Einordnung
Die Radiochemiker/Radiopharmazeuten des deutschsprachigen Raums sind im Verbund der
AGRR – der „Arbeitsgemeinschaft Radiochemie und Radiopharmazie“ – innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Nuklearmedizin organisiert. Die AGRR
setzt sich vorrangig aus Kolleginnen und Kollegen der D-A-CH-Länder zusammen, sodass
auf radiopharmazeutischer Seite eine Anbindung an die OGNMB und SGNM besteht. Sie
pflegen dort – auch mit zahlreichen Mitgliedern aus der Industrie – während der jährlichen
Arbeitstagungen einen intensiven Austausch, der über die Grenzen klassischer Vortragsveranstaltungen
hinausgeht und so zu einer engen Vernetzung beiträgt. Neben klassisch-fachlichen Fragen
bietet die AGRR eine Plattform zur Behandlung der vielen regulatorischen Probleme,
die sowohl die pharmazeutischen als auch die Strahlenschutz-bezogenen Herausforderungen
zur sicheren Versorgung der Nuklearmedizin mit anwendungsfertigen Radiopharmaka mit
sich bringen.
Fachliches
Vorrangige Aufgabe der Radiopharmazeuten war und ist die zuverlässige Versorgung der
großen, aber auch kleinen nuklearmedizinischen Einrichtungen mit Radiodiagnostika
und Radiotherapeutika. Gerade während des vergangenen Dezenniums war dies mit erheblichem
Aufwand verbunden, um die arzneimittelrechtlichen Voraussetzungen für die Eigenherstellung
von Radiopharmaka zu erfüllen. Dies umfasst sowohl die technische Ausstattung für
die GMP-gerechte Herstellung von Radiopharmaka inklusive deren Qualitätskontrollen
als auch die umfangreichen und zeitintensiven Dokumentationen innerhalb eines vorzuhaltenden
Qualitätsmanagementsystems und zur Erlangung von Herstellungserlaubnissen.
Die Herstellung sowohl zugelassener Produkte als auch neuer, innovativer Radiopharmaka,
die nach § 13 Abs. 2b des AMG hergestellt und angewandt werden, stehen manchem Patienten
als letzte Möglichkeit zur Verfügung. Dies erfordert auch bei den deutschen Pharmabehörden
– BfArM und Landesbehörden – ein verantwortungsvolles Augenmaß.
Neben der routinemäßigen Radiopharmaka-Herstellung spielten Entwicklungen zu entsprechenden
Methoden kontinuierlich eine wichtige Rolle in Form angewandter Forschung.
Die Entwicklungen von Radiotracern und potenziellen Radiotherapeutika wurden vor allem
von den universitären Zentren der Nuklearmedizin/forschenden Radiopharmazie, aber
auch den Forschungszentren in Heidelberg, Jülich und Rossendorf (und entsprechenden
Einrichtungen der D-A-CH-Länder) sowie mit einem speziellen Beitrag des Instituts
für Transurane der EU getragen. Die hervorragende internationale Stellung dieses Blocks
von Radiopharmazeuten der D-A-CH-Länder wurde in Kontinuität der vorherigen Jahre
gerade während der letzten Dekade sichtbar. Dies soll an wenigen Beispielen erläutert
werden:
Die Herausforderung lag und liegt in der Entwicklung von Radiotracer-/Radiotherapeutika-Paaren,
die den Kriterien der Theranostik genügen. Bereits in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren
hatte sich die Somatostatin-Rezeptor-Szintigrafie und -therapie auf Basis radiomarkierter
Octreotide als hochspezifische Substanzen für die Behandlung (nichtinvasive Bildgebung
und Endoradiotherapie) neuroendokriner Tumoren etabliert. Die Substanzgrundlage –
ein Neuropeptid – wurde überwiegend von D-A-CH-Radiopharmazeuten gelegt. Dies war,
nach der klassischen Radiojoddiagnostik und -therapie für Schilddrüsenerkrankungen,
der erste überzeugende Ansatz für die moderne Theranostik in der Nuklearmedizin.
Der große Fortschritt, der gegenwärtig zu einer neuen Bedeutung der Nuklearmedizin
führt, erfolgte im letzten Jahrzehnt durch die Entwicklung und beginnende klinische
Einführung einer neuen Klasse radiomarkierter niedermolekularer PSMA-Inhibitoren zur Diagnose und Therapie des Prostatakarzinoms, dem zweithäufigsten diagnostizierten
Krebs bei Männern (Inzidenz < = 100/100 000). Diese Glutaminsäure-Harnstoff-basierten
PSMA-Inhibitoren entsprechen überzeugend den Kriterien des theranostischen Einsatzes.
Nach ersten Entwicklungen in den USA wurde der Durchbruch von deutschen Radiopharmazeuten
(DKFZ und Universität Heidelberg) erzielt. Sie gelangten von einem Molekül, das ursprünglich
für die Anwendung im neuropsychiatrischen Bereich vorgesehen war, durch systematische
strukturelle Veränderungen auf der Basis von Arbeiten über Struktur-Aktivitäts-Beziehungen
zu anwendungsbereiten Substanzen. Dabei handelt es sich vorrangig um 68Ga-PSMA-11, 177Lu(90Y,225Ac)-PSMA-617, 18F-PSMA-1007 (DKFZ und Universität Heidelberg), aber auch Varianten wie PSMA I&T (TU
München).
In Zusammenarbeit mit Nuklearmedizinern und der pharmazeutischen Industrie ist es
gelungen, in den USA eine Zulassung einer ersten dieser Substanzen ([177Lu]Lu-PSMA-617, vipivotide tetraxetan) für die therapeutische Anwendung am Patienten
zu beantragen. Die Zulassung steht bevor. Die Markteinführungsstudie (Phase III, VISION
Trial) wurde erfolgreich abgeschlossen und im N Engl J Med veröffentlicht. Eine weitere
Substanz ([18F]PSMA-1007 (RADELUMIN)) wurde im Dezember 2021 in Frankreich zugelassen. Eine Übertragung
der Zulassung auf weitere europäische Länder erfolgt derzeit. Bereits in den Jahren
2020 und 2021 wurden [68Ga]Ga-PSMA-11 (DKFZ-Entwicklung) und [18F]DCFPyL (Johns-Hopkins-Entwicklung) in Australien bzw. in den USA zugelassen, PSMA-11
als Illucix Kit und DCFPyL als PYLARIFY. Diese Radioliganden haben bereits heute einen
bemerkenswerten Einfluss auf die klinische Behandlung des Prostatakarzinoms.
Eine weitere bedeutsame Radiotracer-Entwicklung zur Tumordiagnostik – und zukünftig
möglicherweise Tumortherapie -, deren Potenzial bisher noch nicht umfassend bewertet
ist, erfolgte an der Universität Heidelberg. Grundlage ist ein Inhibitor des Fibroblasten-Aktivierungsproteins (FAP), das auf aktivierten stromalen humanen Fibroblasten in Karzinomen hoch exprimiert
wird. Die entsprechenden DOTA-Chinolin-basierten PET-Tracer, z. B. [68Ga]Ga-FAPI-04 oder [18F]AlF-FAPI-74, zeigen eine hohe Aufnahme in einigen Tumorentitäten.
Die entsprechenden Entwicklungen zu beiden Substanzklassen – PSMA-Inhibitoren und
FAP-Inhibitoren – sind auf breites internationales Interesse gestoßen und von zahlreichen
Gruppen mit dem Versuch einer weiteren Optimierung aufgenommen worden.
Direkte anwendungsbezogene Entwicklungen erfolgten zu einer breiten Palette von Target-spezifischen
PET-Radiotracern/Radiopharmaka – typische Beispiele seien genannt:
-
Enzym-Inhibitoren im Kontext der Tumoradressierung (Universität Münster, HZ Dresden-Rossendorf),
-
ZNS-Rezeptorsysteme im Kontext neurodegenerativer Erkrankungen (ETH Zürich, HZ Dresden-Rossendorf/Leipzig,
FZ Jülich, Med. Universität Wien),
-
Rezeptorsysteme für die Tumoradressierung (TU München, Med. Universität Wien, HZ Dresden-Rossendorf/Leipzig,
Uni Erlangen, ETH Zürich) oder
-
bakterielle Infektionen/Entzündungen (MHH Hannover, HZ Dresden-Rossendorf).
Mit all diesen Untersuchungen verbunden waren Arbeiten zur Radiopharmakologie und
damit der weite Bereich tierexperimenteller Arbeiten sowie In-vitro-Untersuchungen
aller Art. Insgesamt wurde die moderne Biochemie nun überall ein integraler Bestandteil
der Entwicklungsarbeiten.
Die bei der Entwicklung neuer radioaktiver Arzneimittel wichtige Fachrichtung Radiochemie/Radiopharmazeutische
Chemie dient der Entwicklung von Werkzeugen, um die spätere Radiosynthese des Radiopharmakons
möglichst einfach und hocheffizient zu gestalten. Dies umfasst nuklearchemische Arbeiten
zu „alternativen“ Radionukliden, vorrangig für die Therapie (Paul-Scherrer-Institut
Villigen, FZ Jülich, Universität Mainz). Das sind weiterhin Arbeiten zur Entwicklung
von Chelatoren für die stabile Bindung von Radiometallen wie 64Cu, 89Zr, 22xRa, 225Ac u. a., die sowohl in Diagnose als auch Therapie eingesetzt werden (HZ Dresden-Rossendorf,
TU München, ETH Zürich). Ein Fokus liegt derzeit auf dem Einsatz kurzlebiger Alpha-Strahler.
Markierungstechniken (beispielsweise zur schonenden Einführung von n.c.a. [18F]Fluorid (FZ Jülich) in komplexen Molekülen oder die Nutzung von 3 + 2-Cycloadditionen
(Nutzung für eine breite Substanzpalette (viele Arbeitsgruppen)) wurden kontinuierlich
weiterentwickelt.
Zahlreiche Untersuchungen dienten der Herstellung und tierexperimentellen Nutzung von Radiotracern, deren Einsatz zunächst vor allem im Bereich der medizinischen Forschung liegt. Der
Vorlaufforschung zu zahlreichen physiologischen Fragestellungen, u. a. für die Krebsforschung,
dient die Herstellung einer Vielzahl von (meist PET-)Radiotracern für den tierexperimentellen
Einsatz (Universität Tübingen, Universität Münster, HZ Dresden-Rossendorf).
Die Anwendbarkeit von Nanopartikeln als Träger für Radionuklide, aber auch von MR-aktiven
Nukliden wurde in verschiedenen Arbeitsgruppen für diverse Anwendungen (Universität
Heidelberg/Mannheim, FZ Jülich, HZ Dresden-Rossendorf, Universität Mainz) untersucht.
Infolge der mangelnden Verfügbarkeit von Teilchenbeschleunigern und Forschungsreaktoren für die
Radionuklidgewinnung kann dieser Teil der nuklearchemischen Arbeiten speziell in Deutschland und Österreich
nur ungenügend vorangetrieben werden. Dies kann sich künftig zu einem immer größeren
Problem auswachsen, vor allem wenn es die Nutzung bisher wenig genutzter Radionuklide
erforderlich macht.
Sonstige Aktivitäten
Gremienarbeit
Radiopharmazeuten der D-A-CH-Länder sind – gesteuert über die AGRR – in de facto allen
bedeutenden internationalen Gremien tätig. Dies betrifft das „Board of Directors“
der SRS und der Society of Radiopharmaceutical Sciences, deren Vorsitz im letzten
Jahrzehnt von einem unserer Mitglieder ausgeübt wurde; daneben waren 2 unserer AGRR-Mitglieder
auch Mitglied dieses Gremiums der internationalen Dachorganisation. AGRR-Mitglieder
wirken seit Langem in verschiedenen Komitees der EANM mit, so im „Radiopharmacy Committee“;
beispielsweise wird der gegenwärtige Vorsitz dieses Gremiums von einem AGRR-Mitglied
ausgeübt. Eine Mitwirkung erfolgt ebenso im „Drug Development Committee“. Auch die
Europäische Arzneibuchkommission macht sich das Wissen von AGRR-Mitgliedern zunutze.
Ausbildung
Eng verknüpft mit der Gremienarbeit sind die Aktivitäten zur Ausbildung im Rahmen
des „Postgraduate certificate course in Radiopharmaceutical Chemistry/Radiopharmacy”
(ETH-CAS-Kurs) für bereits erfahrene Radiopharmazeuten, der von der ETH Zürich organisiert
wird. Eines von 3 Ausbildungsmodulen (Radiopharmacology and Clinical Radiopharmacy)
wird von der Universität Leipzig getragen; nicht nur an den Modulen in Leipzig, sondern
auch in Zürich (Radiopharmaceutical Chemistry) wirken Dozenten aus dem Bereich der
DGN mit.
Unabhängig von diesem Postgraduiertenkurs, der durch die EANM anerkannt wird, wird
an mehreren deutschen Universitäten im Rahmen von Vorlesungen und Praktika eine Grundlagenausbildung
in radiopharmazeutischer Chemie und Radiopharmazie angeboten.
Veranstaltungen
Im Jahr 2017 konnte die wichtigste, 2-jährig veranstaltete radiopharmazeutische Tagung,
die ISRS (International Symposium on Radiopharmaceutical Sciences), in Dresden ausgerichtet
werden. Das European Symposium on Radiopharmaceuticals and Radiopharmacy (ESRR) wurde
2016 in Salzburg von den österreichischen Kollegen ausgerichtet. Die AGRR hat es vermocht,
eine nun schon nahezu 3 Jahrzehnte bestehende Arbeitstagung zu organisieren, die an
geografisch wechselnden Standorten des D-A-CH-Bereichs stattfindet. Leider konnten,
bedingt durch die Corona-Pandemie, die Arbeitstagungen 2020 und 2021 nicht stattfinden.
Im Jahr 2022 wird die nächste AGRR-Tagung durch die Tübinger Kollegen ausgerichtet
werden.
Ausbau der Infrastruktur
Die o. g. Erfordernisse zum Erfüllen von behördlichen Auflagen; neue Erfordernisse
des Tierschutzes und Notwendigkeiten zur Anpassung der Forschungsinfrastruktur haben
deutschlandweit zu einem erheblichen Ausbau der infrastrukturellen Möglichkeiten geführt.
Neben vielen nuklearmedizinischen Kliniken wurden große Investitionen vor allem an
den Standorten Erlangen, Hannover, Jülich, München, Dresden-Rossendorf/Leipzig, Münster
und Tübingen getätigt. Dies kommt sowohl der täglichen Routineherstellung von vorrangig
PET-Radiopharmaka als auch den Möglichkeiten einer auf zukünftige Aufgaben ausgerichteten
Forschung zugute.
Zusammenarbeit mit der Industrie
Die in Deutschland produzierende radiopharmazeutische Industrie hat sich während des
letzten Jahrzehnts spürbar entwickelt – es haben sich nicht nur die Zahl der Unternehmen,
sondern sowohl deren Produktpalette als auch Umsatz vergrößert. Diese Entwicklung
korreliert unmittelbar mit der Ausbildung junger Fachkollegen und mit der fruchtbaren
Forschung im Rahmen des Fachgebietes. So ist es gelungen, die durch den Ausstieg großer
Hersteller entstandenen Lücken nicht nur zu füllen, sondern auch durch innovative
Produkte zu ergänzen.
Jörg Steinbach und Klaus Kopka, Dresden-Rossendorf