CC BY-NC-ND 4.0 · Gesundheitswesen 2022; 84(04): e26-e41
DOI: 10.1055/a-1807-0853
Konsensstatement

DNVF Memorandum Gesundheitskompetenz (Teil II) – Operationalisierung und Messung von Gesundheitskompetenz aus Sicht der Versorgungsforschung

DNVF Memorandum Health Literacy (Part 2) – Operationalisation and Measuring of Health Literacy from a Health Services Research Perspective
Stephanie Stock
1   Institut für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie, Universitätsklinikum Köln, Cologne, Germany
,
Anna Isselhard
1   Institut für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie, Universitätsklinikum Köln, Cologne, Germany
,
Saskia Jünger
2   Department of Community Health, Hochschule für Gesundheit, Bochum, Germany
,
Stefan Peters
3   Deutscher Verband für Gesundheitssport und Sporttherapie e. V., Hürth Efferen, Germany
,
Gundolf Schneider
4   Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Standort Berlin, Berlin, Germany
,
Frederik Haarig
5   Zentrum für evidenzbasierte Gesundheitsversorgung (ZEGV), Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden, Dresden, Germany
,
Sarah Halbach
6   Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA), Köln, Germany
7   Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Forschungsstelle für Gesundheitskommunikation und Versorgungsforschung (CHSR), Universitätsklinikum Bonn, Bonn
,
Orkan Okan
8   Fakutät für Sport- und Gesundheitswissenschaften, Technische Universität München, München, Germany
,
Florian Fischer
9   Institut für Gerontologische Versorgungs- und Pflegeforschung, Hochschule Ravensburg-Weingarten, Weingarten, Germany
,
Torsten Michael Bollweg
10   Fakultät für Erziehungswissenschaft, AG 2 Sozialisation, Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK), Zentrum für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter (ZPI), Universität Bielefeld, Bielefeld, Germany
,
Ullrich Bauer
10   Fakultät für Erziehungswissenschaft, AG 2 Sozialisation, Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK), Zentrum für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter (ZPI), Universität Bielefeld, Bielefeld, Germany
,
Doris Schaeffer
11   Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung, Universität Bielefeld, Bielefeld, Germany
,
Dominique Vogt
12   Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld, Bielefeld
,
Eva-Maria Berens
12   Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld, Bielefeld
,
Nicole Ernstmann
7   Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Forschungsstelle für Gesundheitskommunikation und Versorgungsforschung (CHSR), Universitätsklinikum Bonn, Bonn
,
Eva Maria Bitzer
13   Public Health & Health Education, Pädagogische Hochschule Freiburg, Freiburg, Germany
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Das vorliegende „DNVF Memorandum Gesundheitskompetenz (Teil 2) – Operationalisierung und Messung von Gesundheitskompetenz aus Sicht der Versorgungsforschung“ des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung e.V. (DNVF) stellt die Fortführung des Memorandums „DNVF Memorandum Gesundheitskompetenz (Teil 1) – Hintergrund, Gegenstand und Fragestellungen in der Versorgungsforschung“ dar. Neben den allgemeinen Anforderungen an die Messung der Gesundheitskompetenz, beschäftigt sich dieses Memorandum auch mit den speziellen Anforderungen, wie die Abgrenzung zu verwandten Konstrukten, den Unterschieden zwischen performanzbasierten und Selbsteinschätzungsverfahren, den Unterschieden zwischen generischen und spezifischen Instrumenten, dem Einsatz von Screeninginstrumenten sowie der Messung der Gesundheitskompetenz bei speziellen Personengruppen. Weiterhin werden Besonderheiten bei der Messung der digitalen Gesundheitskompetenz, Potenziale qualitativer und partizipativer Forschungszugänge sowie forschungsethische Gesichtspunkte bei der Messung der Gesundheitskompetenz erarbeitet. Ein besonderer Wert wird auf den Praxisbezug gelegt, der am Ende der jeweiligen Abschnitte mit einem Fazit für die Versorgungsforschung aufgegriffen wird. Abschließend wird einen Blick auf Herausforderungen und Forschungsdesiderate im Zusammenhang mit der Messung von Gesundheitskompetenz im Rahmen der Versorgungsforschung geworfen.


#

Abstract

The “DNVF Memorandum Health Literacy (Part 2): Operationalization and Measurement of Health Literacy from the Perspective of Health Services Research” of the German Network for Health Services Research represents the continuation of the memorandum “DNVF Memorandum Health Literacy (Part 1): Background, Subject and Issues in Health Services Research”. In addition to the general requirements for the measurement of health literacy, this memorandum also deals with the specific requirements, such as the differentiation of health literacy from related constructs, the differences between performance-based and self-assessment methods, the differences between generic and specific instruments, the use of screening instruments, and the measurement of health literacy in special populations. Furthermore, special considerations about the measurement of digital health literacy, potentials of qualitative and participatory research approaches as well as research ethics in the measurement of health literacy will be elaborated on. A special emphasis is placed on practical relevance for health services researchers. Finally, the authors will give an outlook on challenges and research desiderata in connection with the measurement of health literacy in the context of health services research.


#

Das vorliegende „DNVF Memorandum Gesundheitskompetenz (Teil II) – Operationalisierung und Messung von Gesundheitskompetenz aus Sicht der Versorgungsforschung“ des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung e.V. (DNVF) stellt die Fortführung des Memorandums „DNVF Memorandum Gesundheitskompetenz (Teil 1) – Hintergrund, Gegenstand und Fragestellungen in der Versorgungsforschung“ dar. Es richtet sich an Wissenschaftler:innen im Bereich der Versorgungsforschung, an wissenschaftliche Fachgesellschaften, an Forschungs- und Gesundheitsministerien, Stiftungen und Forschungsförderer sowie an interessierte Akteure aus der Versorgungspraxis. Aufbauend auf Teil I gibt das vorliegende Memorandum Teil II einen Überblick zum Stand der Forschung und zu Herausforderungen und Besonderheiten bei der Messung von Gesundheitskompetenz im Kontext der Versorgungsforschung auf individueller Ebene. Die Messung der organisationalen Ebene der Gesundheitskompetenz wird in diesem Memorandum nur am Rande adressiert.

Das Memorandum ist in der Arbeitsgruppe Gesundheitskompetenz des DNVF entstanden. Mitglieder der Arbeitsgruppe haben eine Steuerungsgruppe gebildet, die mit der Unterstützung externer Expert:innen sowie in Kooperation mit dem Deutschen Netzwerk Gesundheitskompetenz e.V. (DNGK) einen Entwurf des Memorandums erarbeitet haben. Dieses wurde im nächsten Schritt unter den Mitgliedern des DNVF konsentiert. Der Prozess umfasste die Abstimmung mit dem DNVF-Vorstand sowie den Mitgliedern des DNVF. Die einzelnen Kommentierungen und Überarbeitungsschritte sind in einer Tabelle für alle Beteiligten transparent nachvollziehbar. Die mitzeichnenden Organisationen, Fachgesellschaften und weitere Mitglieder des DNVF sind am Ende des Dokuments aufgeführt.

Das konsentierte Memorandum gliedert sich in acht Abschnitte. Nach einer Einführung zum Thema werden im zweiten Abschnitt die allgemeinen Herausforderungen bei der Messung von Gesundheitskompetenz aus Sicht der Versorgungsforschung dargelegt. Im Abschnitt 3 werden daraufhin spezifische Anforderungen, wie die Abgrenzung zu verwandten Konstrukten, die Unterschiede zwischen performanzbasierten und Selbsteinschätzungsverfahren, die Unterschiede zwischen generischen und spezifischen Instrumenten sowie der Einsatz von Screeninginstrumenten diskutiert. Abschnitt 4 nimmt besondere Anforderungen unter Berücksichtigung ausgewählter Personengruppen in den Fokus; Abschnitt 5 beleuchtet Besonderheiten der Operationalisierung, Erhebung und Messung von Digitaler Gesundheitskompetenz. In Abschnitt 6 werden Potenziale qualitativer und partizipativer Forschungszugänge im Sinne eines methodologischen Bottom-Up-Ansatzes zur Untersuchung der Gesundheitskompetenz beleuchtet. Der 7. Abschnitt skizziert forschungsethische Gesichtspunkte bei der Messung der Gesundheitskompetenz. Die Autor:innen legen besonderen Wert auf den Praxisbezug, der am Ende der jeweiligen Abschnitte mit einem Fazit für die Versorgungsforschung aufgegriffen wird. Der Abschnitt 8 wirft einen Blick auf Herausforderungen und Forschungsdesiderate im Zusammenhang mit der Messung von Gesundheitskompetenz im Rahmen der Versorgungsforschung. Im Anhang findet sich eine Liste von Kriterien zum Vorgehen bei der Planung von Studien mit einer Erhebung der Gesundheitskompetenz sowie ein Verweis auf eine kostenfrei zugängliche US-amerikanische Datenbank mit Messinstrumenten zur Gesundheitskompetenz, dem Health Literacy Tool Shed.

Einführung

Im Kontext der Versorgungsforschung spielt Gesundheitskompetenz sowohl auf individueller als auch auf systemischer Ebene eine Rolle. Sie kann als Ressource einzelner Personen oder sozialer Gruppen (z. B. Familien, Peer-Groups) betrachtet werden. Zugleich stellt Gesundheitskompetenz als Ausdruck organisationaler Rahmenbedingungen eine wichtige Kontextvariable der Versorgung dar. Fragestellungen der Versorgungsforschung befassen sich in diesem Zusammenhang beispielsweise mit individuellen oder organisationalen Einflussfaktoren auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen oder mit dem Einfluss der individuellen oder organisationalen Gesundheitskompetenz auf Prozess- und Ergebnisindikatoren der Versorgungsqualität. Zur Beantwortung dieser Forschungsfragen sind geeignete Instrumente zur Messung der Gesundheitskompetenz sowohl als Input-, Throughput-, Output- und Outcome-Variable notwendig (vergleiche Memorandum I; [1]).

Die Entwicklung von Instrumenten zur Messung von Gesundheitskompetenz ist eng mit der Entwicklung des Feldes verknüpft. Die Gesundheitskompetenzforschung entwickelte sich in den 1970er Jahren aus der Alphabetisierungsdiskussion mit dem Ziel, die gesundheitsbezogene Literalität zu untersuchen. In den 1990er Jahren nahm die Forschungsaktivität deutlich zu und spaltete sich in eine klinische und eine Public Health Ausrichtung auf [2] [3]. Damit einhergehend fand eine Diversifizierung des konzeptionellen Verständnisses von Gesundheitskompetenz statt [3]; ausgehend von grundlegenden Fähigkeiten der Informationsverarbeitung wurde das Konzept erweitert, u. a. um Aspekte der Intention, Motivation, Selbstwirksamkeit und Entscheidungsfähigkeit. Im Folgenden werden diese Entwicklungslinien entlang unterschiedlicher Settings und Perspektiven auf Gesundheitskompetenz kurz nachgezeichnet.

Klinisches Setting

Die klinische Ausrichtung der Gesundheitskompetenzforschung in den USA beeinflusste lange Zeit die weltweiten Forschungsaktivitäten. Primäres Ziel war es, Patient:innen zu identifizieren, die Schwierigkeiten haben, gesundheitsbezogene Informationen zu verstehen und zu interpretieren. Der Fokus lag deshalb auf Tests zur Beurteilung des Lese-, Text- und Zahlenverständnisses im Rahmen der Gesundheitsversorgung (funktionale Gesundheitskompetenz). Beispiele sind die in den USA entwickelten und weit verbreiteten Instrumente REALM (Rapid Estimation of Adult Literacy in Medicine) [4] [5] und TOFHLA (Test of Functional Health Literacy in Adults) [6]. Der REALM operationalisiert Gesundheitskompetenz als die Fähigkeit, gesundheitsbezogene Begriffe abzulesen und korrekt auszusprechen [4] [5]; der TOFHLA untersucht die Fähigkeit, gesundheitsbezogene Texte und numerische Informationen zu verstehen und zu interpretieren [6]. Beide Tests messen die Leistung/Performanz der Befragten, wurden in mehrere Sprachen übersetzt, dienten in den USA im klinischen Setting lange als Goldstandard und liegen der Validierung vieler später entwickelter Instrumente zugrunde.

Bei der Messung der Gesundheitskompetenz sind zwei Stränge zu unterscheiden  i) Entwicklung immer kürzerer Instrumente zur Testung des Lese- und Textverständnisses; Beispiele sind die Kurzversion des TOFHLA (S-TOFHLA; 7 Minuten Ausfüllzeit); eine Kurzform des REALM (3 Minuten Ausfüllzeit), sowie der NVS (Newest Vital Sign) [7]; sowie ii) Entwicklung von Instrumenten zur Testung von Patient:innen bezüglich ihres Verständnisses mündlicher bzw. schriftlicher medizinischer Informationen oder von Formularen, ein Beispiel dafür ist der BHLS (Brief Health Literacy Screen) [8], der in der Kurzform bestehend aus drei oder einem Item („Wie sicher fühlen Sie sich beim Ausfüllen medizinischer Formulare?“) getestet wurde. Ergänzt werden diese beiden Stränge durch wissensbasierte Messinstrumente. Darauf aufbauend wurden im Verlauf viele krankheitsspezifische Instrumente für die klinische Forschung entwickelt.


#

Public Health

Um die Jahrtausendwende wurde das Konzept der Gesundheitskompetenz von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem klinischen Kontext gelöst und unter der Prämisse der Prävention bzw. Gesundheitsförderung im Lebensalltag der Menschen verortet [9] [10]. Gesundheitskompetenz wurde in Bezug zur Lebenswelt gesetzt, als Lebenskompetenz gefasst und zu einem multidimensionalen Konstrukt erweitert. In diesem Zusammenhang sind seither multidimensionale Instrumente für die Public Health Forschung entstanden, die sich nicht nur mit der Messung der individuellen Gesundheitskompetenz in der Selbsteinschätzung der Befragten befassen, sondern auch mit der Messung der organisationalen Gesundheitskompetenz, d. h. der Responsivität (Gesundheitskompetenzfreundlichkeit) von Gesundheitssystemen bzw. Gesundheitsorganisationen. Weitere Entwicklungen fokussieren auf die Messung der Gesundheitskompetenz auf verschiedenen Ebenen (siehe funktionale, interaktive und kritische Gesundheitskompetenz nach Nutbeam [11]; Abschnitt 2, Memorandum I) sowie in verschiedenen Dimensionen (wie z. B. Fähigkeit zum Selbstmanagement, zur Interaktion mit dem Gesundheitssystem und zur Bewertung von Gesundheitsinformationen; soziale Unterstützung). Beispiele hierfür sind der Health Literacy Questionnaire (HLQ) [12] [13] oder der HLS-EU [14], die Gesundheitskompetenz in den Kontexten Erkrankung, Prävention und Gesundheitsförderung messen und in deutscher Sprache vorliegen.


#

Persönliches Attribut oder relationale Ressource

Ein weiterer Impuls für die Entwicklung von Instrumenten zur Messung von Gesundheitskompetenz resultiert aus der Diskussion, ob Gesundheitskompetenz eine individuelle Fähigkeit oder das Produkt einer dynamischen Interaktion zwischen Individuum und Umweltbedingungen sei.

Individuelle Gesundheitskompetenz versteht sich dabei als Fähigkeit, die i) es dem Individuum erlaubt, (Gesundheits-) Informationen zu verstehen, ii) über die Zeit relativ stabil ist und iii) z. B. durch Edukation, Beratung, Lebens- und Umweltbedingungen oder Case Management beeinflusst werden kann. Die derzeit verfügbaren Messinstrumente zur individuellen Gesundheitskompetenz befassen sich, vereinfacht ausgedrückt, mit der Messung von Fertigkeiten und Ressourcen des Individuums, die notwendig sind, um:

  • die für die jeweilige Situation angemessene Gesundheitsinformationen suchen, finden, bewerten und anwenden zu können,

  • sich im Kontext des Gesundheits-/Versorgungssystems zurechtfinden zu können, und

  • bei Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen auf gesundheitsförderliche Rahmenbedingungen für sich selbst und die Gesellschaft hinwirken zu können.

Ob die so gemessene Gesundheitskompetenz „ausreicht“ ist allerdings auch immer vor dem Hintergrund der Anforderungen, die die Umwelt, z. B. das Gesundheitssystem an das Individuum stellt, zu interpretieren. In einem relationalen Verständnis von Gesundheitskompetenz zeigt sie sich in einer dynamischen Interaktion zwischen dem Individuum und den Umweltbedingungen [15] [16]. Die Gesundheitskompetenz des Individuums variiert also z. B. nicht nur in Abhängigkeit von der Art und Dauer der Erkrankung, sondern auch von der Art der Interaktion bzw. Kommunikation mit den Gesundheitsprofessionen sowie mit den Anforderungen des Gesundheitssystems an das Individuum [17]. Um Messwerte individueller Gesundheitskompetenz angemessen interpretieren zu können, müssen die Anforderungen bekannt sein, genau erfasst oder konstant gehalten werden.

Abschließend sei erwähnt, dass dieses Memorandum nicht die fundierte Auseinandersetzung mit Grundlagen der Instrumentenentwicklung und -validierung ersetzt. Für die Entwicklung von Instrumenten zur Messung von Gesundheitskompetenz gelten grundsätzlich die in der Literatur genannten Kriterien, wie z. B. Objektivität, Reliabilität und Validität, auch dargestellt in den Memoranden zu Methoden für die organisationsbezogene Versorgungsforschung [18] und zur Erfassung der Lebensqualität in der Versorgungsforschung [19].


#

Implikationen für die Versorgungsforschung

Im Kontext der Versorgungsforschung gewinnt die Gesundheitskompetenzforschung zunehmend an Bedeutung, da die Förderung der Gesundheitskompetenz als ein wichtiger Faktor (i) zur Verringerung von gesundheitlicher Ungleichheit, (ii) für den Erfolg des Selbstmanagements chronischer Krankheiten, (iii) die Navigation durch das Gesundheitssystem sowie die adäquate Nutzung von Versorgungsangeboten und -leitungen und (iiii) für die patientenzentrierte Weiterentwicklung von Gesundheitsorganisationen und des Gesundheitssystems gesehen wird. Sie wird im Zusammenhang mit Strukturen, Prozessen und Ergebnissen der Kranken- und Gesundheitsversorgung unter besonderer Berücksichtigung der Patient:innenperspektive und der komplexen Kontextbedingungen der Versorgung untersucht. In diesem Kontext sollten zukünftig zur Erhebung der Gesundheitskompetenz von Populationen, zur Beurteilung der Wirksamkeit von Interventionen und der Identifikation von Bevölkerungsgruppen mit besonderen Bedarfen vermehrt mehrdimensionale und relationale Instrumente entwickelt werden. Diese sollten nicht nur abbilden, inwieweit sich Personen in der Lage fühlen, Informationen zu suchen und zu verstehen, sondern auch inwieweit sie sich mit Informationen bzw. dem Gesundheitssystem kritisch auseinandersetzen und in der Interaktion mit dem Gesundheitswesen bzw. ihrer Umwelt gesundheitskompetent agieren können.


#
#

Anforderungen bei der Entwicklung von Erhebungsinstrumenten zur Gesundheitskompetenz

In diesem Abschnitt werden sowohl die allgemeinen als auch die speziellen Anforderungen bei der Messung von Gesundheitskompetenz aus Sicht der Versorgungsforschung formuliert und für beide Komponenten ein Fazit für die Versorgungsforschung abgeleitet.

Allgemeine Anforderungen an Instrumente zur Messung der Gesundheitskompetenz

Gesundheitskompetenz ist ein multidimensionales, relationales und in Teilen vage gegen verwandte Konzepte abgrenzbares Konstrukt (siehe S.7) [20] [21] [22]. Dies hat zur Entwicklung von aktuell mehr als 150 international verfügbaren Messinstrumenten geführt. Sie unterscheiden sich u. a. in Bezug auf die Art der Administration (z. B. schriftlich, telefonisch, digital, persönliches Interview), die Länge und Bearbeitungsdauer, das Erhebungskonzept (Performanz oder Selbsteinschätzung), die Zielsetzung (u. a. Screening, Monitoring, Effektevaluation), die verfügbaren Sprachen, den Grad der Manualisierung, den Lizenzgebühren sowie dem zugrundeliegenden theoretischen Modell [23].

Gemeinsam ist allen Instrumenten, dass sie im Kern eine Antwort auf die Frage geben wollen, über welches Wissen und welche Fähigkeiten eine Person verfügen sollte, um gesundheitskompetent agieren zu können. Die Erhebungsinstrumente fallen unterschiedlich aus, u. a. weil oft nicht klar ist, zu welchem Zweck sie entwickelt wurden, ob ein theoretisches Modell zugrunde liegt, und falls ja, auf welches Modell von Gesundheitskompetenz es sich bezieht, d. h. welche Facetten der Gesundheitskompetenz adressiert werden und wie die Auswahl der zu erhebenden Inhalte erfolgte (vgl. Abschnitt 6).

Zu den allgemeinen Anforderungen an Instrumente zur Erfassung der Gesundheitskompetenz gehört demnach (i) die Benennung eines theoretischen Modells bzw. einer Definition, auf der die Entwicklung aufsetzt; (ii) die Spezifikation des Geltungsbereichs und der Zielpopulation, für die das Instrument entwickelt wurde; (iii) sowie Informationen zur psychometrischen Güte, d. h. zur Validität, Reliabilität und Objektivität des Messinstruments. Die einzelnen Items sollten definierten Dimensionen zugeordnet sein, die eine Messung des Kriteriums sowie eine Interpretation und Vergleichbarkeit der Ergebnisse ermöglichen. Darüber hinaus sind Hinweise zur Interpretierbarkeit der Befunde, zur Praktikabilität und Akzeptanz des Erhebungsverfahrens wünschenswert [24] [25] [26] [27]. Neben der Übersetzung eines Instruments in andere Sprachen verdient die kulturelle Adaptation eine besondere Berücksichtigung. Die betreffenden Personen sollten bei der Entwicklung des Instrumentes eingebunden werden (siehe Abschnitt 4). Eine Übersicht über Herausforderungen, die bei der Auswahl eines Messinstruments berücksichtigt werden sollten, findet sich in Tab. 1.


#

Spezielle Anforderungen bei der Auswahl von Instrumenten zur Erhebung der Gesundheitskompetenz

Dieser Abschnitt befasst sich mit ausgewählten Anforderungen im Zusammenhang mit der Auswahl von Erhebungsinstrumenten der Gesundheitskompetenz in der Versorgungsforschung. Er gliedert sich in die Unterabschnitte (a) Abgrenzung der Gesundheitskompetenz von verwandten Konstrukten, (b) Messung von Gesundheitskompetenz durch performanzbasierte Instrumente vs. Selbsteinschätzung, (c) Abgrenzung von generischen vs. (krankheits-)spezifischen Messinstrumenten und (d) Screening auf Schwierigkeiten, gesundheitsbezogene Informationen zu verstehen und zu interpretieren.

Um die Interpretation der Ergebnisse zu erleichtern sowie ihre Vergleichbarkeit von Messwerten zu erhöhen, haben sich folgende Fragen im Zusammenhang mit der Auswahl von Instrumenten zur Erhebung der Gesundheitskompetenz in der Versorgungsforschung als hilfreich erwiesen:

  1. Welche Facette(n) der Gesundheitskompetenz soll(en) mit der Messung adressiert werden und sind ggf. weitere Instrumente in Kombination erforderlich, um diese Facetten abdecken zu können? (im engeren Sinn: Finden, Verstehen, Bewerten, (kritisches) Anwenden von Informationen, im weiteren Sinn: Motivation und Intention, Verantwortungsübernahme, Durchsetzungsvermögen, soziale Ressourcen, vgl. Memorandum I)

  2. Geht es um allgemeine Gesundheitskompetenz oder stehen spezifische Fertigkeiten im Mittelpunkt der Messung bzw. sind der Forschungsfrage angemessen? (z. B. generisch, bezogen auf allgemeine gesundheitliche Aspekte oder spezifisch mit Bezug zu Erkrankungen/gesundheitlichen Risikofaktoren und Problemsituationen, spezifische Kompetenzen in Bezug auf Gesundheitsförderung, Prävention und Behandlung)

  3. In welchem Anwendungszusammenhang möchte man Gesundheitskompetenz messen? (z. B. Bedarfsermittlung/Screening (Input), als moderierende Variable (Throughput), als intermediäres Ergebnis von Interventionen (Output/Outcome)

  4. Welches Erhebungskonzept ist der Forschungsfrage angemessen? (Performanz vs. Selbsteinschätzung)

  5. Wie ist es in der geplanten Population um das Seh-, Hör, und Sprachvermögen, kognitive Leistungsfähigkeit sowie Sprachkenntnisse bestellt? (z. B. liegen geprüfte Übersetzungen in verschiedene Sprachen vor, gibt es sprachfreie Versionen, gibt es Versionen für Menschen mit Einschränkungen des Hör- oder Sehvermögens?)

Neben diesen Kriterien für die Auswahl von Messinstrumenten ist für die Entwicklung weiterer Instrumente zur Messung der Gesundheitskompetenz der explizite Bezug zu einem möglichst breit konsentierten theoretischen Rahmen bzw. einer Definition von Gesundheitskompetenz zu fordern. Aus dem theoretischen Rahmen können dann Dimensionen abgeleitet und einzeln gemessen werden. Wenn es möglich ist, die Ergebnisse der Erhebung zu den Dimensionen in Bezug zu setzen, erleichtert dies eine adäquate Interpretation und ggf. einen Vergleich der Messergebnisse. Beispiele für solche Instrumente sind die Health Activities Literacy Scale (HALS) [28], das Health Literacy Skills Instrument (HLSI) [29], der Fragebogen Numeracy and Understanding in Medicine (NUMI) [30] sowie HLS-EU [14] und HLQ [12].

Abgrenzung von Gesundheitskompetenz zu verwandten Konstrukten

Je nach Fragestellung gilt es in der Versorgungsforschung auch andere, verwandte Konstrukte (bzw. einzelne Facetten solcher Konstrukte) zu erheben und ggf. von Gesundheitskompetenz abzugrenzen.

Zwischen Gesundheitskompetenz und anderen Konstrukten lassen sich zwei Abgrenzungen vornehmen (i) Konstrukte, die als förderlich für Gesundheitskompetenz verstanden werden können und (ii) Konstrukte, die inhaltliche Überschneidungen zur Gesundheitskompetenz haben. Zu (ii) gehören beispielsweise Selbstwirksamkeit und -steuerung, Verhaltenskontrolle, wahrgenommene Befähigung und kommunikative Kompetenz.

Konstrukte, die als förderlich für Gesundheitskompetenz verstanden werden können

Einzelne Facetten der Gesundheitskompetenz (z. B. funktionale Gesundheitskompetenz, das Finden und Verstehen gesundheitlicher Informationen, Krankheits- und Behandlungswissen) stehen in enger Verbindung zu kognitiven Fähigkeiten. So sind das Finden und Verstehen von gesundheitsbezogenen Informationen komplexe mentale Operationen, die z. B. durch das Arbeitsgedächtnis, fluide und kristalline kognitive Prozesse und die Verarbeitungsgeschwindigkeit beeinflusst werden. In mehreren Studien ließ sich eine hohe Korrelation zwischen verschiedenen kognitiven Fähigkeiten und der funktionalen Gesundheitskompetenz nachweisen [31] [32] [33] [34], und das unabhängig vom Alter der Probanden. Je nachdem, welche kognitiven Fähigkeiten die Instrumente adressieren, sind sie unterschiedlich stark durch kognitive Einschränkungen beeinflusst [35].


#

Inhaltlich verwandte Konstrukte

Zu den bedeutsamen inhaltlich verwandten Konstrukten der Gesundheitskompetenz gehören Motivation, Intention, Volition und Willenskraft sowie die wahrgenommene Befähigung. Auf dem Weg zu gesundheitsförderlichem Verhalten sind die nächsten Schritte nach der Verarbeitung der Informationen, einen Verhaltensplan zu entwerfen und diesen zielgerichtet umzusetzen [36]. Dieser Prozess wird häufig unter „Selbststeuerung“ zusammengefasst. Er verläuft umso eher erfolgreich, je stärker die Person davon überzeugt ist, den Verhaltensplan umsetzen zu können (Selbstwirksamkeit ) [37] [38] und sich in der Lage sieht, Hindernissen bei der Umsetzung aus dem Weg zu räumen (Barrieremanagement) [39]. Mehrere Modelle der Gesundheitskompetenz nennen die Motivation zum Engagement bezogen auf die eigene Gesundheit als wichtige Komponente von Gesundheitskompetenz [11] [40] [41] [42]. Signifikante positive Korrelationen zwischen Gesundheitskompetenz und Selbstwirksamkeit wurden in verschiedenen Kontexten, zum Beispiel in der Krebsfrüherkennung [43] oder bei Diabetes mellitus Typ II [44], gefunden. Andererseits kann eine hohe Selbstwirksamkeit auch zu einer Überschätzung der eigenen Gesundheitskompetenz führen. Die Studienlage ist in dieser Hinsicht (noch) widersprüchlich.

Ein weiteres, mit der Gesundheitskompetenz verwandtes Konstrukt ist das Empowerment [45]. Es bezeichnet Prozesse, in deren Rahmen Personen (in der Ursprungsdefinition auch Organisationen bzw. „communities“) die Kontrolle über ihr Leben erlangen und autonome Entscheidungen treffen [46]. Maßnahmen, die Gesundheitskompetenz aufbauen oder erhöhen, können solche Prozesse unterstützen [47] [48]. Es ist allerdings anzunehmen, dass vorliegende Gesundheitskompetenz nicht automatisch zu Empowerment führt, wenngleich zu diesem Zusammenhang noch beträchtlicher Forschungsbedarf besteht [49]. In der Lage zu sein, dem eigenen Anliegen Gehör zu verschaffen oder aber gesundheitskompetent zu agieren, ist nicht notwendigerweise dasselbe.

So können Gesundheitskompetenz und Empowerment gleichgerichtet sein – d. h. hohe Gesundheitskompetenz geht mit ausgeprägter Fähigkeit einher, eigene Interessen zu artikulieren und ggf. durchzusetzen oder umgekehrt. Beobachtbar sind jedoch auch Situationen, in denen beide Eigenschaften in einem Missverhältnis zueinanderstehen: entweder, weil sich Menschen trotz hoher Gesundheitskompetenz nicht in der Lage sehen, autonome Entscheidungen zu treffen [50] oder weil sie zwar in der Lage sind, ihre Interessen zum Ausdruck zu bringen, ihnen es aber an Gesundheitskompetenz mangelt [51]. Ersteres könnte potenziell zu verstärkter Abhängigkeit von Patient:innen von den Gesundheitsprofessionen führen, während Letzteres ungünstige Gesundheitsentscheidungen nach sich ziehen könnte [52]. Auch die genannten Aspekte sollten im Zusammenhang mit Empowerment und der Messung von Gesundheitskompetenz mitbedacht werden (vgl. Abschnitt 7 zu forschungsethischen Aspekten).

Zumindest erwähnt werden sollen an dieser Stelle weitere Kompetenzkonstrukte mit unterschiedlich hoher Überschneidung zur Gesundheitskompetenz: Research Literacy [53] [54] [55], Scientific Literacy [56], Digital Literacy [57], aber auch Medication Literacy [58], Food Literacy [59] [60] und Insurance Literacy [61]. Auf diese Konstrukte gehen wir mit Ausnahme der Digitalen Gesundheitskompetenz (Abschnitt 5) in diesem Memorandum nicht näher ein.

Implikationen für die Versorgungsforschung

Bei Studienpopulationen oder in Versorgungssituationen, in denen Personen befragt werden, i) deren kognitive Leistungsfähigkeit möglicherweise eingeschränkt ist, ii) oder Einschränkungen des Hör-, Seh- und Sprechvermögens oder iii) unterschiedliche Sprachkenntnisse zu erwarten sind, sollte der Auswahl der Instrumente und den Bedingungen, unter denen die Erhebung der Gesundheitskompetenz stattfinden soll, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Ob und wenn ja, welche verwandten Konstrukte der Gesundheitskompetenz zusätzlich erhoben werden, sollte auf Grundlage eines für die jeweilige Versorgungsforschungsfrage entwickelten Wirkmodells abgeleitet werden. Von dem gemessenen Gesundheitskompetenzniveau sollte nicht auf den Grad der Motivation oder der wahrgenommenen Befähigung oder auf die Qualität der gesundheitsförderlichen Entscheidungen selbst geschlossen werden, da diese Funktionen einander nicht zwangsläufig kausal bedingen.


#
#
#

Messung von Gesundheitskompetenz durch performanzbasierte Instrumente vs. Selbsteinschätzung

Gesundheitskompetenz lässt sich mithilfe von Instrumenten zur Selbsteinschätzung und durch performanzbasierte Verfahren messen. Letztere haben den Anspruch auf eine objektivierbare Erfassung der Gesundheitskompetenz.

Performanzbasierte Instrumente

Performanzbasierte Tests haben ihren Ursprung in der Pädagogischen, Arbeits-, Organisationspsychologie. Performanzbasierte Tests sind weit verbreitet in der beruflichen Bildung und Berufswelt (Aus-, Fort- und Weiterbildung, auch der Gesundheitsfachberufe, Personalauswahl). Hier werden Kompetenzen verstanden als die Fähigkeit zur erfolgreichen Bewältigung komplexer Anforderungen. Sie sind daher nur anhand der tatsächlichen Performanz aufzuklären [62].

Die bereits eingangs erwähnten Tests zur funktionalen Gesundheitskompetenz wie der TOFHLA [6] oder der REALM [4] [5] sind einfache performanzbasierte Tests. Neuere performanzbasierte Tests sind multidimensional und erfordern komplexere mentale Operationen, wie z. B. der NVS [7], der Berlin Numeracy Test [63] oder der Critical Health Competence-Test (CHC Test) [64]. Letzterer misst beispielsweise Fähigkeiten im Umgang mit dem Suchen und Bewerten von Gesundheitsinformationen und weist eine Nähe zu Fragebögen auf, die sich mit Research Literacy bzw. Forschungskompetenz befassen [65].

In der Forschung zur Messung von Performanz überwiegen bislang Wissenstests. Instrumente, die die kritische oder interaktive Gesundheitskompetenz über Performanz messen, sind zurzeit nur wenige verfügbar [66]. Performanzbasierte Instrumente können einen mehr oder weniger ausgeprägten Prüfungscharakter haben und im Fall niedrig ausgeprägter Kompetenzen mit Scham und Ablehnung seitens der Befragten verbunden sein [67]. Akzeptiert werden sie von Befragten leichter in explizit edukativen Situationen, z. B. zu Beginn und am Ende einer Patient:innenschulung, einer Fortbildungseinheit oder eines (spielerischen) Wettbewerbs. Außerhalb solcher Zusammenhänge stoßen performanzbasierte Instrumente oft auf eine geringe Akzeptanz unter den Befragten [68].


#

Selbsteinschätzung

Instrumente zur Selbsteinschätzung erfassen die Beurteilung der Gesundheitskompetenz durch die befragte Person selbst (vgl. o. BHLS-1 Item). Positiv an Selbsteinschätzungsbögen ist ihre hohe Praktikabilität und in der Regel höhere Akzeptanz bei den Befragten. Zudem ermöglichen Selbsteinschätzungsinstrumente eine Identifizierung möglicher Problemfelder im Umgang mit Gesundheitsinformation, während performanzbasierte Instrumente oftmals in einem thematisch eng eingegrenzten Gebiet verortet sind. Nachteile bestehen zum einen darin, dass Befragte dazu neigen, ihre Gesundheitskompetenz zu über- oder unterschätzen [69] [70] und zum anderen darin, dass ihre Interpretation aufgrund konzeptioneller Unschärfen schwierig sein kann.

Konzeptionelle Unschärfen bestehen darin, dass eine Person eine Aufgabe als schwierig einschätzt, weil sie selbst nicht in der Lage ist, diese zu bewältigen, oder weil die Aufgabe objektiv schwierig ist. Gerich und Moosbrugger [71] haben hierzu in zwei Studienschritten untersucht, welche Aspekte sich hinter einem individuellen Score auf dem HLS-EU [14] verbergen können. So kann ein hoher Score beispielsweise Ausdruck von hohem Selbstvertrauen und aktivem Umgang mit Gesundheitsinformationen sein – oder Ausdruck eines externen Attributionsmusters, bei dem Gesundheitsentscheidungen vollständig an den Arzt delegiert werden. Umgekehrt kann ein niedriger Score Ausdruck von Unsicherheit aufgrund von Unkenntnis sein – oder Ausdruck dessen, dass sich jemand aufgrund eines hohen Kenntnisniveaus der Komplexität einer Aufgabe bewusst ist.

Teilweise ist zudem der Gegenstand, auf den sich Fragen aus Selbsteinschätzungsinstrumenten zur Gesundheitskompetenz beziehen, nicht hinreichend eindeutig formuliert. Dann besteht Unsicherheit, ob die Befragten bei der Beantwortung der Fragen auch ähnliche/gleiche Vorstellungen von der zu lösenden Aufgabe haben. Den konzeptionellen Unschärfen kann im Forschungsdesign teilweise begegnet werden, beispielsweise durch Erfassung zusätzlicher Variablen (z. B. Selbstwirksamkeit), in Bezug auf den Kontext homogene Stichproben oder genauere Instruktionen.

Verfahren der Fremdeinschätzung/Beobachtung von Gesundheitskompetenz gibt es aktuell nicht und sie mögen auf den ersten Blick auch wenig überzeugend erscheinen, wenn schon performanzbasierte Instrumente nur unter bestimmten Bedingungen für Befragte akzeptabel sind. Allerdings haben solche Verfahren in der Aus-, Weiter- und Fortbildung der Gesundheitsfachberufe, inkl. des Medizinstudiums, ihren festen Platz, wenn es um die Überprüfung praktischer, auch kommunikativer Kompetenzen geht (z. B. Objective Structured Clinical Examination OSCE) [72].

Implikationen für die Versorgungsforschung

Im Vergleich zu Selbsteinschätzungsinstrumenten haben performanzbasierte Instrumente den Anspruch objektivierbarer Ergebnisse und können z. B. im Sinne von Wissensfragen helfen, den Erfolg von Edukationsinterventionen zu prüfen. Selbsteinschätzungs- instrumente sind einfacher in der Anwendung und ermöglichen die Identifizierung von Problemfeldern, haben jedoch den Nachteil, dass die Interpretation mitunter nicht eindeutig ist.


#
#
#

Messung von Gesundheitskompetenz mittels generischer vs. spezifischer Messinstrumente

Bei der Messung von Gesundheitskompetenz können allgemeine (generische) Messinstrumente von spezifischen Messinstrumenten unterschieden werden. Letztere fokussieren auf bestimmte gesundheitliche Problemstellungen oder Settings (Prävention, Gesundheitsförderung), während erstere versuchen, möglichst allgemein erforderliche Kompetenzen zur Lösung gesundheitlicher Probleme zu erfassen.

Instrumente zur Erfassung der allgemeinen Gesundheitskompetenz

Allgemeine Instrumente zur Erfassung der Gesundheitskompetenz [73] unterscheiden sich im Hinblick auf äußeres Format, Umfang und adressierte Themenbereiche (z. B. Versorgungsgeschehen, Prävention, Gesundheitsförderung). Sie sind darauf angelegt, die für den Erhalt und/oder die Wiederherstellung von Gesundheit relevanten Kompetenzen möglichst so zu erfassen, dass sie für möglichst viele Menschen in möglichsten vielen Situationen beantwortbar sind.

Sie können eindimensional sein oder ein breites Spektrum relevanter Facetten der Gesundheitskompetenz abdecken. Ein methodisch gut entwickeltes generisches Instrument sollte folgende Vorteile aufweisen  i) Basierung auf einem klaren theoretischen Modell, ii) breite Einsetzbarkeit bei unterschiedlichen Zielgruppen und Themenbereichen, iii) Möglichkeit des Vergleichs zwischen verschiedenen Personengruppen und Themenbereichen, iv) belastbarer Nachweis psychometrischer Güte und v) Verfügbarkeit von bevölkerungs- oder themenbezogenen Vergleichsdaten.

Fragebögen wie z. B. der HLS-EU [14] oder der HLQ [12] als generische Instrumente zur Selbsteinschätzung der Gesundheitskompetenz erfüllen diese Kriterien weitgehend. Zu den allgemeine Gesundheitskompetenz messenden performanzbasierten Instrumenten, die vielen der genannten Kriterien genügen, gehören TOFHLA [6], oder CHC [64].

All diese Instrumente haben den Anspruch Gesundheitskompetenz allgemein zu erfassen, jedoch ist dies allein durch die Länge der Fragebögen nur begrenzt möglich. Instrumente mit nur einem oder wenigen Items, wie z. B. der BHLS [8] zum Screening auf geringe funktionale Gesundheitskompetenz, erfassen in jedem Fall nur einen Ausschnitt der Gesundheitskompetenz. Auch bei längeren Instrumenten kann immer noch nur ein (wenngleich größerer) Ausschnitt der Gesundheitskompetenz abgebildet werden

Instrumente zur Messung der spezifischen Gesundheitskompetenz sind inhaltlich darauf ausgerichtet, die für den erfolgreichen Umgang mit einem spezifischen Gesundheits- oder Krankheitsproblem erforderlichen Kompetenzen zu erfassen [z. B. [74]. Spezifische Instrumente zur Messung der Gesundheitskompetenz werden häufig im klinischen Kontext eingesetzt, um den Bedarf und/oder den Erfolg von Interventionen (z. B. Schulungen, Informationsmaterialien) zu untersuchen. Sie sind zudem wichtig, um das Beziehungsgefüge von Gesundheitskompetenz, Selbstwirksamkeit, Selbstmanagement und gesundheitsbezogenen Endpunkten zu analysieren [z. B. [75].

Sie können als eindimensionale Instrumente (z. B. Wissensfragen) oder als mehrdimensionale Instrumente ausgebildet und als Selbsteinschätzungsinstrumente oder als performanzbasierte Instrumente entworfen sein. Idealerweise sollten spezifische Instrumente  i) auf einem klaren theoretischen Modell basieren, ii) krankheits- oder themenbereichsspezifische Problembereiche adressieren, die in den allgemeinen Instrumenten nicht erfasst werden, iii) Kompetenzen erheben, die zum Meistern dieser spezifischen Problems erforderlich sind, iv) additiv oder substitutiv zu allgemeinen Instrumenten eingesetzt werden können und v) eine hohe Spezifität und Änderungssensitivität aufweisen, die auf die interessierende Studienpopulation bzw. den Themenbereich zugeschnitten ist.

Die meisten Instrumente zur spezifischen Gesundheitskompetenz liegen aktuell zu chronischen Erkrankungen bei Erwachsenen vor, u. a. Krebs, Diabetes mellitus, Asthma Bronchiale, HIV/Aids, kardiovaskulären Erkrankungen [66] sowie zur digitalen und kommunikativen Gesundheitskompetenz [76]. Perspektivisch für die Versorgung chronischer Erkrankungen, beispielsweise in Disease-Management-Programmen oder bei Kindern und Jugendlichen, wären Instrumente wünschenswert, die den Effekt der jeweiligen Interventionen auf die erkrankungsspezifische Gesundheitskompetenz erfassen.

Implikationen für die Versorgungsforschung

Allgemeine Instrumente zur Messung der Gesundheitskompetenz eignen sich im Kontext der Versorgungsforschung zum Vergleich des Gesundheitskompetenzniveaus zwischen Subgruppen der Bevölkerung, zur Identifizierung von Populationen mit besonderen Bedarfen und zur Erhebung der Bedeutung der Gesundheitskompetenz als Mediator bzw. Einflussfaktor bei der Untersuchung anderer Zielgrößen in einem allgemeinen Kontext. Spezifische Instrumente hingegen sind insbesondere für die Messung des Erfolgs definierter Bereiche und spezieller Interventionen wie z. B. Schulungen oder Informationsvermittlung durch z. B. Entscheidungshilfen geeignet. Grundsätzlich können spezifische Ansätze durch allgemeine Messinstrumente ergänzt werden. Neue Messansätze sollten die Kontext- und Zielgruppenspezifität beachten und die Gesundheitskompetenz auch in Bezug auf die Alltagsrelevanz – und nicht nur konkrete Versorgungssituationen – erfassen [77]. Bisher gibt es so gut wie keine Forschung zum Vergleich von generischen und krankheits- oder themenbereichsspezifischen Fragebögen im Bereich der Gesundheitskompetenz. Auch eine Einigung darüber, welcher Kompetenzen es konkret im Umgang mit (bestimmten) Erkrankungen und/oder Gesundheitsproblemen bedarf und die daher Bestandteil von Instrumenten zur Erfassung spezifischer Gesundheitskompetenz enthalten sein sollten, wäre ein Petitum der Gesundheitskompetenzforschung in der Versorgungsforschung.


#
#
#
#
#

Anforderungen an die Messung von Gesundheitskompetenz bei speziellen Personengruppen

In diesem Abschnitt werden Herausforderungen bei der Messung der Gesundheitskompetenz in den Populationen (a) Kinder- und Jugendliche, (b) Ältere und alte Menschen sowie (c) Menschen mit Migrationshintergrund vorgestellt.

Grundsätzlich gilt es in diesen (und auch anderen Gruppen mit besonderen Herausforderungen) bei der Auswahl der Erhebungsinstrumente und der Durchführung der Erhebung zur Gesundheitskompetenz noch expliziter und genauer darauf zu achten, den Entwicklungsstand, das Seh-, Hör, und Sprachvermögen, die kognitive Leistungsfähigkeit, Sprachkenntnisse und ggf. auch kulturelle Besonderheiten zu berücksichtigen. Leitend muss das Bemühen sein, verzerrende Einflüsse durch (mangelnde) sensorische Fähigkeiten, (mangelnde) Sprachkompetenz oder spezifische kulturelle Wertesysteme zu vermeiden oder zumindest transparent zu machen [77].

Kinder und Jugendliche

Bisher liegen weder verlässliche Daten zur allgemeinen noch zu erkrankungsspezifischer Gesundheitskompetenz jüngerer Bevölkerungsgruppen vor. Dieser ernüchternde Befund kann vor allem durch einen Mangel an geeigneten Erhebungsinstrumenten und repräsentativen Studien erklärt werden, der inzwischen in mehreren Literaturreviews gut dokumentiert wurde [78] [79] [80]. Zwar konnten mehr als 40 Testverfahren identifiziert werden, die bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt wurden; es zeigt sich aber, ähnlich wie bei Studien in der Allgemeinbevölkerung, dass

  • unterschiedliche Aspekte von Gesundheitskompetenz gemessen werden und daher die Ergebnisse kaum vergleichbar sind (z. B. unterschiedliche Modelle und Definitionen, mit Hinblick auf Wissen, psychische Erkrankungen, Medienkonsum, oder Gesundheit im Allgemeinen),

  • mitunter funktionale Kompetenzen (Wissen, Leseverständnis und Rechnen) erhoben werden, obwohl für den Umgang mit Gesundheitsinformationen auch interaktive und kritische Fähigkeiten zentral sind,

  • oftmals Gelegenheitsstichproben zugrunde liegen, sodass die Aussagekraft der Studien begrenzt ist,

  • auch Testverfahren zum Einsatz kommen, die ursprünglich für Erwachsene entwickelt wurden und die an die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen nicht (ausreichend) angepasst sind,

  • die meisten Instrumente eher die Gesundheitskompetenz von Jugendlichen messen, und nur sehr wenige die von Kindern im Grundschulalter,

  • vielfach die gängigen Testgütekriterien nicht beachten werden, so dass in manchen Studien die Reliabilität, Validität und Objektivität der Testverfahren keine Rolle zu spielen scheinen,

  • vor allem individuelle Kompetenzen und Eigenschaften im Fokus stehen, obwohl für den kompetenten Umgang mit Gesundheitsinformationen auch die Qualität des Informationsangebots, nutzbare Ressourcen und situative Anforderungen ausschlaggebend sind; insbesondere ist bei Kindern und Jugendlichen auch der soziale/familiäre/schulische Kontext, innerhalb dessen sie Gesundheitsverhalten entwickeln können zu berücksichtigen,

  • von „Expert:innen“ bestimmt wird, an was die Gesundheitskompetenz von jungen Menschen zu bemessen sei, obwohl wenig erforscht ist, auf welche Art und Weise Kinder und Jugendliche mit Gesundheitsinformationen umgehen und welche gesundheitlichen Themen aus der subjektiven Perspektive der Beforschten von Bedeutung sind [79].

Für die methodisch fundierte und systematische Erforschung allgemeiner und erkrankungsspezifischer Gesundheitskompetenz von Kindern und Jugendlichen ist es daher erforderlich, dass Testverfahren zum Einsatz kommen, die unter Beteiligung der betreffenden Personen für die spezifische Altersgruppe entwickelt und in verschiedenen Populationen in Abhängigkeit von individuellen und kontextbezogenen Faktoren getestet wurden [79] [80]. Bei der Entwicklung entsprechender Erhebungsverfahren sind insbesondere die Unterschiede zu beachten, die zwischen den Lebensphasen Kindheit, Jugend, Erwachsenalter und Alter bzw. hohes Alter in Bezug auf Gesundheit und Gesundheitskompetenz bestehen [81] [82] [83]. Diese Unterschiede, die das Kindes- und Jugendalter gegenüber dem Erwachsenalter charakterisieren, lassen sich anhand der Dimensionen (1) altersspezifische Krankheiten, (2) Lebenslagen, (3) Entwicklung im Lebensverlauf, (4) Dependenz und Interdependenz (5) Partizipation und Teilhabe, und (6) Digitalisierung und digitale Umgebungen grob systematisieren [84] [85] [86] [87]. Besonders in der Versorgungsforschung zu Säuglingen und Kleinkindern gilt es, die Messung der Gesundheitskompetenz der Eltern bzw. andere Erziehungsberechtigter in den Blick zu nehmen [88].

Implikationen für die Versorgungsforschung

Die Messung der allgemeinen Gesundheitskompetenz sollte sich an gesundheitsbezogenen Themen orientieren, die für die jeweiligen Altersgruppen von Bedeutung sind. Die Messung allgemeiner oder erkrankungsspezifischer Gesundheitskompetenz sollte die unterschiedlichen Voraussetzungen berücksichtigen, die Kinder und Jugendliche in das Versorgungssetting mitbringen und auch die Gesundheitskompetenz im sozialen Umfeld, insbesondere der Eltern, ggf. auch der Familie, Freunde in den Blick nehmen. Die betreffenden Personen sollten in die Entwicklung von Messinstrumenten eingebunden sein, um Bedarfe abzubilden und sicherzustellen, dass Fragen und Tests relevant sind sowie sprachlich und sinngemäß verstanden werden. Die Messung der Gesundheitskompetenz müsste auch die digitale Gesundheitskompetenz einschließen, da junge Menschen Gesundheitsinformationen längst nicht mehr nur auf analogen und persönlichen Kanälen erhalten.


#
#

Menschen im höheren und hohen Lebensalter

Auch zur Messung der Gesundheitskompetenz von Menschen im höheren und hohen Lebensalter ist die Datenlage bislang begrenzt. Sehr gut in bevölkerungsweiten Studien belegt ist die geringere funktionale Gesundheitskompetenz in höheren Altersgruppen [z. B. [89]. Auch in Selbsteinschätzungsinstrumenten berichten Menschen im höheren Alter häufiger über Schwierigkeiten, gesundheitsbezogene Informationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden. Dort ist der Effekt oft eng verknüpft mit dem Vorhandensein chronischer Erkrankungen [90]. Im Vergleich zu Menschen mittleren Alters verstellen die Befunde allerdings den Blick auf die besondere Situation älterer Menschen. Es fehlen bislang Instrumente, die diejenigen Kompetenzen adressieren, die für eine erfolgreiche Bewältigung der im Alter auftretenden gesundheitlichen Herausforderungen relevant sind. Zudem fehlen Messinstrumente, die der Ausdifferenzierung des Alters und den Unterschieden der gesundheitlichen Situation im jüngeren Alter und im hohen Alter Rechnung tragen. Bei der Erhebung von Gesundheitskompetenz im hohen Lebensalter können beispielsweise altersbedingte Funktionsverluste wie etwa Rückgang des Hör- oder Sehvermögens, eine langsamere Informationsverarbeitung und eingeschränkte Gedächtnisfunktionen Probleme verursachen. Zugleich ist zu beachten, dass dieser Abbau kompensiert werden kann, etwa durch den Rückgriff auf Lebenserfahrung oder die Beschränkung auf verbleibende Kompetenzen und vertraute Inhalte. Das kann allerdings wiederum zu Verzerrungen von Befragungsergebnissen führen [91]. Deshalb erfordert die Erhebung eine sorgfältige Berücksichtigung altersspezifischer Besonderheiten. Das betrifft die Auswahl der Erhebungsinstrumente, die Auswahl zusätzlich zu erhebender Variablen (z. B. kognitive Leistungsfähigkeit, vorbestehende Erkrankungen) und nicht zuletzt die Durchführung der Erhebung selbst. So sind persönliche Interviews [92] gegenüber telefonischen Befragungen vorzuziehen, da ältere Menschen bei telefonischen Interviews oft schlechter erreichbar sind. Online-Befragungen sind aufgrund der noch geringen Internetnutzung und Computeraffinität bei Älteren bislang wenig praktikabel.

Implikationen für die Versorgungsforschung

Eine wichtige Aufgabe besteht darin, die vorliegenden Instrumente zur Erhebung von Gesundheitskompetenz unter Beachtung von Partizipationsgesichtspunkten altersgerecht weiterzuentwickeln. Dabei sind mehr als bislang die Unterschiede der Lebens- und Gesundheitssituation im jüngeren und höheren Alter zu berücksichtigen- dies auf inhaltlicher wie auf methodischer Ebene. Ähnliches gilt für die Auswahl der Erhebungsinstrumente. Auch hier ist erforderlich, altersspezifischen Besonderheiten stärker zu entsprechen. Zudem sollte besonderen Lebensumwelten älterer Menschen bei der Ermittlung organisationaler Gesundheitskompetenz intensivere Beachtung geschenkt werden.


#
#

Menschen mit Migrationshintergrund

Auch bei Menschen mit Migrationshintergrund[1] kann die Messung und Interpretation der Gesundheitskompetenz mit Herausforderungen verbunden sein. Zwar existieren viele performanzbasierte und Selbsteinschätzungs-Instrumente in unterschiedlichen Sprachen und sind somit für Personen mit eingeschränkten Deutschkenntnissen einsetzbar. Die Wahl der Instrumentenart sowie der Befragungssprache haben jedoch Auswirkungen auf die Interpretation und praktische Anwendung der Ergebnisse. Die meisten der zurzeit bestehenden Instrumente sind in sprachlich homogenen Personengruppen entwickelt und nur wenige wissenschaftlich fundiert übersetzt und kulturell adaptiert [20].

Grundsätzlich besteht das Problem, das Erhebungsinstrumente in der Sprache des Immigrationslandes unabhängig davon, um welche Art von Instrument es sich handelt, Gefahr laufen, primär die Sprachkenntnisse in der Zweitsprache zu erfassen und weniger die Kompetenzen und Fähigkeiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen. Systematische Unterschiede im Antwortverhalten zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund können neben Sprachkenntnissen beispielsweise auf sozial erwünschten Antworten oder Unterschieden in Bezug auf die erlebte Schwierigkeit im Umgang mit Gesundheitsinformationen, z. B. durch häufiger erlebte Schwierigkeiten im Alltag, zurückzuführen sein. Aufgrund kulturell bedingter unterschiedlicher Verständnisse von Gesundheit kann darüber hinaus die Interpretation bestimmter Items unterschiedlich ausfallen oder deren Sinnhaftigkeit durch Unterschiede zwischen Gesundheitssystemen und Lebenskontexten für eine Person nicht gegeben sein.

Migrationsspezifische Kompetenzen, wie beispielsweise das Finden muttersprachlicher Ärzt:innen oder von Informationen über Gesundheit in einer für sie verständlichen Sprache werden in den meisten Erhebungsinstrumenten noch nicht berücksichtigt. In Österreich wurde daher der GMK-12 entwickelt, ein Selbsteinschätzungsinstrument, das – in Ergänzung zum HLS-EU-Q16 – solche migrationsspezifischen Kompetenzen erfasst [93] [94].

Um der Heterogenität der Personengruppe „Menschen mit Migrationshintergrund“ Rechnung zu tragen, sollten, unabhängig von der Wahl des Messinstruments von Gesundheitskompetenz, mögliche migrationsspezifische Determinanten der Gesundheitskompetenz bzw. Variablen zur Differenzierung einer Personengruppe erfasst und ausgewiesen werden. Hierzu zählen beispielsweise Herkunft, Dauer des Aufenthaltes im Aufnahmeland, Generation, Aufenthaltsstatus und Sprachkenntnisse [95]. Zudem sind Bildungsniveau und sozioökonomischer Status in gesundheitlichen Studien bei Menschen mit Migrationshintergrund von Bedeutung, denn oftmals ist es nicht der Migrationshintergrund selbst, der Unterschiede erklärt, sondern ein durchschnittlich geringeres Bildungsniveau bzw. geringerer Sozialstatus [96].

Implikationen für die Versorgungsforschung

Die Messung der Gesundheitskompetenz sollte sich an gesundheitsbezogenen Themen orientieren, die für die interessierende Studienpopulation von Bedeutung sind. Die Messung sollte unterschiedlichen sprachliche Voraussetzungen berücksichtigen und ggf. Menschen mit Migrationshintergrund in die Entwicklung von Messinstrumenten einbinden, um die Bedarfe der betreffenden Personen abzubilden und sicherzustellen, dass Fragen und Tests relevant sind sowie sprachlich und sinngemäß auch vor einem möglicherweise differierenden kulturellen Verständnis aufgefasst werden. Zudem ist darauf zu achten, dass bei Instrumenten zur Erfassung der Gesundheitskompetenz in deutscher Sprache nicht fälschlicherweise in erster Linie die Sprachkenntnisse erfasst werden. Wichtig für die Versorgungsforschung ist zudem, über die Sprache hinausgehende Aspekte der sehr heterogenen Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund zu beachten, wie beispielsweise die Schwierigkeiten beim Zugang zum sowie der Orientierung und Navigation im Gesundheitssystem.


#
#
#

Digitale Gesundheitskompetenz

Im Zusammenhang mit der digitalen Transformation im Gesundheitswesen wurde der Begriff der Digitalen Gesundheitskompetenz geprägt [97] [98]. Ähnlich wie die „analoge“ Gesundheitskompetenz ist dieses Konzept durch definitorische Heterogenität gekennzeichnet [84]. Das ursprüngliche Modell von Norman und Skinner („Lily Modell“) orientierte sich noch sehr eng an der Definition der Gesundheitskompetenz im Sinne des Findens, Verstehens, Bewertens und Anwendens von gesundheitsbezogenen Informationen, ergänzt um Computer- und Medienkompetenz [99]. Inzwischen wurde das Konzept verschiedentlich weiterentwickelt und um unterschiedliche Perspektiven oder Dimensionen erweitert [100]; so beispielsweise um die technologische Komponente in Bezug auf Gesundheitsanwendungen [101] [102] [103] [104]; die Fähigkeit, körperliche Empfindungen wahrzunehmen und für die Informationssuche in gesundheitsbezogene Suchbegriffe zu übersetzen [103]; motivationale Aspekte im Hinblick auf Gesundheit und digitale Angebote [102]; die Fähigkeit, Informationen in einem sozialen und kulturellen Kontext zu begreifen [97] [103]; sowie die Fähigkeit, eigenen Inhalt beizutragen [101].

Allen Definitionen und Konzeptualisierungen gemein ist die Verflechtung von Kompetenzen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Einstellungen, Wahrnehmungen und Emotionen an der Schnittstelle zwischen Information, Gesundheit und Technologie, die auf die Komplexität und Vielschichtigkeit der Anforderungen an Nutzer:innen digitaler Gesundheitsinformationsangebote hinweist. Zudem besteht auch die Digitale Gesundheitskompetenz aus einem Zusammenwirken von individuellen und systemischen Faktoren – einerseits spielen hierfür die Kompetenzen der Nutzer:innen eine Rolle, andererseits das Vorhalten eines digitalen Umfelds, das transparente und verlässliche Informationen sowie die Gewährleistung von Datenschutz bietet [102] [105].

Gemäß den Entwicklungen hinsichtlich der Operationalisierung Digitaler Gesundheitskompetenz gibt es eine Reihe von Ansätzen und Instrumenten zu deren Erhebung und Messung. Eine differenzierte deutschsprachige Übersicht zu Erhebungsinstrumenten Digitaler Gesundheitskompetenz einschließlich einer tabellarischen Synopse findet sich bei Bittlingmayer et al. [84]. Überwiegend handelt es sich um klassische Fragebögen, während sich ein jüngeres Instrument von van der Vaart und Drossaert [101] durch eine anwendungspraktische Gestaltung hervorhebt; anhand von Screenshots von Internetseiten (z. B. von Gesundheitsangeboten, Foren oder Suchmaschinen-Trefferlisten) werden beispielsweise die Einschätzung der Glaubwürdigkeit von Informationen, die Sensibilität gegenüber Datenschutzaspekten oder das Wissen über den Aufbau von Webseiten erhoben.

Die bislang vorliegenden Erhebungsinstrumente sind stark subjektorientiert und berücksichtigen die soziale und interaktionale Dimension digitaler Gesundheitskompetenz nicht hinreichend. Dies wird insbesondere den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen, aber auch von älteren Menschen und Menschen aus unteren Bildungs- und Sozialschichten nicht gerecht.

Implikationen für die Versorgungsforschung

Digitale Gesundheitskompetenz ist als ein wichtiges neues Aufgaben- und Lernfeld zur Gestaltung der digitalen Transformation im Gesundheitswesen zu verstehen, welches zukünftig stärker zu berücksichtigen ist.


#
#

Nicht-standardisierte methodologische Zugänge zur Untersuchung der Gesundheitskompetenz: qualitative und partizipative Ansätze

Bisherige Bestrebungen zur Operationalisierung und Untersuchung der Gesundheitskompetenz basieren maßgeblich auf dem Bemühen, diese anhand von durch Expert:innen definierte standardisierte Konstrukte zu messen („Top-Down Ansatz“). Es wird dabei eine bestimmte Vorstellung von Kompetenzen und Fertigkeiten zugrunde gelegt und untersucht, zu welchem Grad Individuen oder Gruppen diese erfüllen. Dies kann – insbesondere bei einem eng auf einzelne Facetten fokussierten Instrument – dazu führen, dass die Komplexität und Vielfalt gesundheitsrelevanten Wissens und Könnens stark reduziert wird.

Ressourcenorientierte Ansätze, welche Gesundheitskompetenz als sozial und kulturell eingebettete Praxis im Kontext der individuellen Lebenswelt verstehen („Bottom-Up Ansatz“), wurden jedoch bislang nur vereinzelt diskutiert [98] [106] [107] [108]. Beispielsweise beschreibt Papen [106] die vielfältigen und kreativen Strategien, die Menschen entwickeln, um Hürden und Herausforderungen im Hinblick auf ihre konkreten gesundheitlichen Schwierigkeiten zu meistern. Auch Samerski [109] definiert Gesundheitskompetenz als multidimensionale Praxis, die situativ bedingt ist und in sozialen Beziehungen koproduziert wird. Daran anknüpfend legen Harzheim und Lorke et al. [108] auf der Grundlage narrativer Interviews die komplexen Verflechtungen gesundheitsbezogenen Wissens und Handelns mit biographischen Erfahrungen, der persönlichen Identität sowie der Interaktion mit dem Gesundheitssystem dar. Aus methodischer Sicht ist zudem zu bedenken, dass standardisierte, auf Verbalisierung beruhende Fragebögen, wie sie im Bereich der Gesundheitskompetenzforschung maßgeblich zum Einsatz kommen, nicht für alle Personen oder Gruppen in gleichem Maße geeignet sind (vgl. Abschnitt 4). Wünschenswert wäre hier ein größeres Spektrum möglicher Forschungszugänge.

Neben methodologischen Erwägungen spielt in diesem Kontext auch die theoretische Einbettung der Forschung eine bedeutsame Rolle. Theorien und Modelle zur Analyse zwischenmenschlicher Kommunikation oder sozialer Machtverhältnisse können beispielsweise hilfreich sein, um die Ergebnisse empirischer Studien sinnhaft interpretieren zu können. Auf diese Weise können die subtilen Mechanismen und Aushandlungsprozesse zwischen Individuum und Institution (im Sinne der organisationalen Gesundheitskompetenz) jenseits kognitiver Informationsverarbeitung beleuchtet werden [110].

Implikationen für die Versorgungsforschung

Um Gesundheitskompetenz aus dieser Perspektive in ihrer Vielschichtigkeit zu untersuchen, ist eher ein idiographisches denn ein nomothetisches Forschungsverständnis zielführend: Welche Bedeutungen spielen für einzelne Personen oder soziale Gruppierungen eine Rolle im Hinblick auf Gesundheitswissen und -handeln? Anstelle standardisierter Messinstrumente eigenen sich aus methodologischer Sicht hier qualitative Ansätze, die vom Prinzip der Offenheit geprägt sind; beispielsweise narrative oder ethnographische Methoden sowie insbesondere partizipative Forschung. Solche Zugänge können auch als Beitrag zur Stärkung der kritischen Gesundheitskompetenz hilfreich sein, da die Deutungshoheit hinsichtlich der Definition und Operationalisierung von Gesundheitskompetenz nicht allein auf Seiten der Wissenschaftler:innen liegt.

Qualitative Forschungszugänge stellen daher neben der Entwicklung und Validierung standardisierter Messinstrumente eine wichtige Ergänzung der zukünftigen Gesundheitskompetenzforschung dar und können einen substanziellen Beitrag zur theoretischen Fundierung des Konzepts leisten.


#
#

Forschungsethische Aspekte

Bei der Operationalisierung, Erhebung und Messung von Gesundheitskompetenz sind forschungsethische Erwägungen zu berücksichtigen, und zwar im Sinne einer ethischen Verantwortung der Wissenschaft in der Gesellschaft [111]. Fragen der Deutungsmacht in Bezug auf Gesundheit und Gesundheitskompetenz sowie der Definitionshoheit im Hinblick auf angemessene Kriterien und Erhebungsmethoden spielen dabei eine zentrale Rolle. Standardisierte Instrumente entsprechen häufig nicht der Vielfalt pluraler Lebenswelten. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund zu betrachten, dass die überwiegende Mehrheit der quantifizierenden Erhebungsinstrumente durch die lineare Skalierung von „geringer“ zu „hoher“ Gesundheitskompetenz eine implizite Wertung beinhaltet. Eine „niedrige“ Gesundheitskompetenz wird dabei im Sinne eines Attributs einer Person oder Gruppe verwendet und ist normativ mit „Schwäche“ assoziiert.

Die Art des wissenschaftlichen Zugangs beinhaltet somit das Risiko, Defizite zu konstruieren, statt ressourcenorientiert unterschiedliche Qualitäten des Umgangs mit Gesundheit(sinformationen) in den Blick zu nehmen [109]. Eine solch eng gefasste Forschungsperspektive birgt die Gefahr, Diskriminierung wissenschaftlich zu reproduzieren und Stereotype über so genannte vulnerable Gruppen mit als solcher definierter „niedriger“ Gesundheitskompetenz im wissenschaftlichen Diskurs zu verfestigen. In der Gestaltung wissenschaftlicher Forschung ist daher eine angemessene Repräsentation unterschiedlicher Perspektiven auf Gesundheit und Gesundheitskompetenz von zentraler Bedeutung [106] [108] [109].

Als Grundlage einer ethisch verantwortungsvollen Forschung ist die Auseinandersetzung mit der eigenen wissenschaftlichen Haltung sowie der Deutungsmacht in Bezug auf Gesundheit(skompetenz) unerlässlich. Fragen zur Reflexion können beispielsweise sein: Welche erkenntnistheoretische Perspektive liegt meinem Forschungsansatz zugrunde? Welche Rolle nehmen wir als Forschungsteam im Erkenntnisprozess ein? Wer bestimmt, welche Fragestellungen relevant sind und wie sie gestellt werden? Welche Annahmen (z. B. über „gesundes Leben“ oder „Kompetenz“) sind in diesen Fragestellungen bereits implizit enthalten? Welche Vorstellungen von „richtigem“ und „relevantem“ Gesundheitswissen und -verhalten liegen den Fragestellungen und Erhebungsmethoden zugrunde – und welche bleiben unberücksichtigt oder werden explizit ausgeschlossen? Wem wird in diesem Kontext Expertise und Mitspracherecht zu- oder (unbewusst) abgesprochen?

Aus forschungsethischer Sicht ist mithin zu bedenken, inwieweit (i) die Operationalisierung, Erhebung und Messung von Gesundheitskompetenz den vielfältigen Vorstellungen, Werthaltungen und Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft im Hinblick auf ein „gesundes Leben“ Rechnung tragen und (ii) der Forschungsprozess und/oder die resultierenden Erkenntnisse der Diskriminierung, der Reproduktion von Stereotypen oder der Verfestigung sozialer Ungleichheit Vorschub leisten.


#

Zusammenfassung und Ausblick

Grundsätzlich gelten für Instrumente zur Messung der Gesundheitskompetenz die gleichen methodischen Anforderungen wie für andere Messinstrumente. Darüber hinaus birgt die Messung von Gesundheitskompetenz eine Anzahl spezifischer Herausforderungen:

Die Vergleichbarkeit der Messergebnisse in der Gesundheitskompetenzforschung wird dadurch erschwert, dass die einzelnen Instrumente nicht auf einer einheitlichen Definition bzw. einem konsentierten theoretischen Modell beruhen. Dies führt zu einer Fülle an Instrumenten, die auf unterschiedliche Definitionen zurückgreifen, ggf. unterschiedliche Konstrukte messen und letztlich eine Synthese der Ergebnisse in einem systematischen Review erschweren. Dadurch fehlt eine wichtige Basis für die kohärente Weiterentwicklung des Forschungsfeldes [79] [112] [113]. Als Ergebnis dieser Entwicklung ist die Bildung von kontextspezifischen Gesundheitskompetenzdefinitionen zu nennen. Dies trifft z. B. auf die psychische Gesundheit (Mental Health Literacy) [114] oder die Themen Ernährung (Food Literacy) [115] und Bewegung (Bewegungsbezogene Gesundheitskompetenz) [42] [116] zu. Ebenfalls als Folge dieser Entwicklung wurde eine Vielzahl an Instrumente entwickelt, die Gesundheitskompetenz spezifisch für eine spezielle Versorgungssituation (z. B. Gesundheitsedukation bei chronisch Kranken) erfassen [u. a. [117]].

Eine spezielle Situation, die immer wieder kontrovers diskutiert wird, ist das Screening von Patient:innen in der klinischen Akutversorgung. Solche Studien zeigen regelmäßig einen hohen Anteil an Personen mit nicht ausreichender Gesundheitskompetenz, v. a. in ressourcenschwachen, marginalisierten, vulnerablen Bevölkerungsgruppen. Es ist inzwischen internationaler Konsens, dass ein solches Screening die Gefahr der (Selbst-)Stigmatisierung (vgl. Memorandum I und Abschnitt 6) birgt. Zudem können auch Menschen mit in diesen Tests ausreichender funktioneller Gesundheitskompetenz Probleme haben, Informationen des Gesundheitsfachpersonals richtig zu verstehen. Daher gilt es eher, Zugang und Durchschaubarkeit der gesundheitlichen Versorgung für alle Menschen zu vereinfachen, und Gesundheitsfachkräfte flächendeckend zu befähigen, mit allen Patient:innen verständlich und klar zu kommunizieren [118] [119].

Hinsichtlich der Entwicklung lebensweltnaher Erhebungsinstrumente gilt zu beachten, dass Gesundheitskompetenz nicht nur im medizinischen Versorgungssystem relevant ist, sondern der Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen ein alltägliches Erfordernis ist. Diesen Umgang mit Gesundheitsinformationen gilt es letztlich nicht isoliert, sondern unter expliziter Berücksichtigung von personalen Faktoren, wie z. B. Wissen, Selbstwirksamkeit, Motivation und Gender, sowie von sozialen Faktoren wie Familienkonstellation, elterlicher Gesundheitskompetenz, Sozialstatus, Schulsystem und kulturellem Bezugsrahmen zu erfassen.

Eine zusätzliche Herausforderung für die weitere Entwicklung von Messinstrumenten für das Feld ist die Verschmelzung der unterschiedlichen Strömungen, aus denen die Gesundheitskompetenzforschung entstanden ist (klinische Ansätze, edukative Ansätze, Public Health Ansätze). Für die Gesundheitspolitik ist die vergleichende Erhebung von Gesundheitskompetenz über die Lebensspanne und (Sub-) Populationen hinweg wünschenswert, um darauf basierend evidenz-gestützte Maßnahmen entwickeln zu können.

Für die Messung von Gesundheitskompetenz unter Versorgungsforschungsgesichtspunkten wäre es zukünftig wünschenswert, dass die Instrumente:

  • auf einer gemeinsamen Definition beruhen

  • als modulare Messinstrumente im Baukastenprinzip entwickelt werden

  • verschiedene Lebensabschnitte umfassen

  • für verschiedene Settings, (Sub-)Populationen, Ebenen sowie Facetten angepasst werden können

  • performanzbasierte und Selbsteinschätzungsverfahren miteinander kombinieren, um bestehende Schwächen auszugleichen und eine Ergänzung der unterschiedlichen Datenformate zu ermöglichen.

Zudem ist denkbar, dass zusätzlich Erhebungsvarianten genutzt werden, um die Gesundheitskompetenz und relevantes Gesundheitsverhalten realitäts- und lebensweltnäher abzubilden (Ambulantes Assessment, app-gestützte Verfahren, partizipative Ansätze). Zusätzlich wünschenswert wäre bei der zukünftigen Entwicklung weiterer Messinstrumente ein stärkerer Einbezug der Zielgruppe. Dieser findet bei einem Großteil der bestehenden Instrumente erst während der Validierungsphase statt, wobei der Beitrag der Adressat:innen darauf begrenzt ist, vorgegebene, bereits fertig entwickelte Fragebögen auszufüllen.

In der zukünftigen Entwicklung von Instrumenten zur Messung der Gesundheitskompetenz sollte die Adressat:innengruppe bereits während der Formulierung von Forschungsvorhaben, bei der Auswahl der Konstrukte, die erfragt werden sollen (z. B. durch Fokusgruppen oder Einzelinterviews), bei der Prüfung der Augenscheinvalidität der Items sowie bei der kognitiven Pre-Testung der Items und bei der Datensammlung zur Überprüfung der Reliabilität und Validität einbezogen werden. Insbesondere bei spezifischen Instrumenten ist dies von Bedeutung, um die Relevanz im Hinblick auf eine bestimmte Erkrankung, ein bestimmtes gesundheitsbezogenes Risikoverhalten, eine Personengruppe oder ein Setting zu gewährleisten. Auf diese Weise kann dem Anspruch einer stärkeren Nutzer:innenorientierung in der Versorgungsforschung Rechnung getragen werden. Nicht zuletzt würde mit einem Mitspracherecht der Bürger:innen hinsichtlich der Definition, Operationalisierung und Messung von Gesundheitskompetenz ein Raum der gesellschaftlichen Teilhabe und des Dialogs im Sinne der Deutungshoheit über Gesundheitskompetenz eröffnet.

Konsentierungsprozess des MemorandumsDas Memorandum ist aus einer Initiative der Arbeitsgruppe Gesundheitskompetenz des DNVF entstanden. Mitglieder der Arbeitsgruppe haben mit der Unterstützung externer Experten, unter der Begleitung einer hierfür gegründeten Steuerungsgruppe sowie in Kooperation mit dem Deutschen Netzwerk Gesundheitskompetenz e.V. (DNGK) einen Entwurf des Memorandums erarbeitet. Dieser wurde im nächsten Schritt unter den Mitgliedern des DNVF konsentiert.Folgende Fachgesellschaften (Sektion 1) haben sich im Rahmen des Kommentierungsprozesses beteiligt:Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e.V. Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie e.V. Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie e.V. Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V. Deutsche Gesellschaft für Senologie e.V. Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention e.V.Deutsche Krebsgesellschaft e.V.Folgende wissenschaftliche Institute und Forschungsverbünde (Sektion 2) haben sich im Rahmen des Kommentierungsprozesses beteiligt:Gesundheit Österreich GmbHLandesinstitut für Gesundheit des Bayerischen Landesamts für Gesundheit & Lebensmittelsicherheit (LGL)LVR-Institut für Versorgungsforschung, KölnMedizinische Hochschule Brandenburg (MHB), Theodor FontaneSektion Versorgungsforschung und Rehabilitationsforschung, Universitätsklinikum Freiburg (SEVERA)Universitätsklinik für Innere Medizin, Onkologie und Hämatologie OldenburgFolgende juristische Personen und Personenvereinigungen (Sektion 3) haben sich im Rahmen des Kommentierungsprozesses beteiligt:Bundesärztekammer e.V. Folgende persönliche Mitglieder (Sektion 4) haben sich im Rahmendes Kommentierungsprozesses beteiligt:Dr. Walter BaumannDas Memorandum wird von folgenden ordentlichen institutionellen Mitgliedern des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung e. V. getragen:Sektion „Fachgesellschaften“ (Sektion 1):Deutsche Diabetes Gesellschaft e.V.Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e.V.Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e.V.Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V.Deutsche Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin e.V.Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e.V.Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin e.V.Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie e. V.Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie e.V.Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V.Deutsche Gesellschaft für Physiotherapiewissenschaft e. V.Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie e.V.Deutsche Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften e.V.Deutsche Gesellschaft für Senologie e.V.Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention e.V.Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft e.V.Deutsche Schlaganfall-GesellschaftDeutsche Vereinigung für Sportwissenschaften e.V.Deutsches Institut für Gefäßmedizinische GesundheitsforschungDeutsches Kollegium für Psychosomatische MedizinSektion „Wissenschaftliche Institute und Forschungsverbünde“ (Sektion 2):Abteilung für Allgemeinmedizin der Ruhr-Universität BochumCenter for Health Care Research, Universitätsklinikum Hamburg-EppendorfCentre for Health and SocietyCharité - Universitätsmedizin Berlin, Plattform - Charité Versorgungsforschung der Humanwissenschaftlichen Fakultät und der Medizinischen Fakultät der UniversitätGesundheit Österreich GmbHInstitut für Allgemeinmedizin Universitätsmedizin RostockInstitut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und RehabilitationswissenschaftInstitut für Patientensicherheit, Universität BonnLandesinstitut Gesundheit des Bayrischen Landesamts für Gesundheit undLebensmittelsicherheitLehrstuhl für Medizinmanagement und VersorgungsforschungMedizinische Hochschule Brandenburg (MHB), Theodor FontaneSektion Versorgungsforschung und RehabilitationsforschungUniversitätsklinikum JenaZentrum für Versorgungsforschung Köln zu Köln (KöR)Sektion „Juristische Personen und Personenvereinigungen“ (Sektion 3):Deutscher Verband für Gesundheitssport und Sporttherapie e.V.Kassenärztliche Bundesvereinigung


#
#

Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

1 Wir verwenden den Begriff „Menschen mit Migrationshintergrund“ hier in dem Bewusstsein, dass die Begrifflichkeit nicht unstrittig ist, insbesondere als Bezeichnung für eine vermeintlich klar von „Menschen ohne Migrationshintergrund“ abzugrenzende Entität. Der Begriff bezieht sich auf eine heterogene, nicht eindeutig definierte Gruppe von Menschen, die sich untereinander mindestens ebenso sehr voneinander unterscheiden können wie von Menschen ohne Migrationshintergrund – unter anderem im Hinblick auf Sprache, Herkunftsland, Dauer des Aufenthalts, Kultur, ethnischer Zugehörigkeit, Fluchterfahrung, Diskriminierungserfahrungen, Religionszugehörigkeit, Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit oder sozio-ökonomische/existenzielle Rahmenbedingungen. Die Problematisierung des Migrationshintergrunds im Kontext des Gesundheitskompetenz-Diskurses birgt somit das Risiko einer Essentialisierung (Festschreibung einer Person oder Gruppe auf ihre Andersartigkeit) sowie der Reproduktion von Stereotypen und bedarf daher einer kontinuierlichen sensiblen Reflexion (vgl. Abschnitt 7).


Zusätzliches Material


Korrespondenzadresse

Anna Isselhard
Universitätsklinikum Köln
Institut für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie
Gleueler Straße 176-178
50935 Köln
Germany   

Publication History

Article published online:
26 April 2022

© 2022. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany