework COTIPP wurden in einem iterativen Prozess von Restall et
al. entwickelt, um es mit Individuen, Familien, Gruppen, Gemeinden und Populationen
in einem institutionellen oder gemeindenahen Setting anzuwenden [1]. Um einen etwas vertiefenden Einblick in die Neuerungen des kanadischen Modells
zu ermöglichen, werden im Folgenden die relevantesten Aspekte aufgegriffen und dargestellt.
Das neue Inhaltsmodell
Das CanMOP beinhaltet sechs grundlegende Aspekte [2]:
-
Der Fokus liegt auf der Betätigungspartizipation.
-
Betätigungen werden nicht mehr kategorisiert.
-
Die individuelle Bedeutung von Betätigung findet explizit Berücksichtigung.
-
Ein fundiertes Wissen über die Auswirkungen von Performanzkomponenten sowie Umweltaspekten
auf die Betätigungs- partizipation ist grundlegend.
-
Die Lebenslaufperspektive bezogen auf das Individuum und Gruppen (z. B. eine Kommune)
wird berücksichtigt.
-
Die Möglichkeiten zur Betätigungspartizipation werden auf Mikro-, Meso- und Makroebene
eruiert, sodass die Unterteilung in diese drei Ebenen das Modell in verschiedenen
Bereichen durchzieht.
Der Hauptfokus des Modells liegt, wie sein Name schon verdeutlicht, auf der Betätigungspartizipation,
die Egan & Restall als Zugang, Initiierung und Aufrechterhaltung von wertvollen Betätigungen
in bedeutungsvollen Beziehungen und Kontexten definieren [2]. Die Betätigungspartizipation bezieht die Betätigungsausführung und das Engagement
mit ein.
Das neue kanadische Inhaltsmodell Modell dient als Brille, um folgende Aspekte zu
verstehen:
-
welche Bedeutung eine Betätigung für das Individuum oder eine Gemeinschaft hat, d.
h. das „Warum“ einer Betätigung
-
notwendige Bedingungen erkennen, um die jeweilige Betätigung in einer bedeutungsvollen
Weise auszuführen
-
zu erkennen, wie Zugänge und Möglichkeiten durch das kontextbezogene Handeln von Expert*innen
zur Erweiterung oder Erhaltung von Betätigungspartizipation beitragen können
Das Zusammenspiel zwischen Bedeutung und Zweck einer Betätigung sowie die Zugänge,
um diese Betätigung ausführen zu können, formt die Betätigungspartizipation. Dabei
beeinflussen einerseits die dahinterliegenden historischen Aspekte wie die Lebenslaufperspektive
der Personen und Familien sowie auch die Geschichte einer Gemeinschaft oder Gruppe
die Bedeutung, die einer Betätigung zugeschrieben wird (ABB.). Andererseits wird die
Bedeutung geformt durch die Beziehungen, die das Individuum oder eine Gruppe zur Betätigung
aufrechterhält. Die Umwelt, die in Mikro-, Meso- und Makroebene strukturiert ist,
bildet die Zugänge, zur (Wieder-)Aufnahme und zur Aufrechterhaltung von Betätigungspartizipation
ab.
ABB. Das CanMOP stellt die Betätigungspartizipation in den Mittelpunkt. Darum herum
liegen die Felder „Meaning, Purpose“ (= Bedeutung, Zweck) und „Possibilities: Access,
Initiate, Sustain“ (= Möglichkeiten: Zugang, Beginnen, Beibehalten). Diese sind wiederum
eingebettet in die Bereiche „History, Relationships“ (= Geschichte, Beziehungen) und
„Context: Micro, Meso, Macro“ (= Kontext: Mikro-, Meso- und Makroebene).© Egan M,
Restall R. Canadian model of occupational participation (CanMOP). In: Egan M, Restall
G, editors. Promoting occupational participation: collaborative relationship-focused
occupational therapy. Ottawa, CA: Canadian Association of Occupational Therapists.
2022. p. 77 [rerif]
Fallgeschichten betrachten
Fallgeschichten betrachten
Mithilfe des CanMOP lassen sich individuelle Situationen von Klient*innen betrachten,
zum Beispiel die Fallgeschichte des 20-jährigen Julius*. Er hat deutliche kognitive
Einschränkungen, die aus einem Sturz im Kleinkindalter resultieren. Die Betätigungspartizipation
an einer Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt ist für Julius daher erschwert. Der
junge Mann hat seine schulische Ausbildung an einer inklusiven Gesamtschule ohne Abschluss
beendet und einige Praktika in verschiedenen Einrichtungen wie Handwerksbetrieben
und in der Gastronomie absolviert. Er würde beruflich gerne in einer Gärtnerei tätig
werden. In Hinblick auf das „Warum“ gibt Julius an, dass ihm die Arbeit in der Natur
viel Freude bereite und er sich während des Berufspraktikums in diesem Bereich sehr
ausgeglichen und wohl gefühlt habe. Einfache Tätigkeiten könne er auf Anweisung selbstständig
ausführen, jedoch bedarf es einer dauerhaften Begleitung, um prozesshafte Strukturen
zu verinnerlichen.
Die trägerbezogenen Einrichtungen können Julius keinen Arbeitsplatz im Gartenbereich
zusagen, da über die Verteilung bedarfsorientiert aus Perspektive der Einrichtungen
entschieden wird. Aktuell ist Julius deshalb auf dem zweiten Arbeitsmarkt in einer
Werkstätte für Menschen mit Behinderung (WfBM) tätig. Dort sortiert er unterschiedliche
Schrauben in Kartons, was für den 20-Jährigen keine zufriedenstellende berufliche
Tätigkeit darstellt. Bezüglich der Lebenslaufperspektive kommt Julius aus einer Familie,
in der die freie berufliche Entfaltung einen großen Stellenwert erfährt. Aktuell wird
Julius von seiner Familie emotional in seiner beruflichen Findung unterstützt, jedoch
ermöglichen die gesellschaftlichen und strukturellen Bedingungen momentan nicht, dass
Julius dauerhaften Zugang zum ersten Arbeitsmarkt erhält oder auf dem zweiten Arbeitsmarkt
in seinem Interessenbereich tätig wird.
Das CanMOP zeigt Faktoren auf, die Betätigungspartizipation ermöglichen oder behindern
können.
Durch die Brille des CanMOP wird deutlich, dass Julius‘ Betätigungspartizipation durch
Vorgaben im Mesokontext stark eingeschränkt wird. Die strukturellen Gegebenheiten
der Einrichtung ermöglichen es Julius nicht, die im Makrokontext geschaffenen gesetzlichen
Rahmenbedingungen des Bundesteilhabegesetzes auszuschöpfen. Dieses Gesetz propagiert
passgenaue Leistung und Förderung für jeden Menschen mit Behinderung, um für ihn die
größtmögliche Teilhabe am Arbeitsleben zu erreichen [4].
Somit wird deutlich, welche Relevanz die Auseinandersetzung mit kontextbezogenen Rahmenbedingungen
und daraus resultierenden Barrieren und Ressourcen für die Ergotherapie hat. Durch
das CanMOP weitet sich das Verständnis für eine eingeschränkte Betätigungspartizipation.
Der Fokus, der überwiegend auf die individuellen Einschränkungen gerichtet ist, wird
um die Umweltbedingungen ergänzt.
Um Julius und seine Familie bei dem Prozess der angemessenen Arbeitsplatzsuche zu
unterstützen, könnten Ergotherapeut*innen unter anderem eine Beratung durch eine ergänzende
unabhängige Teilhabeberatung empfehlen bzw. initiieren.
Partizipation hat seine Wurzeln
Partizipation hat seine Wurzeln
Die Geschichte von Gemeinschaften spiegelt sich zum Beispiel in der Partizipation
an verschiedenen Sportarten wider. So gibt es aufgrund finanzieller und kultureller
Hürden verknappte Zugänge zu Sportarten wie Tennis, Hockey, Reiten, Schwimmen oder
Radsport. Tennis, als „Sport der Weißen“, der Elite und später der Mittelklasse zeigt,
wie Zugänge zu Tennisvereinen für nicht weiße Personen ein Hindernis darstellen. Oder
dass People of Color systematisch von Schwimmbetrieben ferngehalten wurden und somit
bis heute kaum soziokulturelle Bezüge zu diesen Sportarten aufbauen konnten. Deutlich
wird dies u. a. daran, dass in diesen Sportarten im Leistungs-, aber auch Breitensport
bis heute kaum People of Color teilnehmen, wohingegen sie in der Leichtathletik oder
im Basketball das Feld dominieren.
Dieser fest verankerte strukturelle Rassismus, der bis heute die Annahme unterstützt,
dass Menschen qua Herkunft unterschiedlich begabt und bewertbar sind, führt dazu,
dass Personen Zugänge verwehrt bleiben und sie damit keine zufriedenstellende Betätigungspartizipation
erfahren dürfen. Der Blick durch die CanMOP-Brille trägt dazu bei, diese Strukturen,
Haltungen und geschichtlichen Bezüge zu erkennen. Rassismen hängen in der Regel nicht
von bösem Willen und bewusster Haltung, sondern von internalisierten, unbewussten
Mustern ab. „Um rassistisch zu handeln, reicht es völlig aus, in einer Welt sozialisiert
zu werden, die Menschen seit Jahrhunderten nach rassifizierten Merkmalen wertet. Das
gilt für Weiße und Nicht-Weiße“ [4].
In der kommenden ergopraxis Ausgabe lernen Sie die Collaborative Relationship-Focused
Practice kennen, also eine erweiterte Perspektive auf Klientenzentrierung, die im
Canadian Model of Occupational Participation (CanMOP) implementiert ist.
Helen Strebel
*Name von der Redaktion geändert