Die mit Abstand meisten Krankenhaustage in Deutschland sind bedingt durch rezidivierende
depressive Störungen, gefolgt von Schizophrenien. Unter den Top 10 befinden sich gleich
vier Indikationen aus dem Bereich der psychischen Erkrankungen [1]. Die evidenzbasierten Behandlungsstandards für diese schweren Erkrankungen werden
durch aktuelle Leitlinien bestimmt [2]
[3].
Die Leitlinienempfehlungen lassen sich für schwere und rezidivierende Depressionen
wie für Schizophrenien im Sinne einer phasenadaptierten sequenziellen Behandlung auffassen. Das heißt, es gibt z. B. bei Depressionen phasenadaptierte Empfehlungen für eine Akutbehandlungsphase, eine darauffolgende Erhaltungstherapiephase,
ggf. zugleich Wiedereingliederungs-/Rehabilitationsphase und ggf. eine Rezidivprophylaxe.
Bei Schizophrenien werden Behandlungssequenzen für die Akutphase, die postakute Stabilisierungsphase
sowie die Remissionsphase definiert. Diese Behandlungsschritte sollten zeitnah sequenziell aufeinanderfolgen. Bei schweren Depressionen sollte die Psychotherapie schon in der
Akutbehandlungsphase ein wesentlicher Therapiebaustein sein [2], wo sie große anhaltende Effekte hat [4]. Auch in der Erhaltungstherapiephase ist sie mit Evidenzgrad A empfohlen, da sie
das Rezidivrisiko fast halbieren kann [2]. Während früher die Positivsymptomatik bei Schizophrenie als unzugänglich für psychotherapeutische
Interventionen galt, sind kognitive Verhaltenstherapie und metakognitives Training
inzwischen durch Evidenz wiederholt belegt worden. Auf Negativsymptomatik kann das
psychotherapeutische Training sozialer Kompetenzen signifikante Effekte haben und
Rezidiv- und Rehospitalisierungsraten können durch psychotherapeutische Familieninterventionen
verringert werden. Dabei wird explizit darauf hingewiesen, dass diese Therapien nach
einer stationären Behandlung ambulant in ausreichender Stundenzahl fortgesetzt werden
sollten [3].
Für die Routineversorgung in unserem Gesundheitssystem bedeuten diese Leitlinienempfehlungen,
dass nach stationärer Behandlung wegen schwerer Depression oder akuter psychotischer
Episode ambulant eine entsprechende spezifische Psychotherapie direkt anschließen
sollte. Die Leitlinienevidenz lässt keinen Zweifel, dass durch konsequent umgesetzte
phasenadaptierte Interventionen relevante Effekte zu erwarten sind, um Rückfälle,
Rezidive und letztlich Chronifizierungen zu verhindern sowie die Teilhabe zu verbessern.
Doch wie sieht es in der alltäglichen Versorgung aus? Die wenigen verfügbaren Studien
zur Routinebehandlung von Depressionen im deutschen Gesundheitssystem weisen leider
größtenteils darauf hin, dass diese Empfehlungen insbesondere bezüglich der Psychotherapie
in vielen Fällen nicht umgesetzt werden:
-
Nur ein Viertel der Patient*innen mit der Diagnose „schwere Depression“ erhielten
eine leitliniengerechte Kombinationsbehandlung aus Pharmakotherapie und Psychotherapie,
wobei meist die Psychotherapie fehlte, wie die Analysen des „Faktencheck Gesundheit“
zeigten [5].
-
92 % der wegen einer schweren Depression stationär behandelten Patienten*innen erhielten
in einer Studie in Routinedaten nach Entlassung keine leitliniengerechte Weiterbehandlung.
Nur 33 % erhielten überhaupt mindestens eine Stunde Psychotherapie innerhalb des einjährigen
Beobachtungszeitraums und nur 13 % eine nach Stundenzahl adäquate Psychotherapie innerhalb
des ersten Quartals nach Entlassung. Die leitliniengerechte Weiterversorgung hatte
in einem Regressionsmodell Effekte auf die Krankenhaus-Wiederaufnahmeraten und die
Übersterblichkeit der Patient*innen [6].
-
Die Wartezeit zwischen Kontaktaufnahme und Beginn der Psychotherapie betrug durchschnittlich
18–20 Wochen. Weder Psychotherapiestrukturreform [7] noch die Aufsplittung von Kassensitzen konnte dies nennenswert verändern.
Zusammenfassend erfolgt also in vielen Fällen nach Entlassung aus stationärer Behandlung
keine leitliniengerechte (Psycho-)Therapie und wenn doch, dann verbunden mit unverändert
langen Wartezeiten. Angesichts der klinischen Alltagserfahrungen ist bei Schizophrenien
von einer noch eingeschränkteren psychotherapeutischen Routineversorgung auszugehen,
auch wenn dazu systematische Studien fehlen.
Warum scheitert unser Versorgungssystem vielfach daran, gerade den Schwerstbetroffenen,
die zuvor lange in stationärer Behandlung waren, Zugang zu leitliniengerechten, phasenadaptierten
und hochwirksamen Psychotherapien zu geben? Drei Faktoren könnten eine Rolle spielen:
Erstens fehlt es an Anreizstrukturen und Steuerungselemente seitens des Gesundheitswesens.
Das aktuelle System legt die Verantwortung für eine leitliniengerechte, sequenzielle,
phasenadaptierte Therapie in die Hände der Betroffenen selber: In der von Wartelisten
und Anrufbeantworterschleifen gekennzeichneten Konkurrenz um Therapieplätze haben
diejenigen, welche diese Plätze am dringendsten benötigen würden, durch die mit der
Erkrankung einhergehenden schweren Funktionsdefizite Nachteile. Für die selbstständig
arbeitenden Psychotherapeut*innen fehlen außerdem Anreize, diesen Gruppen der Schwerbetroffenen
entgegenkommende Angebote zu machen, sodass ihnen Kapazitätsausweitungen im System
kaum zugutekommen. Die Honorare sind die gleichen wie für leichter Betroffene, die
Therapieprozesse bei häufigen Komorbiditäten wie Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen
oder posttraumatischen Belastungsstörungen wesentlich komplexer [8] und aufgrund der Funktionsdefizite wie auch Rezidivrisiken die Ausfall- und Abbruchwahrscheinlichkeiten
höher.
Zweitens haben wir kaum Wissen über die Outcomes unserer Routinebehandlungspraxis
und damit auch keine Orientierung, das System im Sinne einer iterativen Optimierung
hin zu einer besseren Versorgung zu entwickeln. Hier besteht eine Chance darin, dass
Initiativen für einen besseren Zugang zu (anonymen) Routinedaten oder auch Verlaufsuntersuchungen
auf Basis der elektronischen Patientenaktendaten neue Möglichkeiten in der Evaluation
der Versorgungssequenzen bieten und damit eine Basis für rationalere gesundheitspolitische
Steuerungen.
In einem dritten Punkt müssen wir uns als (forschende) psychiatrisch und/oder psychotherapeutisch
Tätige ein Stück weit selber hinterfragen: Die wissenschaftliche Community wie auch
die Gesellschaft insgesamt sind sehr auf die Entwicklung neuer Einzelinterventionen
fixiert, wie z. B. aktuell in den USA der Hype um Halluzinogene in der Depressionsbehandlung
zeigt. Natürlich ist jeder neue Weg aus der Therapieresistenz zu begrüßen, jedoch
werden damit auf Populationsebene für „Volkskrankheiten“ wie Depressionen kaum signifikante
Verbesserungen zu erzielen sein. Vielmehr müssen wir dafür bei den eher chronisch
oder rezidivierend verlaufenden schweren psychischen Erkrankungen unser Gesundheitssystem
endlich mehr als integriertes System ineinandergreifender Interventionen begreifen
– und davon sollte nach aktuellem Evidenzstand bei schwer psychisch Kranken die Psychotherapie
ein wichtiger Teil sein.
Aber es gibt auch gute Nachrichten: Zwei Modelle integrierter Versorgung könnten zukünftig
helfen, die beschriebenen Versorgungslücken zu schließen. Erstens könnte die bereits
beschlossene und in diesem Jahr startende ambulante Komplexbehandlung ein wichtiger
Baustein für eine besser integrierte und leitliniengerechte Versorgung werden [9]. Hier ist die regionale Vernetzung von niedergelassenen Psychiatern, Psychotherapeuten,
psychiatrischen Kliniken, psychiatrischer Pflege und Spezialtherapeuten vorgesehen.
Allerdings stehen die für den Erfolg dieser Netzwerke entscheidenden finanziellen
Anreizstrukturen noch nicht fest und bislang sind sie leider nur für eine kleine Gruppe
von Patient*innen mit sehr ausgeprägten Funktionsdefiziten (GAF < 50) vorgesehen.
Zweitens sollten auch Modelle leitliniengerechter ambulanter psychotherapeutischer
Follow-up-Behandlung durch die Krankenhäuser selber ermöglicht werden [10]. Aktuell sind die Abrechnungssysteme der psychiatrischen Institutsambulanzen leider
in den meisten Bundesländern so limitiert, dass damit eine leitliniengerechte psychotherapeutische
Versorgung kaum möglich ist. Um hier keine für den ambulanten Sektor bedrohlich erscheinende
Konkurrenz entstehen zu lassen, könnten diese Versorgungswege zeitbegrenzt auf Fälle
beschränkt sein, die gerade aus stationärer Behandlung entlassen wurden oder wo sich
eine stationäre Behandlung abwenden lässt und die im ambulanten Sektor keine zeitnahe
leitliniengerechte Weiterbehandlung finden. So gäbe es zugleich einen Antrieb für
die ambulanten Netzwerke, eine zeitnahe leitliniengerechte Versorgung anzubieten.
Das sind nämlich die entscheidenden Punkte bei den Modellen: Erstens, finanzielle
Anreize und Strukturen zu schaffen, in denen es nicht mehr in der Verantwortung der
schwerkranken Patient*innen ist, in Konkurrenz zu weniger schwer Betroffenen verzweifelt
nach Möglichkeiten für die eigene psychotherapeutische Behandlung zu suchen. Für die
Steuerung von leitliniengerechten, phasenadaptierten Behandlungsketten sollte das
Gesundheitssystems verantwortlich sein. Dazu gehört auch, die knappen Ressourcen wie
Psychotherapie dem Schweregrad der Erkrankung entsprechend zuzuweisen. Zweitens, systematisch
zu evaluieren, dass diese Angebote bei den Betroffenen ankommen und wie sie sich auf
die Outcomes auswirken. Und drittens fehlt bei den bisher angedachten Modellen eine
Einbindung der Hausärzt*innen, die immerhin die Hälfte der ambulanten Versorgung auch
bei schweren psychischen Krankheiten übernehmen [5]
[6].
Positiv betrachtet liegen in der Realisierung dieser evidenzbasierten Versorgungssequenzen
in integrierten Behandlungsnetzwerken mit besonderem Fokus auf der phasenadaptierten
Psychotherapie schwerkranker Patient*innen sowie deren systematischer Evaluation riesengroße
Potenziale. Durch die vernetzte und in den Anreizstrukturen evidenzorientiertere Routineversorgung
der Zukunft können bessere Outcomes erreicht, Chronifizierungen und Rezidiven vorgebeugt
und eine bessere Teilhabe ermöglicht werden.