Schlüsselwörter
Geschlechtsinkongruenz - Geschlechtsdysphorie - Kinder und Jugendliche - Behandlungsempfehlungen
Key words
Gender incongruence - gender dysphoria - children and adolescence - treatment recommendations
Die neue Sicht auf geschlechtliche Diversität in der ICD-11
Die neue Sicht auf geschlechtliche Diversität in der ICD-11
In der medizinischen Fachwelt hat sich in den vergangenen 2 Jahrzehnten ein grundlegender
Paradigmenwechsel im Verständnis diverser Geschlechtsidentitäten vollzogen: Es erfolgte
einerseits eine konsequente Entpathologisierung und andererseits eine Abkehr von der
dichotomen Vorstellung binärer Geschlechtlichkeit. Dieser Paradigmenwechsel zeigt
Parallelen zum Wandel im Umgang mit Homosexualität, die 1973 von der American Psychiatric
Association aus dem Katalog psychiatrischer Diagnosen gestrichen wurde [1]. Entsprechend wurden in der ICD-11 die Diagnosen und damit auch die dahinterliegenden
Störungskonzepte der „Störungen der Geschlechtsidentität“ (F64) und des „Transsexualismus“
(F64.0) verlassen und die neue Diagnose der Geschlechtsinkongruenz (GI, HA60) unter
einer neuen Rubrik „Zustände mit Bezug zur sexuellen Gesundheit“ (conditions related
to sexual health) eingeführt [2]. Die Geschlechtsinkongruenz gilt damit als „Zustand“ und nicht mehr länger als psychische
Erkrankung. Sie ist definiert als eine dauerhafte Nichtpassung (Inkongruenz) zwischen
der empfundenen Geschlechtsidentität und dem aufgrund anatomischer Merkmale bei Geburt
zugewiesenen Geschlecht, verbunden mit einem starken Unbehagen gegenüber den angeborenen
körperlichen Geschlechtsmerkmalen. Diese Diagnose soll im Jugend- und Erwachsenenalter
nur gestellt werden, wenn bei einer betroffenen Person zudem ein starker Wunsch nach
primären oder sekundären Geschlechtsmerkmalen des empfundenen Geschlechts und/oder
danach besteht, angeborene Geschlechtsmerkmale loszuwerden, um das eigene körperliche
Erscheinungsbild der empfundenen Geschlechtsidentität anzugleichen (Kasten).
Geschlechtsinkongruenz im Jugend- und Erwachsenenalter (HA60/ICD-11)
Ausgeprägte und anhaltende Inkongruenz zwischen dem empfundenen Geschlecht und dem
zugewiesenen Geschlecht, die sich durch mindestens 2 der folgenden Punkte äußert:
-
starke Abneigung oder Unbehagen gegenüber den eigenen körperlichen Geschlechtsmerkmalen,
-
starker Wunsch, eigene körperliche Geschlechtsmerkmale loszuwerden,
-
starker Wunsch nach körperlichen Geschlechtsmerkmalen des empfundenen Geschlechts.
Die Person verspürt den starken Wunsch, als eine Person des erlebten Geschlechts zu
leben und akzeptiert zu werden. Die erlebte Geschlechtsinkongruenz muss seit mindestens
mehreren Monaten kontinuierlich vorhanden sein. Die Diagnose kann nicht vor dem Einsetzen
der Pubertät gestellt werden. Geschlechtsvariante Verhaltensweisen und Vorlieben allein
sind keine Grundlage für die Zuweisung der Diagnose.
Ein solcher Wunsch ist meist nur durch geschlechtsangleichende körpermedizinische
Maßnahmen (Hormonbehandlung und geschlechtsangleichende Operationen) erreichbar, was
wiederum einer leitliniengerechten Behandlung zur Reduzierung psychiatrischer Morbidität
entspricht [3]. Durch die neue ICD-11-Diagnose der Geschlechtsinkongruenz wird für Trans-Personen
der sozialrechtliche Zugang zu medizinisch indizierten Behandlungsmaßnahmen weiterhin
gesichert. Im Unterschied zur im DSM-5 weiterhin verwendeten psychiatrischen Diagnose
einer Geschlechtsdysphorie (GD), mit der das vorwiegend reaktive psychische Leiden
an einer Geschlechtsinkongruenz (GI) definiert wird [4], erfordert die Diagnose einer GI nicht, dass ein gegenwärtiger psychisch beeinträchtigender
Leidenszustand vorliegt.
Implikationen für eine zeitgemäße Versorgungspraxis
Implikationen für eine zeitgemäße Versorgungspraxis
Dieser Paradigmenwechsel erfordert ein grundlegendes Umdenken aller im Gesundheitswesen
professionell Tätigen: Frühere Annahmen, wonach eine vom zugewiesenen Geschlecht abweichende
Geschlechtsidentität durch eine psychopathologische „Fehlentwicklung“ verursacht sein
könnte, haben sich als wissenschaftlich nicht haltbar erwiesen. Der bisherige Begriff
einer „Störung der Geschlechtsidentität“ war und ist für Trans-Personen diskriminierend
und deshalb obsolet. Die Entwicklung der Geschlechtsidentität kann, vergleichbar der
Entwicklung der sexuellen Orientierung, im Verlauf fluide sein, ist aber nach heutiger
Auffassung weder durch erzieherische noch durch psychotherapeutische Einflussnahme
beeinflussbar. Daher sind psychotherapeutische Maßnahmen, die die Geschlechtsidentität
einer Person verändern wollen, nicht nur unethisch, sondern seit 2020 in Deutschland
zudem strafbar, was explizit auch Kinder und Jugendliche vor solchen Therapieversuchen
schützen soll (KonvBG § 2).
Nach aktuellen Leitlinienempfehlungen soll bei Vorliegen einer GI das vorrangige Bestreben
von professionell Helfenden zur Reduzierung psychischer Gesundheitsprobleme darauf
ausgerichtet sein, die betreffende Trans-Person darin zu unterstützen, die eigene
Persönlichkeit im Einklang mit ihrer empfundenen Geschlechtsidentität zu entfalten,
sich dabei selbst zu akzeptieren und sich sozial akzeptiert zu fühlen [3], [5]. Im Kindes- und Jugendalter schließt dies ein, an der Schaffung einer sicheren und
akzeptierenden sozialen Umgebung in Elternhaus und Schule mitzuwirken [6], [7]. Körpermedizinische Maßnahmen, sind zur Unterstützung einer sozialen Transition
zwar nicht immer, jedoch bei den meisten Patienten mit GI im Behandlungsverlauf sinnvoll
und notwendig. Sie sind individualisiert zu indizieren. Starre Ablaufschemata hinsichtlich
der Reihenfolge von Transitionsschritten und der Erfüllung vorgegebener Zeit- und
Alterskriterien gelten für eine fachgerechte Indikationsstellung medizinischer Transitionsbehandlungen
als überholt [1], [3].
Prävalenz und zunehmend steigende Fallzahlen bei Jugendlichen
Prävalenz und zunehmend steigende Fallzahlen bei Jugendlichen
In den vergangenen 10 Jahren ist die Zahl Jugendlicher, die wegen GI/GD spezielle
Behandlungsangebote im Gesundheitswesen aufsuchen, international stark angestiegen
[8]. Parallel hierzu sind auch die Schätzungen der Prävalenz der GI bei Erwachsenen
stark angestiegen. So wurde in einer Metaanalyse aus dem Jahre 2015 die durchschnittliche
Prävalenzrate von „Transsexualismus“ bei Erwachsenen noch auf 6,8 von 100000 Personen
geschätzt [9]. Die zugrunde gelegten Studien beruhen meistens auf den Inanspruchnahmezahlen von
medizinischen Spezialambulanzen, die mit den Bevölkerungszahlen von deren Einzugsgebieten
verrechnet wurden. Dies impliziert eine systematische Unterschätzung, da Personen
mit GI, die, aus welchen Gründen auch immer, (noch) keine medizinische Behandlung
in Anspruch genommen haben, nicht als Fälle erfasst wurden. In einer neueren bevölkerungsrepräsentativen
epidemiologischen Erhebung in Schweden wurde erstmals zwischen dem subjektiven Erleben
einer GI bei Erwachsenen und dem konkreten Wunsch nach einer medizinischen Behandlung
zur Geschlechtsangleichung differenziert [10]: Die Prävalenzrate für subjektive GI lag für beide Geschlechter bei ca. 1 %. Die
Rate für den spezifischeren Wunsch nach einer geschlechtsangleichenden medizinischen
Behandlung betrug bei beiden Geschlechtern 0,2 % und liegt damit bereits etwa 30-mal
höher als die aus früheren Studien aus Behandlungszahlen geschätzte Prävalenzrate.
Für Jugendliche liegen nur wenige empirische Daten zur Prävalenz vor. In einer neuseeländischen
Studie identifizierten sich 1,2 % einer Stichprobe von High-School-Schülern als transgender
[11], was in der Größenordnung der ermittelten Prävalenz subjektiver GI bei Erwachsenen
liegt. Der starke Anstieg behandlungssuchender Jugendlicher mit GI/GD in den vergangenen
Jahren ist somit kein spezielles Phänomen des Jugendalters. Vermutlich nehmen im Rahmen
einer wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz insgesamt zunehmend mehr Menschen mit
GI auch im Erwachsenenalter medizinische Transitionsbehandlungen in Anspruch. Nach
Angaben des Statistischen Bundesamtes hat sich die Zahl der geschlechtsangleichenden
Operationen bei Erwachsenen in Deutschland von 2012 bis 2020 insgesamt verdreifacht,
mit stetig zunehmender Tendenz [12]. Weiterhin finden Selbstfindungsprozesse und soziale Outings von Trans-Personen
zunehmend in früherem Lebensalter in Kindheit und Jugend statt, was den steilen Anstieg
der Fallzahlen Jugendlicher mit GI/GD in medizinischen Einrichtungen erklärt. Die
absoluten Fallzahlen im Jugendalter liegen nach wie vor weit unter der anzunehmenden
Prävalenz von GI und es ist zu erwarten, dass diese in den kommenden Jahren zunächst
weiter ansteigen werden.
Mit Geschlechtsinkongruenz assoziierte Psychopathologie
Mit Geschlechtsinkongruenz assoziierte Psychopathologie
Bei der Mehrheit der Kinder und Jugendlichen, die in Spezialsprechstunden mit einer
GI oder GD vorgestellt werden, findet sich keine psychiatrische Grunderkrankung, die
der GI/GD vorausging [13], [14]. Dennoch sind psychopathologische Auffälligkeiten häufig, bei Jugendlichen mehr
als bei Kindern, was u. a. mit der leidvoll erlebten fortschreitenden pubertären Reifung
begründet ist [15]–[17]. Psychische Gesundheitsprobleme können unabhängig von einer GI/GD entstanden sein
oder durch Begleitumstände einer GI/GD verursacht bzw. verstärkt werden. Vorrangig
zu nennen sind eine internalisierende Verarbeitung der körperbezogenen Geschlechtsdysphorie,
aversive Erfahrungen mit sozialer Nichtakzeptanz, Diskriminierung oder Gewaltviktimisierung
(Minority Stress) sowie eine internalisierte Transphobie mit beeinträchtigter Selbstakzeptanz
und verfestigten Negativerwartungen [18]. Die am häufigsten berichteten psychischen Auffälligkeiten bei GI/GD im Jugendalter
sind depressive Störungen, Angststörungen, selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität
[19], [20]. Die Lebenszeitprävalenz für Suizidversuche bei wegen GI/GD vorgestellten Jugendlichen
und jungen Erwachsenen wurde in einer neueren Metaanalyse mit 15 % ermittelt [21]. Bei erwachsenen Trans-Personen liegt sie nach einem großen U.S.-amerikanischen
epidemiologischen Survey bei ca. 40 % [22]. Als bedeutsamste protektive Faktoren wurden ein affirmativ unterstützendes familiäres
Milieu und die Inanspruchnahme geschlechtsangleichender körpermedizinischer Behandlung
ermittelt [22]. Eine vergleichende Analyse ergab, dass psychische Stressbelastung und Suizidalität
im Erwachsenenalter deutlich seltener angegeben wurden, wenn eine geschlechtsangleichende
Hormonbehandlung mit Testosteron oder Östrogen bereits im Jugendalter (14–17 Jahre)
begonnen wurde [18]. In einer niederländischen Langzeitkohortenstudie (n = 43) konnte nachgewiesen werden,
dass Jugendliche mit einer nach Pubertätseintritt persistierenden Geschlechtsdysphorie,
die im Laufe ihrer Jugend eine gestufte medizinische Transitionsbehandlung erhielten
(d. h. zunächst Pubertätsblocker, später geschlechtsangleichende Hormone und schließlich
ab dem 18. Lebensjahr geschlechtsangleichende Genitaloperationen), sich im Erwachsenenalter
in ihren Outcome-Werten für psychische Gesundheit nicht von der Normbevölkerung unterschieden
[23]. Diese Studienergebnisse stützen neben anderen neueren Outcome-Studien [24]–[28] in konsistenter Weise die in aktuellen Leitlinienempfehlungen [29], [30] vertretene Annahme, dass bei einer dauerhaft anhaltenden GI/GD im Jugendalter die
Einleitung körpermedizinischer Maßnahmen in Verbindung mit einer psychologisch und
sozial unterstützten Transition geeignet ist, die mit GI/GD assoziierten psychopathologische
Auffälligkeiten wirksam zu minimieren [1].
Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)
Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)
Zahlreiche Untersuchungen zeigen eine erhöhte Prävalenz sowohl von autistischen Symptomen
bei Kindern und Jugendlichen mit GI als auch für non-konforme Geschlechtsidentität
bei Kindern und Jugendlichen mit ASS (bi-direktionale Überlappung der Phänomene Gendervarianz
und Autismus-Spektrum). Unklar bleibt, ob ein solcher Zusammenhang auch für die tatsächliche
Diagnosen ASS und GI besteht [31]. Die klinische Behandlungsrealität zeigt eine Subgruppe von Patienten, die entwicklungsüberdauernd
das diagnostische Vollbild beider Phänomene aufweisen. Hier ist die Gefahr einer Unterdiagnostik
vorhanden, wenn zeitlich anhaltende atypische Symptome fälschlicherweise einem zuerst
diagnostizierten Phänomen zugeordnet werden. Autismusbedingte Besonderheiten erschweren
zumeist den Transitionsprozess und die Indikationsstellung für somatomedizinische
Maßnahmen bei GI/GD-Jugendlichen. Indizierte somatomedizinischen Maßnahmen sollten
Jugendlichen mit ASS und eindeutiger GI/GD-Diagnose aber nicht generell vorenthalten
werden.
Besonderheiten im Kindesalter
Besonderheiten im Kindesalter
Für das präpubertäre Kindesalter wird in der ICD-11 eine eigenständige Diagnose „Geschlechtsinkongruenz
in der Kindheit“ definiert (Kasten).
Geschlechtsinkongruenz im KIndesalter (HA61/ICD-11)
-
starker Wunsch oder Insistieren, einem anderen als dem zugewiesenen Geschlecht anzugehören
-
starke Abneigung gegenüber eigenen anatomischen Geschlechtsmerkmalen
-
starker Wunsch nach körperlichen Geschlechtsmerkmalen, die der subjektiven Geschlechtszugehörigkeit
entsprechen
-
Spielaktivitäten und Spielkameraden, die typisch für das erlebte Geschlecht sind
Bisherige Studien zum Entwicklungsverlauf geschlechtsvarianter Kinder haben gezeigt,
dass diese mehrheitlich im Jugendalter keine persistierende GI entwickeln [32]. Auch wenn schon im Kindesalter die diagnostischen Kriterien einer GD erfüllt waren,
lag die Persistenzrate laut einer Metaanalyse nicht höher als 60 % [33]. Demnach kann bei einer GI im Kindesalter vor Eintritt der Pubertät keine Vorhersage
darüber getroffen werden, ob diese ins Jugendalter persistieren wird. Entsprechend
soll vor Pubertätsbeginn eine Indikationsstellung für spätere medizinische Behandlungsschritte
unterbleiben [29]. Die Diagnose einer GI im Kindesalter impliziert per se keinen Behandlungsbedarf.
Auch psychotherapeutische Maßnahmen sind meist nicht nötig, wenn das Kind von seinem
Umfeld in seinem geschlechtsdiversen Auftreten akzeptiert wird und sich ungestört
entwickeln kann. Gleichwohl besteht im Kindesalter oft ein fachlicher Beratungsbedarf
für das erzieherische Umfeld.
Sozialer Rollenwechsel im Kindesalter
Sozialer Rollenwechsel im Kindesalter
Für geschlechtsdiverse Kinder, die von ihrem Umfeld akzeptiert werden, haben z. B.
Vornamen und Pronomina oft keine besondere Bedeutung. Es gibt jedoch auch Kinder,
die von sich aus schon im Kindergarten- oder Grundschulalter vehement darauf bestehen,
in einem anderen als dem zugewiesenen Geschlecht angesprochen zu werden und entsprechend
einen sozialen Rollenwechsel von sich aus initiieren. Dies betrifft gegebenenfalls
grundsätzlich keine Frage einer medizinischen Behandlungsentscheidung, sondern es
obliegt allein den Erziehenden, hierzu eine kindgerechte Haltung zu entwickeln, die
für dessen gesunde psychische Entwicklung am ehesten förderlich ist. Wird hierzu eine
professionelle Beratung aufgesucht, sollten Fachpersonen u. a. darüber informieren,
dass nach den konsistenten Ergebnissen bisheriger Studien geschlechtsdiverse Kinder,
die mit Unterstützung ihrer Familien vor der Pubertät einen sozialen Rollenwechsel
vollzogen haben, überwiegend eine unauffällige psychische Entwicklung durchlaufen
haben [34], [35]. Wird den Kindern mit einer akzeptierenden Haltung begegnet, erscheint dies geeignet,
die bei Trans-Personen erhöhten seelischen Gesundheitsrisiken im Jugendalter zu minimieren
[36]–[39]. Ebenso sollten Eltern und Kind darüber informiert werden, dass sich die empfundene
Geschlechtszugehörigkeit im Verlauf des Jugendalters verändern kann, wobei dies kein
Grund sein muss, einem Kind einen sozialen Rollenwechsel zu verbieten. Eine ergebnisoffene
Eigenexploration der geschlechtlichen Identität kann sich auch nach einer sozialen
Transition im Kindesalter fortsetzen [36], [40]–[42]. Hingegen kann für Eltern die Sorge um Diskriminierungserfahrungen ein Grund sein,
mit dem Kind vorübergehende Kompromisslösungen für Kleidung, Spitznamen etc. auszuhandeln.
Besonderheiten im Jugendalter
Besonderheiten im Jugendalter
Liegt bereits in der Kindheit eine GI vor, entscheidet sich meist bald nach Pubertätsbeginn,
d. h. bis zum ca. 13. Lebensjahr, ob diese ins Jugendalter persistiert [15]. Symptome einer GI/GD können jedoch auch erstmals nach Eintritt der Pubertät in
Erscheinung treten, was deren diagnostische Einschätzung ohne eine längere Verlaufsdiagnostik
schwieriger macht. Im Rahmen ihrer Identitätssuche können sich Jugendliche temporär
in verschiedenen genderbezogenen Stilen und Rollen ausprobieren. Auch finden sich
bei einem Teil der Jugendlichen mit GI/GD Hinweise auf eine allgemeine Identitätsverunsicherung
[43]. Typisch für ein fluides gendervariantes Verhalten im Jugendalter, aus dem sich
keine persistierende GI entwickelt, ist beispielsweise, wenn das Ausleben atypischen
Rollenverhaltens mit subjektiver Zufriedenheit einhergeht, ohne dass ein körperbezogenener
Leidensdruck (fort-)besteht. Überdauert hingegen nach Pubertätsbeginn eine GI/GD über
einen längeren Zeitraum, ist ihre dauerhafte Persistenz zunehmend wahrscheinlich.
Typisch hierfür ist, dass der Leidensdruck im Zusammenhang mit fortschreitenden Körperveränderungen
progredient ansteigt und sich nicht allein durch einen vollzogenen sozialen Rollenwechsel
mit positiven Erfahrungen und sozialer Akzeptanz nennenswert lindern lässt. Dies kann
mit gravierenden Beeinträchtigungen der sozialen Teilhabe einhergehen (z. B. sozialer
Rückzug, jahrelang kein Schwimmbadbesuch). Trans-Jungen leiden u. a. besonders an
ihrem weiblichen Brustwachstum. Sie binden häufig ihre Brüste ab, weil sie die Sichtbarkeit
der Brustwölbung durch die Kleidung nicht ertragen. Die Menstruation wird typischerweise
als zutiefst „falsch“ oder als demütigend erlebt. Trans-Mädchen äußern u. a. meist
ein großes Unbehagen im Zusammenhang mit dem pubertären Stimmwechsel sowie der Vorstellung
von Bartwuchs und männlicher Körperbehaarung [1].
Die Herausforderung bei der Behandlung von GI/GD im Jugendalter besteht darin, dass
einerseits die zunehmende Irreversibilität der fortschreitenden körperlichen Reifeentwicklung,
die mit erhöhten Langzeitrisiken für die psychische Gesundheit einhergeht, einen Zeitdruck
schafft, andererseits jugendliche Selbstfindungsprozesse volatil und fluide sein können
[44], [45]. Dies macht Behandlungsentscheidungen für körpermedizinische Maßnahmen schwierig,
da der potenzielle Nutzen gegen das Risiko irreversibler Gesundheitsschäden im Falle
einer sich später als verfrüht erweisenden Entscheidung abzuwägen ist [44]. Erschwerend kommt hinzu, dass bei Jugendlichen mit GI/GD – anders als im Erwachsenenalter
– ein abwartendes Vorgehen über einen längeren Zeitraum keine neutrale Option ist,
sondern durch die damit bewusst in Kauf genommene fortschreitende Vermännlichung bzw.
Verweiblichung des körperlichen Erscheinungsbildes vermeidbare schädliche Langzeitfolgen
für die psychische Gesundheit entstehen können [30]. Angesichts der Tragweite der somatomedizinischen Behandlungsentscheidungen und
deren irreversiblen Implikationen (u. a. ggf. spätere Infertilität) sind besondere
Anforderungen an die diagnostische Sicherheit sowie an die Feststellung einer hinreichenden
Einwilligungsfähigkeit der Jugendlichen zu stellen. Es besteht somit nach aktuellen
medizinethischen Maßgaben u. a. des Deutschen Ethikrates für Behandelnde eine gleichermaßen
hohe ethische Begründungslast für eine geschlechtsangleichende medizinische Behandlung
im Jugendalter ebenso wie im Falle einer Ablehnung oder zeitlichen Hinauszögerung
einer gewünschten Behandlung [44], [45].
Behandlungsempfehlungen bei Jugendlichen
Behandlungsempfehlungen bei Jugendlichen
Für die Behandlung jugendlicher Patienten mit GI/GD ist eine über mehrere Jahre kontinuierliche
psychologische und medizinische Begleitung zu empfehlen, bei der einzelfallbezogen
explorative Selbstfindungsprozesse, Schritte einer sozialen Transition und abgestufte
somatomedizinische Interventionen mit schrittweise zunehmender Irreversibilität gemeinsam
mit den Patienten und ihren Sorgeberechtigten im Verlauf evaluiert werden sollten.
Dabei wird eine partizipative Entscheidungsfindung (shared decision making) empfohlen.
Bestehen angesichts der Tragweite einer anstehenden Behandlungsentscheidung noch Zweifel
an der erforderlichen Einwilligungsfähigkeit eines minderjährigen Patienten, ist es
Aufgabe der Fachperson, den jungen Menschen darin zu unterstützen, die für eine eigenverantwortliche
Entscheidung erforderlichen Kenntnisse und Kompetenzen zu erwerben [45].
Indikationen für Psychotherapie
Psychotherapie bei Jugendlichen mit GI/GD bedarf einer individuell zu stellender Indikation
auf Basis einer psychiatrischen Zusatzdiagnose. Besteht im Hinblick auf die Stabilität
vs. Fluidität der Geschlechtsidentität Unsicherheit, steht zunächst die Unterstützung
bei einer introspektiven und sozial explorierenden Selbstfindung im Vordergrund, die
meist die Ermutigung zu einer sozialen Rollenerprobung einschließt [40]. Zeichnet sich hingegen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine persistierende GI ab,
steht die affirmative Prozessbegleitung bei einer sozialen Transition sowie deren
stetige Reevaluation im Vordergrund [1]. Dabei geht es z. B. oft um das Erarbeiten konkreter Alltagslösungen im Umgang mit
Situationen, in denen Geschlechtertrennung üblich ist (z. B. Toilettenbenutzung, Sportumkleide
etc.). Die Grenzen zu einer unterstützenden psychosozialen Beratung sind dabei fließend.
Indikation für pubertätsunterdrückende Hormonbehandlung
Nimmt pubertätsbedingt eine körperbezogene Dysphorie zu, kann frühestens ab einem
Pubertätsstadium II nach Tanner eine zeitlich begrenzte Pubertätssuppression mit GnRH-Analoga
empfohlen werden [29]. Diese Behandlung ist geeignet, den Leidensdruck betroffener Jugendlicher zu entaktualisieren,
indem das Fortschreiten irreversibler Körperveränderungen wirksam verhindert wird.
Dies führt bei behandelten Jugendlichen meist zu einer erheblichen psychischen Entlastung.
Verlaufsdaten aus Langzeit-Follow-Up-Untersuchungen belegen einen günstigen Effekt
auf die mit GI/GD einhergehenden psychopathologische Symptombelastungen (z. B. Depression),
wobei die Körperdysphorie als solche meist fortbesteht [46]. Die Behandlung ist im Hinblick auf die somatische Reifeentwicklung vollständig
reversibel, d. h. bei einem Absetzen würde die biologische Reifeentwicklung vollständig
nachgeholt werden. Daher eignet sich dieser Behandlungsschritt auch dafür, ein Zeitfenster
zu schaffen, in dem irreversible Körperveränderungen in jedwede Richtung verhindert
werden. Ein solches temporäres Anhalten der körperlichen Reifeentwicklung sollte für
eine Klärung und Vorbereitung weiterführender Entscheidungen, insbesondere bezüglich
einer partiell irreversiblen geschlechtsangleichenden Hormonbehandlung genutzt werden.
Diese wird nach bisheriger Erfahrung führender Behandlungszentren in den meisten Fällen,
in denen eine Pubertätssuppression erfolgte, im weiteren Verlauf gewünscht. Für die
Indikationsstellung zur Pubertätssuppression wird daher als Voraussetzung empfohlen,
dass bereits von einer hohen Wahrscheinlichkeit für die dauerhafte Persistenz einer
GI ausgegangen werden kann [1], [29], [47] (Kasten).
Pubertätsunterdrückende Hormonbehandlung bei Geschlechtsdysphorie im Jugendalter
-
Vorhandensein einer ausgeprägten Genderdysphorie nach Eintritt der Pubertät
-
Mindestens pubertäres Reifestadium II nach Tanner
-
Bei vorbestehender GI im Kindesalter: Deutliche Zunahme des geschlechtsdysphorischen
Leidensdruckes mit Beginn der Pubertät
-
Normaler pubertärer Hormonstatus und erfolgte Ausschlussdiagnostik einer Differences
of Sex Development: biologisch angelegte Intersexualität (DSD)
-
Abwesenheit koinzidenter psychiatrischer oder somatomedizinischer Störungen, die mit
der Behandlung erheblich interferieren würden
-
Adäquate psychologische und soziale Unterstützung während der Behandlung
-
Bereitschaft zur Vorbereitung einer sozialen Transition und Alltagserprobung in empfundenem
Geschlecht
-
Informierte Zustimmung von Patient und Sorgeberechtigten
(nach Daten aus [1])
Indikation für geschlechtsangleichende Hormonbehandlung
Aufgrund der partiellen Irreversibilität der Auswirkungen einer geschlechtsangleichenden
Hormonbehandlung sind an die diagnostische Sicherheit sowie an die Einwilligungsfähigkeit
behandlungssuchender Jugendlicher entsprechend hohe Anforderungen zu stellen. Wenn
möglich, sollte ein sozialer Rollenwechsel bereits vollzogen und eine allgemeine psychosoziale
Stabilisierung in der trans-geschlechtlichen Rolle über mehrere Monate eingetreten
sein. Zudem sollte ein anhaltender körperbezogener geschlechtsdysphorischer Leidensdruck
handlungsleitend sein [29], [48]. Evtl. gleichzeitig bestehende psychische oder somatische Erkrankungen sind daraufhin
zu überprüfen, inwieweit sie mit dem Beginn einer Behandlung interferieren würden,
sie stellen jedoch per se keine Kontraindikation dar. Frühere Behandlungsempfehlungen,
wonach begleitende psychische Störungen vor Beginn einer geschlechtsangleichenden
Hormonbehandlung möglichst weitgehend remittiert sein sollten, sind nicht mehr leitliniengerecht
[3]. Insbesondere depressive und sozial ängstliche Syndrome, aber auch selbstverletzendes
Verhalten und Suizidalität stehen in ihrer Entstehung häufig – wenngleich nicht immer
– in kausalem Zusammenhang mit einer körperbezogenen Geschlechtsdysphorie. In diesen
Fällen tritt entsprechend oft eine Symptomverbesserung erst durch den Beginn einer
körpermedizinischen Behandlung ein. Andererseits sollten geschlechtsdysphorische Jugendliche
darüber aufgeklärt werden, dass von einer Hormonbehandlung allein nicht erwartet werden
kann, dass sich alle psychopathologischen Symptome auflösen. Nach unserer Erfahrung
hat es sich bei koinzident (CAVE: nicht komorbid) bestehenden psychischen Störungen
in den meisten Fällen bewährt, die Unterstützung einer sozialen Transition parallel
und eng verzahnt mit medizinischen Transitionsschritten und psychotherapeutischen
Interventionen in einem Behandlungsplan zu integrieren. Dabei sollte insbesondere
auch in den ersten Monaten nach Beginn der Hormonbehandlung eine engmaschige fachliche
Begleitung gewährleistet sein. Empfehlungen für feste Altersgrenzen, ab wann Minderjährige
in Bezug auf partiell irreversible somatomedizinische Maßnahmen selbst einwilligungsfähig
sind, sind aus entwicklungspsychologischer und empirischer Sicht nicht haltbar [49]. Die Einwilligungsfähigkeit im Sinne einer informierten Zustimmung zu einer geschlechtsangleichenden
Hormonbehandlung muss daher individuell geprüft werden (Kasten).
Geschlechtsangleichende Hormonbehandlung bei Geschlechtsdysphorie im Jugendalter
-
Vollzogener sozialer Rollenwechsel in möglichst allen Lebensfeldern
-
Anhaltender Wunsch nach geschlechtsangleichender Hormonbehandlung
-
Reflektierte Antizipation der psychosozialen Implikationen eines weiteren transidenten
Lebensweges
-
Abwesenheit koinzidenter psychiatrischer oder somatomedizinischer Störungen, die mit
der Behandlung erheblich interferieren würden
-
Informierte Zustimmung von Patient und Sorgeberechtigten
(nach Daten aus [1], [48])
Weiterführende geschlechtsangleichende operative Behandlung
Durch die zunehmende Verfügbarkeit fachgerechter Behandlungsangebote für Jugendliche
mit GI/GD hat sich in den vergangenen 2 Jahrzehnten der Beginn sozialer Transitionen
einschließlich somatomedizinischer Behandlungsschritte in frühere Altersspannen vorverlagert.
Dies führt dazu, dass zunehmend häufig junge Menschen deutlich vor dem 18. Lebensjahr
die gesamte soziale Transition erfolgreich durchschritten haben, einschließlich gesetzlicher
Namens- und Personenstandsänderung und psychosozialer Stabilisierung unter geschlechtsangleichender
Hormonbehandlung seit mehr als einem Jahr, und dann für eine vollständigere Teilhabe
an einer altersgerechten Lebensgestaltung eine Mastektomie oder geschlechtsangleichende
Genitaloperation wünschen. Insbesondere das Erscheinungsbild der weiblichen Brust
beeinträchtigt bei Trans-Jungen häufig die psychosoziale Teilhabe erheblich und geht
mit hohem Leidendruck einher, der sich unter Testosteronbehandlung verstärken kann.
Es gibt bei einem hinreichend eindeutigen Gesamtbild, sorgfältiger Indikationsstellung
und festgestellter Einwilligungsfähigkeit keine medizinethische Rechtfertigung, jungen
Menschen vor Erreichen des 18. Lebensjahres grundsätzlich den Zugang auch zu geschlechtsangleichenden
operativen Maßnahmen zu verwehren, auch wenn diese überwiegend erst nach dem 18. Lebensjahr
erfolgen. Insbesondere die Indikation zu einer Mastektomie wird zunehmend häufig vor
dem 18. Lebensjahr gestellt, was auch internationalen Leitlinienempfehlungen entspricht
[29]. Bei der Indikationsstellung zu genitalangleichenden Operationen wird hingegen nach
wie vor empfohlen, die Volljährigkeit abzuwarten. Hierzu trägt u. a. auch die Beobachtung
bei, dass im Erwachsenenalter längst nicht alle Trans-Personen die operative Geschlechtsangleichung
wünschen, sondern teilweise auch zu individuellen Entscheidungen kommen können, ohne
eine solche Operation ein stimmiges Leben in ihrem empfunden Geschlecht realisieren
zu können.
Einbeziehung von Eltern in den Behandlungsprozess
Die Relevanz der Einbindung von Eltern in den gesamten Prozess der Transition und
ihrer professionellen Begleitung kann nicht genug hervorgehoben werden. Für die psychische
Gesundheit transidenter Jugendlicher ist die Qualität ihrer familiären Beziehungen
ebenso wie die soziale Akzeptanz unter Gleichaltrigen hochgradig bedeutsam [50]. Entsprechend hängt die psychosoziale Bewältigung einer Transition im Jugendalter
entscheidend von der Unterstützung durch die Eltern ab. Bei anhaltenden Akzeptanzproblemen
der Eltern sollte im Interesse der Gesundheitsprognose der betreffenden Jugendlichen
daher kein therapeutischer Aufwand gescheut werden, durch intensive Eltern- und Familienarbeit
die Gründe für eine Nichtakzeptanz zu explorieren und nach Möglichkeit aufzulösen.
Falls dies nicht gelingt, wird ein Beziehungsabbruch des Jugendlichen zu seinen Eltern
wahrscheinlich, da im Erleben Betroffener eine fortbestehende Ablehnung ihres „So-Seins“
im Transgeschlecht durch die eigenen Eltern einer existenziell bedeutsamen Ablehnung
gleichkommt [1].
Non-Binärität
Über non-binäre Jugendliche, die sich in ihrer Geschlechtsidentität weder eindeutig
männlich noch eindeutig weiblich fühlen, liegen kaum wissenschaftliche Erkenntnisse
vor. Teilweise sind non-binäre Übergangsstadien in binäre Transidentitäten beschrieben,
manchmal persistiert aber auch eine non-binäre Identität über Jahre, die dann bei
Jugendlichen mit weiblichem Zuweisungsgeschlecht z. B. mit einem durch anhaltende
Körperdysphorie ausgelösten Wunsch nach einer Mastektomie ohne geschlechtsangleichende
Hormonbehandlung einhergehen kann. Eine erste Untersuchung zeigt eine hohe Rate an
begleitender Psychopathologie mit schlechterem Zugang zu transspezifischen Gesundheitsleistungen
[51]. Daher sollten diese Jugendlichen nach Möglichkeit an Spezialsprechstunden angebunden
werden, um nach erfolgter Verlaufsdiagnostik ggf. hoch-individuelle Indikationsentscheidungen
treffen zu können.
Bei der Behandlung der GI/GD im Jugendalter müssen ethische Abwägungen von Nutzen
und potenziellem Schaden im Falle einer möglicherweise verfrüht ebenso wie einer zu
spät indizierten somatomedizinischen Behandlung im Kontext der Adoleszenzentwicklung
vorgenommen werden. Dabei geht es auch darum, mit bleibenden Ungewissheiten umzugehen
[52]. Im Vordergrund steht die Unterstützung einer schrittweise zu bewältigenden sozialen
Transition, zu der das Angebot einer individualisiert zu indizierender psychotherapeutischer
Begleitung ebenso gehört wie das Angebot einer entwicklungsorientierten schrittweise
gestuften somatomedizinischen Behandlung zur Angleichung des körperlichen Erscheinungsbildes
an die empfundene Geschlechtsidentität, bei der wiederum jeder Schritt eine sorgfältige
interdisziplinäre Indikationsstellung erfordert. Eine solchermaßen fachgerechte interdiziplinäre
Versorgung (comprehensive care) kann dazu beitragen, Jugendlichen mit GI/GD eine im
Hinblick auf psychosoziale Teilhabe, psychische Gesundheit und Lebensqualität weitgehend
unbeeinträchtigte Lebensgestaltung zu ermöglichen.