Schlüsselwörter
Ödipus - Unfallchirurgie - Orthopädie - Kindsmisshandlung - psychische Störungen
Keywords
Ödipus - traumatology - orthoeadic surgery - child abuse - psychological disorder
Einleitung
Der Name „Ödipus“ ist eng mit der Psychoanalyse verbunden, denkt man doch gleich an
den Ödipus-Komplex, der von Sigmund Freud beschrieben wurde und seinen festen Platz
in der Psychoanalyse
hat. Von dem Mann, der seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet hat, wird
schon von Homer in der Odyssee berichtet. Im 11. Gesang, der Nekyia, erscheint dem
Odysseus in der Unterwelt
Epikaste (gleichbedeutend mit Iokaste), die Mutter des Ödipus. Die Geschichte wird
dort in 10 Versen erzählt ([1], S. 170). Die Odyssee
kann in das Jahr 700 v. Chr. datiert werden ([2], S. 123; [3], S. 77). Schadewaldt
berichtet auch über Vorstufen der Sage, die ins 2. Jahrtausend vor Christus zurückreichen
([2], S. 123). Sophokles (496–406 v. Chr. ([4], S. 40) stellte als etwa 70-Jähriger das Stück „König Ödipus“ zwischen 429 und 425
v. Chr. in einer Zeit schwerer staatlicher und
politischer Krisen im Rahmen des Tragödienagons vor. Er gewann zwar nicht den ersten
Preis damit, aber das Stück wurde schon von Aristoteles (389–322 v. Chr. ([5], S. 110) als vollkommenes Bühnenwerk angesehen und es wurde „zum Muster der Tragödie überhaupt“ ([3], S. 78).
Ödipus ist nach Gemoll mit „Schwellfuß“ zu übersetzen ([6], S. 532). Aus dem Namen und der Geschichte dieses griechischen Heroen lassen
sich verschiedene orthopädisch-unfallchirurgische Krankheitsbilder sowie psychische
Reaktionen herleiten und in Diagnosen fassen, die im Folgenden analysiert und vorgestellt
werden sollen.
Die Geschichte
Es herrschte ein Geschlechterfluch auf den Labdakiden, nachdem der Großvater des Ödipus,
Labdakos, sich weigerte, den Dionysoskult anzuerkennen, als er König von Theben werden
sollte ([7], S. 215). Laios, sein Sohn, wuchs im Exil am Hof des Pelops auf. Laios entführte
als König von Theben schließlich Chrysippos, den
unehelichen Sohn des Pelops, wegen dessen Schönheit ([7], S. 215). Das war ein „eklatanter Verstoß gegen das Gastrecht“, das er
früher dort genoss, wofür er den Fluch des Pelops und den Fluch der Schicksalsgottheiten
auf sich zog ([7], S. 215). Kerenyi ([8], S.77) beschreibt Chrysippos als „wahren Sonnenknaben“, der früh und unverheiratet starb, und Laios sei zum „Erfinder der
Knabenliebe“ geworden ([8], S. 77 zitiert Euripides' Chrysippos). Auch Hera und Apollo gerieten deshalb über
Laios in Zorn. Apollo
als Beschützer der Knaben und Hera, weil der geraubte Knabe die „Ehefrau ersetzen sollte“ ([8], S. 78).
Laios ging nach Delphi und befragte das Orakel, welches ihm weissagte, dass sein Sohn
ihn töten würde ([7], S. 138). Er hörte nicht auf
das Orakel und heiratete Iokaste ([9], S. 139). Iokaste wurde schwanger und brachte den Sohn zur Welt. Damit sich das
Orakel aber nicht
erfüllen konnte, ließ Laios dem Neugeborenen die Füße durchbohren und ihn durch einen
Hirten auf dem Kithairon-Gebirge mit dem „ausdrücklichen Tötungsgebot seitens der Mutter“ ([7], S. 215 mit Verweis auf Sophokles’ „Oidipous Tyrannos“), aussetzen.
Wann Ödipus traumatisiert wurde, wird von Iokaste im „König Ödipus“ zeitlich ziemlich
genau mitgeteilt: „seit der Geburt des Knaben waren drei Tage kaum vergangen, da schnürte jener
[Anm.: gemeint ist Laios] ihm die Fußgelenke ein und ließ ihn … ins unzugängliche Gebirge werfen“ ([3], S. 35).
Der Hirte überließ das Kind aber aus Mitleid einem anderen Hirten, der im Kithairon-Gebirge
im Auftrage des Polybos unterwegs war.
Der brachte das Kind zu seinem König Polybos nach Korinth, der den Knaben mit seiner
Ehefrau Merope, die kinderlos waren, wie ein eigenes Kind aufzog ([10], S. 187). Im Haus des Polybos wuchs Ödipus im Glauben auf, Merope und der König
(Polybos) seien seine Eltern ([8],
S. 80).
Ein Betrunkener verhöhnte eines Tages Ödipus bei einem Mahl ([2], S. 40) wegen seiner „zweifelhaften Herkunft“ ([7], S. 215). Daraufhin suchte Ödipus das Orakel in Delphi auf, wo ihm geweissagt wurde,
dass er seinen Vater töten und seine Mutter heiraten
würde. Er bezog dies natürlich auf Polybos und Merope als seine vermeintlichen Eltern
und kehrte nicht nach Korinth zurück. Er traf auf Laios an einem Dreiweg ([7], S. 216) und tötete ihn bei der Auseinandersetzung um das Wegerecht ([2], S. 41).
Laios war gerade auf dem Wege nach Delphi, um das Orakel zu befragen was zu tun sei,
da die Stadt Theben von der Sphinx bedroht war ([7],
S. 216).
Ödipus konnte dann die Sphinx besiegen, indem er das Rätsel, das sie stellte, löste
(s. u. Lösung des Rätsels). Dadurch erlöste er die Stadt vom Unheil und bekam dafür
zusammen mit der
Königsherrschaft über Theben Iokaste, die eigentlich seine leibliche Mutter war, zur
Gemahlin. Aus dieser Verbindung gingen die Söhne Eteokles und Polineikes sowie die
Töchter Antigone und
Ismene hervor ([7], S. 216).
Theben wurde Jahre später von einer Seuche heimgesucht. Kreon, der Schwager des Ödipus,
erhielt vom delphischen Orakel den Hinweis, den Mörder des Laios aus Theben zu vertreiben,
um das Übel
zu beenden. Da meldete ein Bote aus Korinth den Tod des Königs Polybos. Von ihm erfuhr
Ödipus auch, dass er nicht der Sohn des Polybos war, da eben jener Bote ihn als Hirte
damals im
Kithairon-Gebirge gefunden hatte. In der Erkennungsszene im „König Ödipus“ von Sophokles
verweist er auf die Füße des Ödipus mit den Worten: „Die Fußgelenke mögen es an dir bezeugen“
([2], S. 50).
Während Ödipus die Wahrheit über sich erfuhr, erhängte sich Iokaste im Palast. Er
selbst blendete sich mit Schmuckspangen vom Gewand seiner nunmehr toten Frau und Mutter
([7], S. 216). Kreon verbannte ihn aus Theben, dem Orakelspruch folgend ([7], S. 216),
sodass die Stadt von der Seuche befreit wurde.
Der Name
„Ödipus“; der Name wird allgemein mit „Schwellfuß“ übersetzt ([6], S. 532; [8], S. 79). Er ergibt sich aus der Kombination der Bezeichnungen für „schwellen“ (οἰδἀω[1] – schwellen; ([6], S. 532) und „Fuß“ (πούσ; [6], S. 626). Den Namen gaben Polybos und Merope
dem Knaben ([10], S. 195). Diese etymologische Herleitung des Namens verweist auf den Zustand der
Füße, nachdem sie „mit einer
goldenen Spange oder einer eisernen Spitze“ durchbohrt worden waren ([8], S. 80).
Auch wenn die Übersetzung „Schwellfuß“ inzwischen weithin anerkannt ist, sind mehrere
etymologische Untersuchungen zum Ursprung, zur Bedeutung sowie zur Deutung des Namens
unternommen
worden.
Nachdem Ödipus das Rätsel der Sphinx gelöst (s. u.) und sein intellektuelles Potenzial
gezeigt hatte, wurde er zu einem weisen Heroen ([8], S. 84). Deshalb könnte sein Name aus dem Wort für „wissen“ (οἶδα – wissen ([6], S. 532, mit Verweis auf
εἴδω, S. 242) hergeleitet werden, um Ödipus damit als den „Wissenden“ zu bezeichnen ([10], S. 196). In der Tragödie rühmte er sich
ja auch seiner Weisheit ([2], S. 15 und 25). Folgt man Kerényi ([8], S. 84) wurde er
mit der Lösung des Rätsels jedoch auch zum törichtesten König der Welt, wenn man den
Verlauf der Tragödie betrachtet.
Eine andere Deutung basiert auf der Lesart des Namens als „Oiduphallus“ ([11], S. 56), bzw. „Oidyphallos“ bei Kerényi
([8], S. 80), was einer Umschreibung des männlichen Geschlechtsorgans entsprechen würde.
Edmunds stellt in seiner psychoanalytischen
Betrachtung des Ödipus („The Body of Ödipus“) eine Verbindung zwischen den Füßen, den Augen und den Genitalien des Ödipus her
([11], S. 56). Er berichtet dabei über den Glauben im alten Griechenland, dass eine Verletzung
der Füße zur Schwellung der Leiste („groin“) führe, und verweist dazu
auf mehrere Stücke des griechischen Komödiendichters Aristophanes (um 445–385 v. Chr.
([5], S. 110) ([11], S. 56). Dem Volksglauben nach führten Klumpfüße wegen der Schwellung des Fußes
und der folgenden Kongestion zu einer stärkeren
Ausprägung der Geschlechtsteile sowie zu gesteigerter Wollust ([12] zitiert Aigremont Dr. 1909, S. 70). Edmunds beurteilt Ödipus
schlussendlich wegen der Gleichheit seines Namens mit seiner Verstümmelung als einen
dreigeteilten Menschen („body“), da ihn seine Füße repräsentierten („Oedipus is his feet“),
welche das symbolische Äquivalent zu seinen Augen sowie seinen Genitalien darstellten
([11], S. 56).
Robert ([13], S. 57) diskutiert die Interpretation des Namens Ödipus als „der Fußkundige“ kritisch, zumal er die etymologische
Herleitung dazu für bedenklich hält. Allerdings wäre Ödipus als „Fußkundiger“ hervorragend
zur Lösung des Rätsels der Sphinx (s. u.) geeignet, zumal er schmerzliche Erfahrungen
mit seinen
eigenen Füßen gemacht hatte.
Schneidewin ([10], S. 196) verweist in seiner Abhandlung „Die Sage vom Ödipus“ auf E. v. Lassaulx und Al. Capellmann, die dem
„zweifüßigen“ (δίπους ([6], S. 221) ein „ach“ (οἴ ([6], S. 532)
voraussetzten, sodass daraus etwa: „ach, ein Mann“ (οἴ δίπους) entstand. Der Begriff „Fuß“ wurde z. B. auch in Psalmen des David stellvertretend
für den Menschen als „pars pro
toto“ genutzt, berichtet Zwipp in seiner Abhandlung über die kulturelle Bedeutung des
Fußes ([12], S. 68). So würde des Rätsels
Lösung dem Namen dessen entsprechen, der es löste. Kerényi meint aber, dass sich den
Überlieferungen gemäß der Name tatsächlich auf die Füße des Heroen beziehe ([8], S. 79 f.). In der Erkennungsszene im „König Ödipus“ berichtet der „Mann von Korinth“, dass er als Hirte den Ödipus als Kind „in
den Felsenschluchten des Kithairon“ gefunden hätte ([2], S. 50) und verweist zum Beweis auf die Füße des Ödipus: „Die Fußgelenke
mögen es an dir bezeugen“ und Ödipus bestätigt: „O mir! was nennst du dieses alte Übel“ ([2], S. 50).
Der „Mann von Korinth“ geht ins Detail, er fährt fort: „Ich löste dich! durchbohrt hattest du der Füße Spitzen“. Und Ödipus bestätigt: „Furchtbare Schande aus den Windeln
bracht ich mit!“. Und der „Mann von Korinth“ bringt es auf den Punkt: „So dass du der nach diesem Zufall benannt mit Namen wurdest, der du bist!“ ([2], S. 50).
Man sollte nicht vergessen, dass die Sage des Ödipus eine Entwicklung vom Volksepos
zur „Kunstdichtung“ des Sophokles durchlaufen hat ([10], S. 160). Erst in dem Drama des Sophokles bekamen der Name des Heroen und die Geschichte,
wie es zu allem kam, einen zentralen Platz, weil damit die Erkennungsszene
vorbereitet und ausgeführt werden konnte.
„Ödipus“ bezeichnet also den Zustand eines geschwollenen Fußes bzw. geschwollener
Füße. Es müssen demnach auch nach der Verletzung (Durchbohren) der Füße Entzündungs-
sowie Heilungsprozesse
eingesetzt haben. Das heißt, dass Ödipus seinen Namen wohl bekommen hatte, als sich
Folgen der Verletzungen abgezeichnet hatten. Sie müssen auch über sein ganzes Leben
hinweg vorhanden gewesen
sein, denn bei der Erkennungsszene wird durch den „Mann von Korinth“ (s. o.) auf die Folgen der Verletzung hingewiesen, die offensichtlich immer noch
zu sehen waren. Und Ödipus war sich
seiner Traumatisierung als Kind wohl immer bewusst [9], was durch seine Aussage: „O mir! was nennst Du dieses alte Übel“ ([2], S. 50) bestätigt wird.
Rätsel der Sphinx
Die Sphinx, die „Würgerin“ ([8], S. 82), ist ein „verderbenbringendes mythisches Wesen, das bei Theben hauste“ ([6], S. 724), halb Jungfrau, halb Löwin ([14], S. 47). Sie wird mit dem „Oberkörper
einer Jungfrau, Flügeln und einem Löwenleib“ dargestellt ([6], S. 724). Die Schlangengöttin Echnida hatte sich mit dem eigenen Sohn,
dem Hund Orthos, gepaart und die Sphinx ([8], S. 83) geboren.
Hera oder Dionysios hätten die Sphinx nach Theben geschickt, die eine, weil Laios’
Leidenschaft gegenüber Chrysippos dort geduldet wurde, der andere, weil die Stadt,
seine Mutterstadt, ihn
nicht verehren wollte ([8], S. 83). Dort saß die Sphinx dann also auf einer Säule und täglich versammelten
sich die Thebaner, um das
Rätsel zu lösen, und wenn sie das nicht konnten, holte sich die Sphinx einen von ihnen
und erwürgte ihn.
Das Rätsel, das sie stellte, lautet bei Gustav Schwab so ([15], S. 259):
„Es ist am Morgen vierfüßig,am Mittag zweifüßig,am Abend dreifüßig.Von allen Geschöpfen
wechselt es allein mit der Zahl seiner Füße;aber eben, wenn es die meisten Füße bewegt,
sind Kraft
und Schnelligkeit seiner Glieder ihm am geringsten.“
In einigen Ausführungen wird noch der Hinweis gegeben, dass das Geschöpf nur eine
Stimme besessen hätte ([16], S. 5; [17], S. 174).
Das Rätsel war weit verbreitet und existierte unabhängig vom Ödipus-Mythos ([11], S. 57). Edmunds vermutet, dass es wegen der Verbindung
zwischen dem Namen des Ödipus und seinem Inhalt der Sphinx „angehängt“ wurde ([11], S. 57). Die ältesten Hinweise auf das Rätsel
der Sphinx finden sich nach Porzig ([17], S. 172) auf einer Schale, auf der die Sphinx mit einer Art Sprechblase dargestellt
ist, deren
Inhalt auf den Chor der Greise bei Aischylos’ „Agamemnon, Orestie I“ verweist, wo
es heißt: „Der Überalterte … wandelt des Weges auf drei Füßen, nicht kräftiger als ein Kind.“ ([18], S. 7). Damit kann das Rätsel mindestens an den Anfang des 5. Jahrhunderts verortet
werden (Aischylos 525–456 v. Chr. ([5], S. 121) ([18], S. 65).
Lösung des Rätsels
Das Geschöpf, nach dem im Rätsel gefragt wird, ist der Mensch, der als Kind seine
zwei Beine und seine zwei Hände, also alle Viere, zur Fortbewegung nutzt, in der Mitte
seines Lebens, auf dem
Höhepunkt seiner Kraft, geht er auf seinen beiden Beinen und am Lebensabend braucht
er einen Stock als zusätzliche Stütze, sodass er quasi auf drei „Füßen“ steht und
geht.
Ödipus löste das Rätsel der Sphinx, die sich daraufhin tötete ([13], S. 56; [16],
S. 1), und rettete dadurch die Stadt Theben von dem Unheil. Und Ödipus war stolz darauf,
das Rätsel gelöst zu haben ([16], S. 2). Die
Frage ist, warum gerade Ödipus in der Lage war, das Rätsel zu lösen.
Edwards [16] findet 2 Erklärungsansätze, wie Ödipus des Rätsels Lösung fand: Den ersten lieferte
Ödipus selbst. Er ging in Gedanken alle
Kreaturen durch, die er kannte, aber es passte keine. Also meinte er entweder, dass
er das gesuchte Geschöpf nicht kannte, oder dass das Rätsel keine Lösung hätte. Es
kam ihm auch schon der
Gedanke, dass in dem Rätsel der Mensch gemeint sein könnte, aber er kam nur soweit,
dass der Mensch morgens mittags und abends auf seinen zwei Beinen steht. Aber ein
Rätsel, das keine Antwort
hat, ist kein Rätsel. Also überlegte er noch einmal, ob nicht der Mensch, also er
selbst, im Rätsel gemeint sein könnte. Und ja, wenn man den Morgen als die Kindheit
eines Menschen, den Mittag
als die Zeit des Erwachsenseins und den Abend als die Zeit des Alters betrachtete,
passte das. Den zweiten Erklärungsansatz sieht Edwards also darin, dass Ödipus versuchte,
seine Beobachtungen
mit einem metaphorischen Ansatz zu interpretieren ([16], S. 2–4).
Einige Kommentare sprechen Ödipus einen scharfen Verstand („powerful intellect“) zu ([16], S. 4), wie es sich auch in einer
möglichen Interpretation des Namens ausdrücken würde (s. o.: Der Name). Vellacott
misst dem Rätsel jedoch keinen sehr hohen Schwierigkeitsgrad bei ([16], S. 5 zitiert [9]). Er meint auch, dass Ödipus es müde wurde, wegen seines Scharfsinns gerühmt zu
werden, er also
vielleicht sogar des Lobes etwas überdrüssig wurde ([9], S: 137).
Warum? Weil es gerade ihm nicht schwerfiel, das Rätsel zu lösen?
Das Rätsel handelt ja von Füßen, konkret und in übertragener Form, wenn man den Stab
des Alten als dritten Fuß bezeichnen möchte. Und Ödipus wird uns genau mit einem Namen
vorgestellt, der
auf den Zustand seiner Füße verweist: „Ödipus – Schwellfuß“. Vielleicht konnte er
es am besten nachvollziehen, wenn ein Kleinkind alle Viere braucht, um sich fortzubewegen,
nachdem ihm seine
beiden Füße kurz nach der Geburt durchbohrt und zusammengebunden worden waren. Wahrscheinlich
hatte er starke Schmerzen und Einschränkungen, auch nachdem er von den Fesseln befreit
war und im
Laufe der Rekonvaleszenz seine Füße sukzessive mehr und mehr zu gebrauchen lernte.
Vermutlich hatte er Schwierigkeiten mit dem Erlernen des aufrechten Ganges und nutzte
möglicherweise den
Vierfüßlergang länger als Kinder in seinem Alter ohne Behinderung. Er war also aufgrund
seines Leidens quasi ein „Experte“, wenn auch mit schmerzhaften Erfahrungen darin,
was die Notwendigkeit
und den Einsatz der Füße zur Fortbewegung angeht, vor allem in der Kindheit. Über
eine Selbstreflexion könnte es dem „Fußkundigen“ ([13] s. o.) also gelungen sein, analog zum „Erkenne dich
[2]“ und dessen Lösung: „Dass du ein Mensch bist“ ([8], S. 83), das Rätsel der Sphinx zu lösen.
Offensichtlich heilten seine Verletzungen aber aus, nachdem von keiner Behinderung
im Laufe seines Lebens mehr berichtet wird. Selbst Iokaste scheinen keine Veränderungen
an den Füßen ihres
Gemahls über die Jahre ihres Zusammenlebens aufgefallen zu sein. Auch die Darstellungen
des Ödipus, die ihn vor der Sphinx sitzend oder stehend zeigen ([2], S. 79–86; [13], S. 49–52), lassen keine verdächtigen Veränderungen der Füße erkennen, die auf eine
Folge der
Verletzungen hinweisen würden, die er als Kind erlitten hatte.
Auch eine Klumpfuß-Deformität ist bei Ödipus nicht zu erkennen; sie ist in der Antike
gut beschrieben und auf verschiedenen Darstellungen von Betroffenen gut sichtbar ([19], S. 224–226). Dennoch scheinen Fußleiden in der Familie gehäuft aufgetreten zu sein.
Sein Großvater Labdakos und sein Vater Laios waren
offensichtlich durch ein linkisches bzw. hinkendes Gangbild belastet gewesen [20]
[21]. Labdakos’ Vater Polydoros (auch der „Schrifttafelmann“ „Pinakos“ genannt) gilt als Nachfolger des Kadmos bei der Überbringung der Schrift an die
Menschen ([8], S. 76). Labdakos wurde zu Kadmos’ Nachfolger, versinnbildlicht durch die Reihenfolge
der Anfangsbuchstaben ihrer Namen ([8], S. 76). λ (Lambda = gr. Labda) folgt im Alphabet auf κ – Kappa ([22], S. 21). Die
Form des Buchstaben λ ist asymmetrisch zuungunsten des linken Schenkels, der kürzer
ist als der rechte. Labdakos ist nach dem „links-hinkenden Zeichen“ als „Hinkender“ benannt
([23], S. 427). Sein Sohn Laios ist der „Linkische“, was sich aus dem Wort λαιός, welches „links“ bedeutet ([6], S. 463), herleiten lässt. Ödipus’ Fußleiden ist aber nicht hereditär weitergegeben,
wie es wohl bei seinen Vorvätern gewesen sei ([21], S. 67, 69), sondern es ist ihm sein Schwellfuß vielmehr durch den Einfluss Dritter
zugefügt worden ([3], S. 35). Deshalb kann man zwar auch bei Ödipus eine genealogische Weiterleitung
des Labdakidenfluches in Form eines Fußleidens
interpretieren, aber man findet bei ihm keine angeborene Fußdeformität[3]. Die Erfahrung mit krankhaften Füßen hatte aber sozusagen eine Tradition in der
Familie,
sodass die Lösbarkeit des Rätsels durch Ödipus damit in Verbindung gebracht werden
kann.
Es erfolgte aber offensichtlich eine Restitutio ad Integrum der Füße nach den Verletzungen, was die Funktion angeht; Narben müssen jedoch geblieben
sein, wie uns die Erkennungsszene in
Sophokles’ „König Ödipus“ annehmen lässt.
Meist ist ein Stock oder Stab auf den Abbildungen des Ödipus zu erkennen, den er in
der Hand hält. Der Gebrauch des Stabes war ihm also durchaus vertraut, sei es als
Wanderstab oder als
Waffe. Immerhin erschlug er seinen Vater Laios mit einem Stock beim Streit um das
Wegerecht, wie er selbst berichtete, und gleich noch dessen Begleiter dazu ([2], S. 41), bis auf einen, der entkam ([10], S. 188).
Uns begegnet in der Geschichte des Ödipus und vor allem hier bei der Lösung des Rätsels
der Sphinx eines der ältesten medizinischen Hilfsmittel, nämlich der Gehstock. Seine
Wirksamkeit
bestätigte sich offenbar schon in frühen Zeiten der Menschheit, sodass er in der Mythologie
des alten Griechenland die Aufmerksamkeit der Dichter auf sich zog. Er wird zum Attribut
des alten
Menschen, wie es im „Chor Argivischer Greise“ im „Agamemnon“ von Aischylos überliefert wird ([18], S. 7). Der wissenschaftlich
geführte Nachweis für seine Wirksamkeit konnte in jüngerer Zeit durch biomechanische
Untersuchungen erbracht werden. Man kann von einer Entlastung des Hüftgelenks von
etwa 20% [24] bis 25% [25] des Körpergewichtes ausgehen, wenn der Gehstock auf der Gegenseite
eingesetzt wird. Ödipus kannte die Wirksamkeit dieses Hilfsmittels offensichtlich
recht gut und wusste es auch als wirksame Waffe einzusetzen. Vielleicht war seine
Kenntnis um den Gebrauch des
Gehstocks ein weiteres, wenn auch kleines Mosaikstück, das ihm half, das Rätsel der
Sphinx zu lösen.
Es ist beachtlich, dass bei „Ödipus“ ein Rätsel, das sich mit der Anzahl und Funktion
der Füße befasst, mit einem Protagonisten zusammentrifft, dessen Name auf seine Füße
verweist [11]. Es gäbe daneben nämlich auch eine Auswahl an Rätseln, die ähnlich aufgebaut sind
wie das der Sphinx und die sich ebenfalls auf die
Anzahl der Füße beziehen. In diesen Fällen geht es aber eher um die einfache Summe
der Füße mehrerer beteiligter Wesen. Diese Rätsel fragen z. B. nach einem trächtigen
Tier, einer schwangeren
Frau oder Reiter und Pferd oder Verbindungen davon, die z. B. zusammen über eine Brücke
gehen ([17], S. 174). Das Rätsel der Sphinx
bezieht sich aber eindeutig auf die Füße eines Geschöpfes und deren Funktion.
Eigentlich wäre die Verstümmelung der Füße des Ödipus ja überflüssig gewesen, sagt
Edmunds, wenn es nur darum gegangen wäre, das Neugeborene zu töten; die Aussetzung
im Gebirge allein hätte
genügt, dass es gestorben wäre ([11], S. 52).
Aus dieser Sicht bilden die Misshandlungen, die Ödipus erlitt, zusammen mit dem hier
eingesetzten Rätsel der Sphinx eine inhaltliche Klammer in der Tragödie. Offensichtlich
ermöglichte,
zumindest erleichterte ihm sein Schicksal das Rätsel zu lösen.
Und die Lösung des Rätsels durch den Protagonisten ist in der Geschichte die Voraussetzung
dafür, dass die Heirat mit der Mutter zustande kommt. Er bekommt sie zur Gattin, zusammen
mit
Thebens Thron, weil und nachdem er die Stadt von der Sphinx befreien konnte. Damit
erfüllte sich der 2. Teil seines Orakels, dass er seine Mutter zur Gattin nehmen würde.
Die Schuld des Ödipus
Die Frage nach der Schuld des Ödipus ergibt sich aus seinem Schicksal. Sie ist eine
der zentralen Fragen bei der Interpretation des Stückes. Neuere Deutungen reichen
bis in die letzten 150
Jahre zurück ([2], S. 73). Und das Werk ist „unerschöpflich deutbar“ sagt Schadewaldt in seinem Nachwort zum „König Ödipus“,
schließt aber einige Deutungsversuche aus heutiger Sicht aus, z. B. den, dass es sich
um ein „fatalistisches Schicksalsdrama“ handele ([2], S. 73 f.). Er spricht von einem Enthüllungsdrama über ein Verbrechen, bei dem der
Protagonist Fahnder, Richter und letzten Endes auch der gesuchte Täter ist ([2], S. 74). Es geht vor allem um die: „Aufdeckung der Wahrheit“, „Reinigung der Welt“, „Rettung des bedrohten Göttlichen“ sowie der
Darstellung der „Gebrechlichkeit von Menschengrößen und Menschenglück“ ([2], S. 74 f.). „Als die Tragödie von der
Gebrechlichkeit von Größe und Glück“, so sagt Schadewaldt, steht der sophokleische König Ödipus „unter dem Gebot des Apollon
[4]: γνῶθι σεαυτόν“ (gnothi
seauton), „d. h.: Erkenne Dich … als Menschen“ ([2], S. 76).
Damit sind wir wieder bei Ödipus als Individuum angelangt und der Frage nach seiner
Verantwortlichkeit für den Vatermord und dafür, dass er seine Mutter zur Frau genommen
hat.
Der Weg zur Wahrheit über sich selbst ist aber auch der Weg zu seiner eigenen Vernichtung
([2], S. 92). Den Weg geht er rücksichtslos
gegenüber anderen und vor allem gegen sich selbst. Der Weg ist schmerzlich für ihn.
Er duckt sich aber nicht weg, im Gegenteil, er fordert alle an der Aufklärung Beteiligten,
sogar unter
Androhung von Strafen ([3], S. 53) und Gewalt ([26], S. 225), auf, die Wahrheit ans
Licht zu bringen. Ein Vorgang, bei dem man fast den Eindruck bekommt, er quäle sich
selbst dabei.
Die seelische Selbstqual gipfelt in der Selbstverstümmelung. Ödipus blendet sich und
„bettelt“ um die Verbannung ([26],
S. 219).
Er ist sich am Ende des Stückes seiner Schuld wohl bewusst. Ist er aber wegen seines
Schicksals auch selbst voll verantwortlich dafür, was er tat, oder sind es die Götter
bzw. das Schicksal,
die ihm seinen Weg vorgezeichnet haben?
Vellacot [9] macht in seinen Ausführungen über die Schuld des Ödipus („The Guilt of Oedipus“) auf ein Detail in der Geschichte
aufmerksam, welches Sophokles in seinem „König Ödipus“ im Vergleich zu anderen Versionen
des Stückes zusätzlich eingefügt habe. Es handelt sich um die Szene, als bei Ödipus
Zweifel an seiner
Herkunft durch die Bemerkung eines Zechkumpans geschürt wurden ([9], S. 139). Danach suchte Ödipus das Orakel in Delphi auf, wo er
verkündet bekam, dass er seine Mutter heiraten und seinen Vater töten würde. Der Zweifel
daran, dass Polybos und Merope seine richtigen Eltern waren, verstärkte die Gefahr
zusätzlich, die sich
aus dem Orakelspruch ergab. Ab jetzt wusste er, dass er irgendwo in Griechenland seinem
richtigen Vater bzw. seiner leiblichen Mutter begegnen würde ([9], S. 140).
Ödipus hätte den logischen Schluss daraus ziehen müssen, es zu vermeiden, einen älteren
Mann zu töten oder eine ältere Frau zu ehelichen ([9], S. 140). Vellacot folgert aus seiner Analyse des Stückes und des Protagonisten,
dass Sophokles den Ödipus eher so darstellte, dass der sich seiner Schuld bewusst
war
[9].
In dem Moment, als Ödipus den Mann und seine Begleiter am Dreiweg getötet hatte und
er vielleicht auch eine Ähnlichkeit des Toten mit sich selbst erkannt hatte, musste
er sich dessen bewusst
gewesen sein, dass es sein Vater war, den er getötet hatte ([9], S. 143). Immerhin wissen wir von Iokaste, dass er seinem Vater ähnlich
sah: „Im Aussehen stand er deinem nicht sehr fern“ ([2], S. 39). Und in dem Moment, als er sich freiwillig meldete, die Sphinx
aufzusuchen, musste er damit rechnen, dass, wenn er ihr Rätsel löste, er seine Mutter
als Preis zur Gemahlin bekommen und ehelichen würde ([9], S. 143).
Wenn man den Interpretationen Vallacots [9] folgt und sie weiterentwickelt, erscheint Ödipus als eine Person mit z. T. ungewöhnlichen,
brutalen, ja kriminellen Charakterzügen. Vielleicht hatten ihn der Zweifel an seiner
Herkunft zusammen mit dem Orakelspruch zu stark verwirrt und belastet. Möglicherweise
kamen aber Gedanken
bei ihm auf, welche ihn an seine Verstümmelung der Füße und der Leiden daraus erinnerten.
Und wenn es wahr wäre, dass Polybos und Merope nicht seine leiblichen Eltern waren,
wer war es dann?
Warum hatte er nichts über sie erfahren? War er ein verstoßenes Kind, das nicht erwünscht
war? Ist er überhaupt der Sohn eines Königs?
Könnte man in Ödipus also einen Menschen sehen, der unter einer starken psychischen
Belastung stand? Und könnte sich bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
eingestellt haben,
die, wie wir heute wissen, als Folge einer Misshandlung in der Kindheit entstehen
kann [27]
[28]? Je früher eine Misshandlung erfolgt, desto schwerer scheinen sich Folgeerkrankungen
ausprägen zu können [27].
Bei Ödipus erfolgte die Misshandlung durch nahestehende Verwandte, nämlich seinen
Vater Laios und seine Mutter Iokaste. Misshandlungen erfolgen häufiger durch Familienangehörige
als durch
Fremde, sodass sich die Betroffenen von ihren Betreuern als „betrogen und hintergangen“ fühlen und ihr ganzes Leben lang unter einem starken psychischen Druck stehen können
[27]
[29]. Adams et al. konnten in einer Studie mit 16–24-jährigen Erwachsenen (im
Durchschnitt 19,68 Jahre) einen deutlichen Einfluss auf die Entwicklung einzig einer
PTBS zeigen, wenn die physische Misshandlung in der frühen Kindheit, also im Zeitraum
zwischen Geburt und
dem Alter von 6 Jahren, erfolgte [27].
Ödipus war mit 18 Jahren [9] just in diesem Alter, als er in Theben auftrat und die Stadt von der Sphinx befreite,
nachdem er Laios
erschlagen hatte.
Vallacot sieht Ödipus bei der Tötung des Laios als einen Mann, der höchst unkontrolliert
(„his blood is boiling“ ([9], S. 140)
reagiert, weil er hätte wissen müssen, dass er keinen älteren Mann töten dürfe. Ödipus
sagt selbst, dass er in Zorn geraten war, als er den Wagenlenker der Truppe schlug.
Und nachdem Laios ihn
wiederum mit dem „Doppelstachel“ auf den Kopf geschlagen hatte, habe er erst Laios und dann alle anderen Begleiter
erschlagen, ([3], S. 38 f.). Schneidewin sieht das „aus poetischer Rücksicht geboten und … nach alter Heroenart“ als „natürlich“ an, dass die Mitstreiter des Laios von Ödipus
erschlagen wurden ([10], S. 199). Allerdings könnte man in der Reaktion des Ödipus auch ein Verhalten sehen,
wo er die Kontrolle über
sich und die Situation verloren hatte, zumal einer der Weggefährten des Laios entkommen
konnte, ohne dass Ödipus dies bemerkte.
Folgt man den Ergebnissen der Studie von Adams et al. [27], liegt der Schluss durchaus nahe, dass Ödipus die Voraussetzungen dafür
mitbrachte, als junger Erwachsener an einer PTBS zu leiden, nachdem er in seiner frühen
Kindheit eine schwere Misshandlung durchgemacht hatte und im weiteren Verlauf seines
Lebens damit
konfrontiert war. Er beging seine Taten also womöglich im Rahmen einer starken psychischen
Belastung, deren Verursachung bei den Personen zu suchen ist, denen er schadete, seinem
Vater und
seiner Mutter. In der Kindheit traumatisierte Jugendliche können gegenüber ihren Eltern
durchaus aggressiv auftreten, wenn sie von ihnen misshandelt wurden [28]
[30].
Maercker und Augsburger berichten, dass im Rahmen einer PTBS und erhöhter Aggressionsbereitschaft
Opfer zu Tätern werden können. Und wenn die Traumatisierung in der Kindheit erfolgte,
die
Opfer auch zu Gewalttätern werden können [31]. Die Autoren sprechen dann von einem „Zyklus der Gewalt“ ([31], S. 24).
Eine Misshandlung in der Kindheit gehört immerhin zu den 4 „pathogensten Traumata“ ([31], S. 26), die mit einer PTBS einhergehen,
und sie kann als Typ-I-Trauma traumatischer Ereignisse eingeteilt werden, wenn das
Trauma einmalig bzw. kurzfristig war und von anderen Personen („man made“) verursacht wurde ([31], S. 16).
Der Verlauf einer PTBS ist individuell und schwer vorherzusehen, wobei es zu Spontanremissionen
kommen kann, aber auch zu „Auf- und Ab-Verläufen über mehrere Jahrzehnte“ ([31], S. 26). Selten ist eine verzögerte Form einer PTBS nach längeren symptomfreien
Zeiträumen bis zu Jahrzehnten ([31], S. 27; [31]) und die Symptome der PTBS können sich nach „kritischen
Ereignissen oder Rollenwechseln in der Biografie“ verstärken ([31], S. 27). Zu den Aufrechterhaltungsfaktoren einer PTBS gehören
posttraumatische Belastungsfaktoren wie z. B. Probleme im familiären Umfeld ([31], S. 29). Auch Schuldgefühle können eine große Rolle
dabei spielen ([31], S. 29). In der Geschichte des Ödipus finden wir einige Stellen, wo solche Faktoren
auf den Protagonisten einwirken
konnten.
Nach Schellong et al. [33] können sich Kriterien einer PTBS mit denen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung
überschneiden [33]. Bekannt ist, dass Traumatisierungen in der frühen Kindheit häufig auch zu Borderline-Störungen
führen können. Da aber keine Kausalität
zwischen beiden bestünde, sollte bei Vorliegen von Kriterien einer Borderline-Störung
von einer Komorbidität gesprochen werden [33].
Ödipus zeigt Verhaltensweisen auf, die man in den Bereich der Borderline-Störungen
verorten kann. Selbstbestrafung und Selbstverstümmelung sind diagnostische Kriterien
für das Vorliegen einer
Borderline-Störung [34]. Am Ende des Stückes bestraft er sich selbst durch Blendung, passend zu einer Gesichtsverstümmelung,
welche im
attischen Strafrecht bei Sexualverbrechen angewendet wurde ([3], S. 82). Blendung und Sterilisation sind aus mythischer Sicht
gleichwertige Strafen, da die Augen mit den Genitalien in enger Verbindung stehen
[11].
Auch der Chor im Stück des Sophokles identifizierte bei Ödipus eine starke geistige
Verwirrung [11], die, nachdem dieser sich geblendet
hatte, in den Worten Ausdruck findet: „Welcher Wahnsinn kam, o Armer, dich an? Welcher Dämon sprang mit größerem als dem
weitesten Sprung auf dein unseliges Leben?“ ([2], S. 62). Und schon als Ödipus seinen Vater getötet hatte, ergänzt Kerenyi das Bild
des „von Zorn Besessenen“ mit einem Hinweis bei
Aischylos, wonach er in den Leib des Getöteten gebissen und sein Blut ausgespuckt
hätte ([8], S. 82).
Leider sind wir nicht in der Lage, ein „strukturiertes klinisches Interview“ mit der Person „Ödipus“ zu führen, um seine Persönlichkeitsstruktur genauer zu eruieren,
um, wie es
eigentlich eingefordert wird, die Diagnose einer PTBS ([33], S. 132), bzw. einer Borderline-Störung zu sichern. Nachdem es sich aber hier
um eine protagonistische Figur handelt, deren Tun analysiert wird, kann es als gerechtfertigt
angesehen werde, dass einige klinische Diagnosen eher weit gefasst herausgearbeitet
werden, um so
dem Kern der Erzählung in einem Bühnenstück und dem des Protagonisten möglichst nahe
zu kommen.
Es spricht einiges dafür, dass in Ödipus eine Figur zu sehen ist, die, nachdem sie
in der Kindheit misshandelt wurde, im weiteren Verlauf eine psychische Störung im
Sinne einer PTBS
entwickelte. Nachdem diese „Diagnose bereits Aussagen zur Kausalität impliziert“ ([35], S. 288), hat das erlittene Trauma eine
zentrale Bedeutung auch aus rechtlicher Sicht [35]. Eine genauere forensische Beurteilung aus heutiger Sicht könnte sich also mit der
Frage befassen, ob hier eine verminderte oder gar aufgehobene Schuldfähigkeit im Sinne
der §§ 20 und 21 Strafgesetzbuch [35]
[36] vorliegen könnte. Dann wäre auch zu prüfen, ob der Fall heutzutage dem Maßregelvollzug
unterstellt werden würde. Chevalier [36] berichtet passend dazu, dass bei Patienten im Maßregelvollzug gehäuft eine kindliche
Traumatisierung gefunden werden konnte ([36], S. 114).
Schlussbetrachtung
Die Analyse des Namens, sowie der Geschichte des Ödipus, führten uns zu einer neuartigen
Deutung der Figur „Ödipus“. Sie basiert auf heutigem medizinischen Wissen sowie den
Zusammenhängen,
die sich daraus herleiten lassen. Ob die vorliegende eine bessere ist als vorangegangene
Deutungen, mag der geneigte Leser entscheiden. Eine neue Lesart des Mythos vorlegen
zu können,
bestätigt seine Zeitlosigkeit aufs Neue.
Es erfolgte eine epikritische Betrachtung des Ödipus im medizinischen Sinne mit einer
stärkeren Bewertung der Misshandlungen in seiner Kindheit und den möglichen Folgen
daraus, als das bisher
geschehen ist.
Methodisch bietet es sich also weiter an, die Leiden des Ödipus in Diagnosen unter
Verwendung der ICD-Klassifikation zu objektivieren [37]. Einige der Diagnosen sind möglicherweise nicht ganz wasserfest. Aber andere treffen
mit Sicherheit zu, z. B. die Blindheit (ICD: H54.0) nach der Selbstverstümmelung
(ICD: X84.9) durch Blendung mit einem Fremdkörper (ICD S05.5B) oder auch die Perforation
beider Füße (ICD: S99.7B) als Ausdruck einer schweren Kindesmisshandlung (ICD: T74.1),
bei der die Füße
mit Fremdkörpern durchbohrt wurden (ICD: M79.57). Die Suche nach der Identifikation
passender Diagnosen führte uns auf die Spur, dass eine PTBS (ICD: F43.1) sowie eine
Borderline-Persönlichkeitsstörung (ICD: F60.31) vorliegen könnten, sodass uns die
Schwere der Vergehen des Ödipus heute in einem anderen Licht erscheinen mag, als wir
es bisher gewohnt waren.
Die Taten des Ödipus werden in diesem Bild durch seine Person gerechtfertigt und nicht
mehr nur durch den Einfluss der Götter bzw. des Schicksals (nach: [38], S. 414).
Eugene O’Neill, der amerikanische Dramatiker und Literaturnobelpreisträger, fand in
der griechischen Mythologie und Tragödiendichtung Stoff für seine Dramentrilogie „Trauer muss Elektra
tragen“, die in der Zeit des Sezessionskrieges spielt. Der Schicksalsbegriff bekommt bei
O’Neill eine neue Deutung. Köhler [39]
führt zu Orin, einem der Protagonisten des Stückes, aus: „Die antiken Furien sind internalisiert, als ihre modernen Entsprechungen erscheinen
die Neurosen.“ ([39], S. 81). Überhaupt wird eine „unmittelbare Beeinflussung der Werke [Anm.: O’Neills;] durch die Psychoanalyse“ ([39], S. 28) diskutiert, was O’Neill jedoch beharrlich zurückwies ([39], S. 28).
Gleichzeitig aber hätte er es durchaus gerechtfertigt, dass Dramen entgegen dem „theoretisch vorformulierten Autorenstandpunkt“ gedeutet werden ([39], S. 30).
Strindberg, Ibsen und Nietzsche zählte O’Neill selbst zu den literarischen und philosophischen
Einflüssen, die ihn geprägt haben ([39],
S. 29). Er blickte also von einem modernen Standpunkt aus auf einen antiken Stoff
in einem Stück, welches 1931 in New York uraufgeführt wurde.
O’Neill setzte sich in seinem Werk kritisch mit der „göttlichen Daseinsmacht“ auseinander und er versuchte „den Menschen durch sich selbst zu rechtfertigen“ ([38], S. 414). Er versuchte also, griechische Mythologie und die Tragik, die ihr innewohnt,
mit moderner Weltanschauung und aktuellem Wissen
zu erweitern. Auch bei der hier vorgelegten Interpretation des „Ödipus“ wurden moderne
Erkenntnisse herangezogen. Nur tritt jetzt an die Stelle der Götter und schicksalhafter
Entwicklungen
bzw. der pervertierten Selbstverwirklichungsstrategien der Charaktere [39] und einer eher psychoanalytischen Sichtweise [11] die Logik pathologischer Zusammenhänge, wie sie uns die aktuelle medizinische Forschung
liefert, wenn es sich um eine in der Kindheit
traumatisierte Person handelt[5].
Allerdings kann man das Schicksal auch nicht ganz ausklammern, denn schicksalhaft
war für Ödipus, dass er als Neugeborener von seinen Eltern misshandelt wurde. Die
Folgen seines Schicksals
waren für den Betroffenen trotzdem desaströs, aber mit heutiger Sicht auf Epikrisen
von Misshandlungsopfern nicht unbedingt ungewöhnlich bzw. auszuschließen.
Die hier dargestellte Betrachtung des Heroen aus der Antike entfernt sich ein Stück
weit vom „König Ödipus“, wie er uns von Sophokles vorgestellt wurde ([2]
[5]
[26]). Die berühmte und anerkannte Tragödie nutzt
klassische Sinnelemente wie z. B. die Hamartia (ἁμαρτία – Irrtum, Verfehlung ([6], S. 39; [26]), welche in dieser Untersuchung in den Hintergrund treten, insofern sie auch keine
philologische Interpretation der Tragödie des Sophokles sein kann. Dennoch nimmt das
Bühnenstück einen zentralen Platz bei der Beschreibung der mythischen Gestalt des
„Ödipus“ ein, zumal es als Enthüllungsdrama wichtige Hinweise zum Lebensverlauf des
Ödipus sowie dem Umgang
mit seinem Umfeld liefert.
Der Mythos und die Geschichte des Ödipus besitzen also eine weitere, bisher unvorhergesehene
„Lebenswirklichkeit“, welche die Wirkung des frühgriechischen Mythos bis in die heutige
Zeit bestätigt ([7], S. 5), weil sich offensichtlich damals beschriebene Verhaltensmuster mit heutigen
wissenschaftlichen Mitteln
rückwirkend erklären lassen.