Z Sex Forsch 2022; 35(03): 154-159
DOI: 10.1055/a-1874-9806
Praxisbeitrag

Sexualbezogene Online-Fortbildung für Fachkräfte: TikTok

Sex-Related Online Training for Professionals: TikTok
Nicola Döring
Institut für Medien und Kommunikationswissenschaft, Technische Universität Ilmenau
Institut für Medien und Kommunikationswissenschaft, Technische Universität Ilmenau
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Zusammenfassung

Der vorliegende Praxisbeitrag befasst sich mit der Kurzvideoplattform TikTok. Er beschreibt die Funktionsweise der Plattform und geht auf den bisherigen Stand der TikTok-Forschung ein. Im Fokus stehen dann Sexualaufklärung, LGBTIQ + sowie Beziehungs- und Datingberatung auf TikTok.


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Abstract

This practice-oriented article deals with the short video platform TikTok. It describes the functionality of the platform and summarizes the current state of TikTok research. It then focuses on sexuality education and LGBTIQ + as well as relationship and dating counseling on TikTok.


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Der vorliegende Praxisbeitrag setzt die in Heft 1/2018 der „Zeitschrift für Sexualforschung” begonnene Serie zur sexualbezogenen Online-Fortbildung für Fachkräfte fort ([Döring 2018a]). Nach YouTube und Webvideos ([Döring 2018b]), Webinaren ([Döring 2018c]), Podcasts ([Döring 2018 d]), Blogs ([Döring 2019a]) und dem Mikroblogging-Dienst Twitter ([Döring 2021a]) geht es nun um die Kurzvideoplattform TikTok und ihre Bedeutung für Fachkräfte, die im Bereich der Sexuellen Bildung, Beratung und Therapie sowie der Sexualforschung tätig sind. Zunächst werden Hintergrundinformationen zur Funktionsweise von TikTok vermittelt, dann geht es um den aktuellen Forschungsstand zu TikTok und schließlich um Sexaufklärung, LGBTIQ + sowie Beziehungs- und Datingberatung auf TikTok.

TikTok

YouTube (www.youtube.com) und TikTok (www.tiktok.com) sind heute die führenden Social-Media-Plattformen im Bereich Bewegtbild: Laut JIM-Studie 2021 schauen sich 87 % der Jugendlichen in Deutschland täglich oder mehrmals pro Woche YouTube-Videos an; 46 % greifen inzwischen ebenso oft auf TikTok-Videos (kurz: TikToks) zurück ([mpfs 2021]: 38/47). TikTok gilt Anfang der 2020er-Jahre als die weltweit am schnellsten wachsende Social-Media-Plattform, die bereits rund zwei Milliarden Menschen erreicht. Dabei ist die Nutzung am Desktop weniger typisch als die Nutzung per Smartphone mittels TikTok-App.

Während die typische Länge von YouTube-Videos rund 10–15 Minuten beträgt, liegt die von TikToks bei 30–60 Sekunden ([Döring und Lehmann 2022]). Dennoch wird TikTok genau wie YouTube nicht nur für Musik und Entertainment, sondern auch für ernsthafte Informationsvermittlung genutzt ([mpfs 2021]). Das betrifft alle möglichen Themen, darunter auch Fragen der sexuellen und reproduktiven Bildung und Gesundheit ([Döring 2019b]; [Döring und Conde 2021]; [Madathil et al. 2015]). Zunächst ist es wichtig, sich klarzumachen, wie das mediale Ökosystem von TikTok beschaffen ist, in dem die Plattform-Betreiber*innen, die Nutzer*innen und Content-Anbieter*innen agieren.

Die Plattform-Betreiber*innen von TikTok

YouTube (gegründet 2005) ist im Besitz des US-Konzerns Google LLC. TikTok (gegründet 2018) dagegen gehört dem chinesischen Technologie-Unternehmen ByteDance. Die Plattform-Betreibenden steuern maßgeblich das Geschehen auf ihren Social-Media-Plattformen und haben dementsprechend eine große gesellschaftliche Verantwortung, der sie laut kritischen Stimmen bislang nur teilweise gerecht werden. Typische Probleme sind die Verbreitung von Hassrede, von sexueller Belästigung oder von Falschinformationen und Verschwörungsmythen auf den Plattformen, ohne dass hier die Nutzenden ausreichend geschützt und transparente Kontrollen vorgenommen werden. Weitere Probleme sind Datenschutz, Kinder- und Jugendmedienschutz sowie gerechte Bezahl- und Ausspielmodelle für Content-Anbietende.

Die westlichen Social-Media-Konzerne wie Google/YouTube und Facebook stehen seit langem stark in der Kritik. Der chinesische Plattform-Anbieter ByteDance, von dem erst mit dem globalen Erfolg von TikTok größere Kreise erfuhren, stieß auf besonders viel Ablehnung. Denn es wurde bekannt, dass TikTok Profildaten von Kindern sammelt und den Kindermedienschutz missachtet. Ebenso wurde aufgedeckt, dass TikTok die Video-Inhalte bzw. deren Ausspielung stark zensiert, etwa wenn es um Religion und Politik geht, insbesondere um Kritik an der chinesischen Regierung. TikTok wurde zudem vorgeworfen, die Inhalte von Menschen mit Behinderungen und von queeren Personen zu unterdrücken, wohl um ein normkonformes, vermeintlich werbefreundliches Image zu vermitteln. Der TikTok-Betreiber ByteDance stand also international unter großem Druck und war bereits in diverse Rechtsstreits verwickelt. Einen Überblick über die Kritikpunkte mit entsprechenden Quellen findet man in der Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/TikTok). Der ehemalige US-Präsident Donald Trump verbot TikTok per Dekret, nachdem die App in Indien bereits verboten worden war. Doch inzwischen ist TikTok in den USA unter Präsident Joe Biden wieder erlaubt.

Die öffentliche Kritik mag zu einigen Anpassungen auf der Plattform geführt haben. Generell aber zeigt die Erfahrung, dass trotz berechtigter Kritik am Fehlverhalten von Social-Media-Konzernen die Mehrheit der Bevölkerung letztlich eine umstrittene Plattform dennoch nutzt, wenn sie nur unterhaltsam und nützlich genug erscheint. Im Google Play Store jedenfalls verzeichnet die TikTok-App gut eine Milliarde Downloads und eine Bewertung von 4.4 Sternen auf einer Fünfer-Skala (Stand: Juni 2022), was auf recht hohe Kundenzufriedenheit hinweist (https://play.google.com/store/apps/details?id=com.zhiliaoapp.musically&gl=DE).


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Die Nutzer*innen von TikTok

Besonders beliebt ist TikTok bei den Jüngeren: In Deutschland erhält TikTok in der Altersgruppe der Zwölf- bis 15-Jährigen den größten Zuspruch ([mpfs 2021]). Aber auch unter jungen Erwachsenen ist die Plattform beliebt. Wie bei jeder relativ jungen Social-Media-Plattform zeigt sich eine gewisse Generationen-Kluft: Die Jüngeren sind begeistert dabei, während die Älteren sich kopfschüttelnd abwenden, den Sinn der App nicht verstehen, die Inhalte für belanglos und uninteressant erklären und vor den Machenschaften des Plattform-Anbieters warnen. Diese Generationen-Kluft hat insofern ihren Sinn, als sie dafür sorgt, dass die Jüngeren eigene digitale Räume für sich besetzen können, denen die Eltern- und Großelterngeneration vorerst meist fernbleibt.

Bei der Nutzung von TikTok kann man über den eigenen Account bestimmte Kanäle abonnieren und erhält dann deren neue Videos zugespielt. Darüber hinaus sucht der TikTok-Algorithmus individualisiert Videos für die Nutzenden aus. Die zugespielten Kurzvideos laufen in der App in Endlosschleife, erst durch aktives Wischen gelangt man zum nächsten vom Algorithmus vorgeschlagenen Video. Somit beinhaltet die TikTok-Nutzung immer gewisse Überraschungseffekte. Je nachdem, wie man mit den Inhalten interagiert (z. B. welche Videos man liket oder kommentiert), lernt der Algorithmus, die Videovorschläge den Interessen der Nutzenden anzupassen. Somit entstehen dann die sogenannten Filterblasen, das heißt, Nutzende sehen jeweils sehr unterschiedliche Inhalte der Plattform und zwar bevorzugt solche, die ihren eigenen Einstellungen und Vorlieben entsprechen. Da man praktisch minütlich nach Ablauf eines Videos zum nächsten Video wischen muss, ist eine aktive Nutzung sichergestellt. Eine Nebenbei-Nutzung im Hintergrund ist nicht möglich, da dann immer dasselbe TikTok-Video wiederholt wird.

Neben der Nutzung im Push-Modus, bei der man sich über die eigene Profilseite (sog. For You Page, kurz: FYP) vom Algorithmus ausgewählte Videos zuspielen lässt, ist auch eine Nutzung im Pull-Modus möglich, indem man über die Suchmaske von TikTok nach Stichworten oder Hashtags sucht. Neben voraufgezeichneten Kurzvideos bietet TikTok auch Live-Übertragungen, bei denen TikToker*innen sich ein oder zwei Stunden lang dem Publikum stellen und beispielsweise Fragen aus dem Chat beantworten. Die Plattform finanziert sich über Werbung und gesponserte Inhalte. In regelmäßigen Abständen werden dementsprechend vom Algorithmus auch Werbeclips eingespielt.

Eine Befragung von jungen Erwachsenen in den USA ergab, dass TikTok-Nutzende den Unterhaltungs-, Community- sowie Informationswert der Plattform schätzen, während Nicht-Nutzende kritisieren, dass die Inhalte zu „pubertär“ seien, zu viel Cybermobbing stattfinde und die Plattform nicht vertrauenswürdig sei ([Vaterlaus und Winter 2021]). Aus psychologischer Perspektive wird hinterfragt, ob TikTok nicht möglicherweise Gesundheit und Wohlbefinden der jungen Nutzenden gefährdet, etwa zu suchtähnlicher Vielnutzung motiviert oder durch fragwürdige und durch Filter geschönte Vorbilder das Selbstwertgefühl beeinträchtigt ([Montag et al. 2021]). Diese und weitere Negativeffekte werden im Kontext aller Social-Media-Plattformen diskutiert und sind somit nicht neu. Neu sind allerdings in der aktuellen Debatte rund um TikTok vermehrte Zweifel, ob individuelle Medienkompetenz überhaupt noch ausreichend sein kann, um gegen die Übermacht algorithmisch gesteuerter Plattformen anzukommen ([merzWissenschaft 2022]): Woher können und sollen Jugendliche die notwendige Souveränität nehmen, um sich gegenüber den algorithmisch optimierten und durchkommerzialisierten Vorgängen auf TikTok kritisch zu positionieren? Ist nicht der Alltag der Jugendlichen schon so stark durch Soziale Medien geprägt, dass ihnen die kritische Distanz fehlt? Und stehen sie nicht ohnehin unter starkem Gruppendruck, bei jeder „coolen“ neuen Social-Media-App auf jeden Fall mitzumachen?


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Die Content-Anbieter*innen auf TikTok

Der Erfolg von TikTok ist primär im hohen Unterhaltungswert der kurzen und kurzweiligen Videoclips begründet, die in einem nie enden wollenden Strom auf der eigenen Profilseite zugespielt werden. Das Kurzvideoformat hat den Kreis der Content-Anbieter*innen im Vergleich zu YouTube stark erweitert und verändert. Denn auf YouTube sind die Standards und Erwartungen des Publikums durch zunehmende Professionalisierung inzwischen sehr hoch ([Döring 2014]): Die Produktion eines 15-minütigen YouTube-Videos mit gutem Drehbuch, hoher Ton- und Bildqualität, Intro und Outro, Spezialeffekten, ansprechendem Vorschaubild usw. erfordert fortgeschrittene Fähigkeiten, teures Equipment und viel Zeit. Ein 30 Sekunden langer TikTok-Clip ist dagegen mit dem Smartphone schnell aufgezeichnet und rasch bearbeitet. Denn die TikTok-App ist leicht bedienbar und bietet interessante Effekte und Filter. Somit ist die produktive Beteiligung an TikTok mit eigenen Clips aktuell deutlich niedrigschwelliger als bei YouTube.

Der rasante Erfolg von TikTok führte zu einer gewissen Konkurrenz mit YouTube. Manche YouTuber*innen machten sich öffentlich lustig über TikToker*innen und deren vermeintlich fehlendes Talent und ihren minderwertigen Content. Die Medien griffen den sogenannten „Klassenkampf“ zwischen YouTube und TikTok auf ([Mehta 2020]; [Sharma 2020]). Tatsächlich hat ein TikTok-Bashing mit dem Argument, dass der Content dieser Plattform im Vergleich zu YouTube nicht hochwertig genug sei und meist von „Teenies ohne Talent“ komme, klassistische und diskriminierende Anklänge. Vermutlich ist es kein Zufall, dass der momentan weltweit erfolgreichste männliche TikToker Khaby Lame (über 140 Millionen Follower*innen, Stand: Juni 2022) ein im Sozialwohnungsbau lebender 21-jähriger Italiener mit senegalesischen Wurzeln ist (https://www.tiktok.com/@khaby.lame). Er steht sinnbildlich dafür, dass die TikTok-Welt vielfältiger und durch niedrigere Zugangsschwellen teilweise inklusiver ist als die häufig weißer und elitärer anmutende YouTube-Welt.

Dabei dürfen Plattform-Konkurrenzen auch nicht überbewertet werden. Denn die Social-Media-Welt ist dynamisch und zeigt viele Konvergenzen: So gibt es zunehmend weniger „sortenreine“ YouTuber*innen oder TikToker*innen. Denn wer auf Sozialen Medien erfolgreich sein will, bespielt typischerweise mehrere Kanäle und ist gleichzeitig auf YouTube, Instagram, TikTok, Twitch und Snapchat vertreten. Auch gleichen sich die Plattformen immer mehr an: Als TikTok mit seinen Sekunden-Clips boomte, führten sofort auch YouTube („YouTube Shorts“) und Instagram („Instagram Reels“) Kurzvideoformate von maximal 60 Sekunden Länge ein. Zudem sorgten YouTube (im Besitz von Google LLC) und Instagram (im Besitz von Facebook/meta) dafür, dass ihr jeweiliger Plattform-Algorithmus die neuen Kurzvideoformate bevorzugt ausspielt und damit deren Produktion mit vielen Views belohnt. Somit können Personen, die auf TikTok mit Kurzclips erfolgreich sind, wiederum leichter mit demselben Content auch auf YouTube und Instagram präsent sein.

Betrachtet man die Wikipedia-Liste der reichweitenstärksten TikTok-Kanäle (https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_most-followed_TikTok_accounts), so zeigt sich, dass die meisten von genuinen Social-Media-Persönlichkeiten betrieben werden. Nur vereinzelt sind bereits etablierte Künstler*innen auf den vordersten TikTok-Plätzen zu finden, etwa der Schauspieler Will Smith (https://www.tiktok.com/@willsmith) oder die südkoreanische Boyband BTS (https://www.tiktok.com/@bts_official_bighit). TikTok selbst betreibt einen sehr erfolgreichen Kanal mit rund 63 Millionen Abonnements, der aktuelle TikTok-Trends vorstellt (https://www.tiktok.com/@tiktok).


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TikTok-Forschung

Angesichts des enormen Erfolgs der Plattform verwundert es nicht, dass auch die TikTok-Forschung boomt. Im Fokus des Forschungsinteresses stehen dabei vor allem die Videoinhalte und ihre Qualität, aber auch Nutzungsmuster und mögliche Wirkungen. Hinsichtlich ihrer Fragestellungen und Methoden schließt die TikTok-Forschung direkt an die bereits seit über 15 Jahren etablierte YouTube-Forschung an. Und trotz ihres Images als eher oberflächlicher Spaß-Plattform fokussiert die Forschung durchaus auch auf die ernsthaften TikTok-Inhalte, etwa im Bereich Bildung, Politik und Gesundheit.

So wird beispielsweise der Frage nachgegangen, inwiefern die kurzen Videoclips tatsächlich zum Lernen dienen können, etwa im Rahmen eines didaktischen Ansatzes des „Nano-Lernens“ mit sehr kleinen Einheiten ([Khlaif und Salha 2021]). Immerhin existieren unter Hashtags wie #LearnOnTikTok ([Fiallos et al. 2021]) oder #LernenMitTikTok zahlreiche reichweitenstarke Videos, wobei TikTok selbst diesen Trend aktiv fördert und sich stärker als Bildungsplattform etablieren möchte ([Gründel 2020]).

Die Bedeutung von Social-Media-Plattformen für die politische Kommunikation ist nicht zu unterschätzen. Denn auf Sozialen Medien werden Öffentlichkeiten ebenso wie Gegen-Öffentlichkeiten für alle möglichen politischen Themen geschaffen. Auch Hassrede und Radikalisierung sind auf Sozialen Medien zu beobachten. Eine politikwissenschaftliche Analyse im Vorfeld der deutschen Bundestagswahl 2021 zeigte, dass TikTok als Plattform seiner gesellschaftlichen Verantwortung zum Schutz der Demokratie nicht gerecht wurde: Wahlrelevante Inhalte waren unzureichend gekennzeichnet, Maßnahmen zur Identifikation von Fake-News wurden zu spät implementiert und auch das Verifikationssystem, das authentische von gefälschten TikTok-Kanälen differenzieren würde (z. B. durch einen blauen Haken) funktionierte nicht ([Bösch und Ricks 2021]). So fand sich beispielsweise ein vermeintlich offizieller Bundestags-Account auf TikTok, der in Wirklichkeit überwiegend AfD-Content ausspielte. Mittlerweile sind diverse Politiker*innen und alle Parteien des Deutschen Bundestages auf TikTok vertreten, allerdings hatte unter den Parteien bis Ende 2021 nur der Kanal der SPD im Bundestag einen offiziellen blauen Haken (https://www.tiktok.com/@spdbt).

Alle Social-Media-Plattformen spielen eine wichtige Rolle für die Verbreitung von Gesundheitsinformationen. Das gilt auch für TikTok. So wurden zu Zeiten der Corona-Pandemie diverse Informationen, Fehlinformationen und Verschwörungsmythen über COVID-19 via TikTok verbreitet. Aber auch viele andere gesundheitsrelevante Themen sind auf TikTok präsent und werden wissenschaftlich untersucht, seien es Akne ([Zheng et al. 2021]), Alkohol ([Russell et al. 2021b]), Schönheitsoperationen ([Das und Drolet 2021]), Essstörungen ([Herrick et al. 2021]), Drogenabhängigkeit ([Russell et al. 2021a]) oder Diabetes ([Kong et al. 2021]).

Wie in der gesamten Social-Media-Forschung zeigen sich ambivalente Befunde und Bewertungen auch für TikTok: Einerseits werden Chancen des erweiterten Erfahrungs- und Meinungsaustauschs, der Vernetzung und kreativen Beteiligung gewürdigt, andererseits Risiken der Radikalisierung, Online-Hassrede, Desinformation, falscher Idealbilder und übermäßiger bis suchtähnlicher Nutzung der Plattform aufgezeigt. Solche ambivalenten Effekte sind ebenso für TikTok-Inhalte aus dem Bereich der sexuellen und reproduktiven Bildung und Gesundheit zu erwarten.


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Sexualaufklärung auf TikTok

Genau wie auf YouTube ([Döring 2017a], [2017b]) wird auf TikTok ([Fowler et al. 2021]) dezidierte Sexualaufklärung durch Organisationen und Einzelpersonen betrieben. So ist beispielsweise pro familia Berlin seit Anfang 2021 auf TikTok präsent ([Ritter und Stephan 2021]), um Jugendlichen auch im Corona-Lockdown mit Sexualaufklärung zur Seite zu stehen (https://www.tiktok.com/@profamilia_berlin). Der pro familia-Kanal verzeichnet 35 000 Follower*innen und hat mit Clips wie „6 Tips zur Kondomanwendung“ (https://www.tiktok.com/@profamilia_berlin/video/6922777836893867270) auch schon viralen Erfolg gehabt (3.4 Millionen Views).

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist bislang nicht auf TikTok aktiv. Aber es engagieren sich eine Reihe von einzelnen Fachkräften aus der Sexualpädagogik, Gynäkologie und Urologie. Führend mit fast 900 000 Abonnements ist der TikTok-Kanal „doktorsex“ (https://www.tiktok.com/@doktorsex) der Gynäkologin Dr. Sheila de Liz und des Urologen Volker Wittkamp. Das Duo vermittelt Sexualaufklärung sympathisch, nahbar und fachlich kompetent. Viele ihrer TikTok-Clips erreichen ein Millionenpublikum, etwa wenn es um Fragen wie „Blut- oder Fleischpenis?“ (https://www.tiktok.com/@doktorsex/video/6981781645280005382) oder „Warum rasiert man sich untenrum?“ (https://www.tiktok.com/@doktorsex/video/6948756242349182214) geht. Das junge Publikum ist begeistert: „Mann, ich lern hier einfach viel mehr als in der Schule“ oder „Du bist so seriös und sympathisch, dich hätte ich gerne als Frauenärztin“ heißt es in der Kommentarspalte.

Es wird aber auch viel gewitzelt, insbesondere darüber, wie schnell man den Ton des Handys leiser stellt, weil gerade Mama oder Papa neben einem sitzen, während der Algorithmus ein Sexualaufklärungsvideo des Kanals zuspielt. Dr. Sheila de Liz und Volker Wittmann sind neben TikTok auch auf YouTube und Instagram aktiv, ihre Online-Videos werden inzwischen von der Krankenkasse DAK gefördert und auch auf der Website der DAK ausgespielt ([Döring und Lehmann 2022]).

Ausgesprochen erfolgreich mit über 650 000 Kanal-Abonnoments auf TikTok ist zudem die Sexualpädagogin Gianna Bacio mit ihrem gleichnamigen Kanal (https://www.tiktok.com/@giannabacio). Sie behandelt Themen wie „Masturbieren hält jung und schön“ (https://www.tiktok.com/@giannabacio/video/6955414962114170118) oder „Haben Männer einen G-Punkt?“ (https://www.tiktok.com/@giannabacio/video/6937997384995654917) und erzielt damit Millionen von Views und Likes. Erfolgsrezept ist auch bei ihr das sympathische und gleichzeitig kompetente Auftreten sowie das beständige Eingehen auf Publikumsfragen in stetig neuen Clips. Dabei ist Gianna Bacio eine erfahrene Internet-Aufklärerin. Sie war schon beim YouTube-Kanal „61 Minuten Sex“ dabei, einem der ersten dezidierten Sexualaufklärungskanäle in Sozialen Medien ([Döring 2017a]).

Neben den Profis aus Medizin und Pädagogik äußern sich auf TikTok auch viele Laien zu Fragen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und teilen ihre persönlichen Erfahrungen. Das ist vielfach hilfreich, kann aber problematisch sein, wenn wissenschaftliche Fakten übergangen oder negiert werden. So ist momentan auf Sozialen Medien wie YouTube, Instagram und TikTok ein starker Trend zu beobachten, hormonelle Verhütung und insbesondere die Pille infrage zu stellen ([Döring 2021b], [Döring und Lehmann 2022]). Während es einerseits zu begrüßen ist, dass ein offener und kritischer Verhütungsdiskurs stattfindet, ist andererseits davor zu warnen, dass hier teilweise regelrechte Pillen-Mythen verbreitet und Negativwirkungen über die medizinische Evidenz hinaus stark übertrieben werden.

Zur Nutzung und Wirkung von TikTok-Videos über Themen der sexuellen und reproduktiven Bildung und Gesundheit liegen bislang kaum Studien vor. Vorliegende Daten deuten darauf hin, dass TikTok bislang unerreicht große Reichweiten mit Online-Sexualaufklärung erzielt und viele Fragen beim Publikum auslöst, dass aber über die Plattform kaum Verweise auf weiterführende Informationen oder Anlaufstellen verbreitet werden ([Döring und Lehmann 2022]). Hier besteht Entwicklungsbedarf.

Sexualaufklärung auf TikTok – wie auch auf anderen Sozialen Medien – anzubieten, ist dabei immer mit einer Gratwanderung verbunden. Denn einerseits treffen explizite Inhalte auf Interesse, andererseits stoßen sie aber auch auf Ablehnung und Sorgen um den Kinder- und Jugendmedienschutz. Daher müssen Anbieter*innen immer wieder dagegen kämpfen, dass ihre Videos gelöscht oder ihr gesamter Account gesperrt wird, weil ihre Inhalte als unangemessen gemeldet wurden ([Döring 2020]). Als Anbieter*in kann man dann Widerspruch einlegen, wobei dieser mehr oder minder schnell und erfolgreich bearbeitet wird. Die Plattform-Betreibenden greifen zunehmend auch auf das Mittel des Shadow Ban zurück. Hierbei wird dann ein Aufklärungskanal, dessen Inhalte einige Male gemeldet wurden, vom Algorithmus bewusst ignoriert, sodass die Inhalte kaum noch ein Publikum erreichen. Auch dieses Thema berührt die Frage, wieviel unkontrollierte Macht Plattform-Betreibende haben (dürfen).


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LGBTIQ + auf TikTok

Mit Blick auf die Sichtbarkeit und das Empowerment von LGBTIQ + -Personen wurden Soziale Medien seit jeher eher positiv bewertet. Denn sie geben Raum für positive Selbstdarstellung, neue Rollenmodelle, Vernetzung und Unterstützung. Allerdings geht das Online-Empowerment teilweise mit Dis-Empowerment einher, wenn LGBTIQ + Personen mit Online-Hassrede konfrontiert werden oder mit algorithmischer Diskriminierung.

Eine qualitative Interviewstudie in den USA trug die Erfahrungen von 16 queeren TikTok-Nutzer*innen im Alter zwischen 18 und 37 Jahren zusammen ([Simpson und Semaan 2020]). Es zeigte sich, dass alle Befragten einen positiven Nutzen aus TikTok-Videos ziehen konnten und sich in ihrer queeen Identität bestärkt fühlten. Gleichzeitig wurde aber auch klar, dass der TikTok-Algorithmus zu Irritationen führte, wenn er ungewollt heteronormativen Content zuspielte. Um eine algorithmusgesteuerte Plattform wie TikTok erfolgreich nutzen zu können, ist somit auch algorithmische Kompetenz als Element der Medienkompetenz notwendig: Man muss dafür sensibilisiert sein, wie der TikTok-Algorithmus arbeitet, um ihn entsprechend den eigenen Interessen trainieren zu können. So berichteten die queeren TikTok-Nutzer*innen, dass sie ganz gezielt bestimmte Kanäle abonnieren, bestimmte Videos liken, kommentieren und aktiv mit Freund*innen teilen sowie ganz gezielt mit queeren Hashtags interagieren, damit der Algorithmus ihre Präferenzen erkennt und ihre For You Page entsprechend bespielt. Andere Studien bestätigen und erweitern die Konzeptualisierungen von algorithmischer Kompetenz, algorithmischen Privilegien und algorithmusorientiertem Widerstand der LGBTIQ + -Szene auf TikTok ([Karizat et al. 2021]).

Eine kanadische TikTok-Studie bekräftigt die große Bedeutung und den positiven Nutzen von TikTok für Jugendliche und junge Erwachsene, die geschlechtlichen und sexuellen Minoritäten angehören ([Hiebert und Kortes-Miller 2021]). Insbesondere unter den Bedingungen der COVID-19-Pandemie mit ihren außerhäusigen Kontaktbeschränkungen hat sich TikTok als wichtige Ressource für LGBTIQ + -Personen erwiesen.

In der deutschsprachigen TikTok-Welt sorgt beispielsweise der Kanal „die_michalskis“ (https://www.tiktok.com/@die_michalskis) mit fast 450 000 Abonnements für große Aufmerksamkeit. Der Kanal klärt über queere Lebensweisen und Polyamorie auf und zeigt das Leben von Saskia, ihrem Mann und ihrer Frau, die zu dritt leben und gerade in der Familienplanung stecken. Das sympathische Trio beherrscht die Ästhetik der Plattform, geht souverän mit Kritiker*innen um, wurde schon in die TV-Talkshows „Nachtcafé“ (SWR) sowie „deep und deutlich“ (ARD) geladen und hat ein queeres Kinderbuch veröffentlicht.

Synergien zwischen alten und neuen Medien nutzt unter anderem auch Robin Solf, der als Kandidat des RTL-Datingformats „Prince Charming“ 2021 bekannt wurde ([Hamm 2021]) und auf TikTok mit seinem Kanal „robinsolf69“ (https://www.tiktok.com/@robinsolf69) bereits über 10 000 Follower*innen zählt. Er behandelt Reality TV, schwule Klischees, Männlichkeitsbilder und Dating.


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Beziehungs- und Datingberatung auf TikTok

Für Menschen aller Geschlechter und sexuellen Orientierungen ist sexuelle wie romantische Partnersuche tendenziell mühsam und frustrierend. Die vielfältigen Online-Dating-Plattformen und -Apps haben die Möglichkeiten der Kontaktaufnahme zwar vergrößert, aber keinen automatischen Erfolg beschert ([Aretz et al. 2017]; [Finkel et al. 2012]). Tatsächlich wurde zusammen mit dem Online- und Mobile-Dating offenbar auch das Klagen über missglückte Dates normalisiert. Geschichten von „Horror-Dates“ kursieren inzwischen auf allen Social-Media-Plattformen, so auch auf TikTok. Und nicht nur wird massenhaft über schreckliche Tinder-, Grindr-, Hinge-, Bumble-, Lovoo- oder OKCupid-Dates geklagt, auch über Beziehungen und Ex-Beziehungen wird das Herz ausgeschüttet. In zeitgenössischer Interpretation wird dabei der oder dem Ex gern eine Boderline- oder Narzissmus-Diagnose mitgegeben. Und oftmals fühlen sich die Berichterstattenden im Nachgang der Beziehung nicht einfach enttäuscht, wütend oder traurig, sondern mindestens „traumatisiert“.

Auf den Trend zunehmender Psychologisierung, Pathologisierung und Therapeutisierung des Sozialen wie des Sexuellen wird seit längerem hingewiesen (z. B. [Maasen 2004]). Folgerichtig gemäß dieser Logik ist es, nicht auf eigene Faust zu daten, sondern sich von selbst ernannten Dating- und Beziehungs-Coaches beraten zu lassen. Bislang gibt es kaum Studien dazu, welche Botschaften diese Online-Dating-Coaches vermitteln und ob und wie das Publikum sie umsetzt. Eine Ausnahme ist eine US-Studie, in deren Rahmen 27 Online-Dating-Coaches zu ihren Empfehlungen interviewt wurden mit dem Ergebnis, dass die meisten ein schnelles Offline-Treffen empfahlen, da man sich online einfach kein genaues Bild vom Gegenüber machen könne ([Zytko et al. 2016]). Anekdotischen Beobachtungen zufolge spielen bei den Empfehlungen von Dating-Coaches tradierte Geschlechterrollen eine zentrale Rolle. So scheinen Dating-Coaches im Kontext der Heterosexualität vor allem zu propagieren, dass Männer „maskuliner“ und Frauen „femininer“ auftreten müssen, um durch „Polarität“ im Dating Erfolg zu haben. Dazu gehört dann etwa auch der Tipp, als Junge oder Mann bloß nicht lange zu zögern und keinesfalls vorher nachzufragen, sondern die Datingpartnerin einfach gleich zu küssen, um nicht als „Lappen“ zu gelten und nicht in der „Friend Zone“ zu landen. Umgekehrt werden Mädchen und Frauen üblicherweise ermahnt, bloß nicht den ersten Schritt zu machen, das entspräche einfach nicht der weiblichen Polarität. Beispiele für Coaching-Kanäle sind danielkarnatzcoaching (https://www.tiktok.com/@danielkarnatzcoaching), DateDoktor (https://www.tiktok.com/@datedoktor) oder SoDenkteinMann (https://www.tiktok.com/@sodenkteinmann). Der TikTok-Kanal „SoDenkteinMann“ von Dating-Coach Sean ist ein Ableger seines gleichnamigen YouTube-Kanals und Instagram-Accounts. Die Reportage „Dating-Coach: Würdest du seinen Methoden vertrauen?“ des Y-Kollektiv im funk-Netzwerk hat sich bereits kritisch mit den Inhalten und dem Geschäftsmodell des selbst ernannten Dating-Beraters beschäftigt (https://www.youtube.com/watch?v=9ZlC4YTtqN0).


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Fazit

TikTok ist eine rasch wachsende Kurzvideo-Plattform mit großer Beliebtheit unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Fragen der sexuellen und reproduktiven Bildung und Gesundheit spielen auf der Plattform eine wichtige Rolle. Das betrifft neben den angesprochenen Themen Sexualaufklärung, LGBTQ+ und Dating auch viele weitere wie z. B. Schwangerschaftsabbruch, HIV-PrEP, Pornografie oder sexuelle Gewalt. Die Themen werden im Peer-Austausch verhandelt, aber auch von medizinischen und pädagogischen Profis aufgegriffen. Die Erforschung der TikTok-Inhalte, ihrer Anbieter*innen und Nutzer*innen sowie der Wirkungen steht noch am Anfang. Ebenso fehlt es bei vielen Themen an professionellen Informations-Anbieter*innen und qualitätsvollem Content. Das betrifft unter anderem auch Fragen des Kennenlernens und der Beziehungsgestaltung. Die man vielleicht nicht den selbsternannten Coaches überlassen sollte.


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Interessenkonflikt

Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. phil. Nicola Döring
Technische Universität Ilmenau
Institut für Medien und Kommunikationswissenschaft
Ehrenbergstr. 29
98693 Ilmenau
Deutschland   

Publication History

Article published online:
06 September 2022

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