Transfusionsmedizin 2022; 12(02): 88-94
DOI: 10.1055/a-1761-4441
Übersicht

Differenzialdiagnose der Erythrozytose – Ursachen und klinische Bedeutung

Differential Diagnosis of Erythrocytosis – Background and Clinical Relevance
Kai Wille
Universitätsklinikum für Hämatologie, Onkologie, Gerinnungsstörungen und Palliativmedizin, Johannes-Wesling-Klinikum in Minden
,
Parvis Sadjadian
Universitätsklinikum für Hämatologie, Onkologie, Gerinnungsstörungen und Palliativmedizin, Johannes-Wesling-Klinikum in Minden
,
Martin Griesshammer
Universitätsklinikum für Hämatologie, Onkologie, Gerinnungsstörungen und Palliativmedizin, Johannes-Wesling-Klinikum in Minden
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Zusammenfassung

Aufgrund ihres seltenen Auftretens stellt die Erythrozytose häufig eine Herausforderung für die behandelnden Ärzte dar. Die Erythropoese (= Produktion von Erythrozyten) ist im Knochenmark angesiedelt, und das Hormon Erythropoetin (EPO) übernimmt die Kontrolle über ihre Regulation. Daher ist die Messung von EPO im Serum einer der wichtigsten diagnostischen Schritte. Bei der Erythrozytose muss zwischen angeborenen und erworbenen Ursachen unterschieden werden. Darüber hinaus gibt es primäre und sekundäre Formen. Angeborene Ursachen von Erythrozytosen treten sehr selten auf, werden meist in jungen Jahren diagnostiziert und sollten in spezialisierten Zentren behandelt werden. Die Polycythaemia vera (PV), eine klonale Störung und eine der wichtigsten myeloproliferativen Neoplasien (neben der essenziellen Thrombozythämie und der primären Myelofibrose), stellt die häufigste primär erworbene Ursache für Erythrozytosen dar. Klinisch treten eine erhöhte Thrombophilie und mikrovaskuläre Störungen auf. Die Initialtherapie bei Patienten mit PV umfasst die Verabreichung von Aspirin und Aderlass-Therapie. Sekundär erworbene Formen der Erythrozytose treten vor allem aufgrund einer durch Nikotinabusus oder chronische Herz- und Lungenerkrankungen ausgelösten Hypoxie auf. Als weitere Differenzialdiagnosen müssen eine tumorbedingte EPO-Produktion, Nierenerkrankungen oder eine exogene Zufuhr von EPO (= EPO-Doping) in Betracht gezogen werden.

Abstract

Due to its rare incidence, erythrocytosis frequently represents a challenge for the treating doctors. The erythropoiesis (= production of erythrocytes) is located in the bone marrow, and the hormone erythropoietin (EPO) takes control in its regulation. Therefore, measurement of EPO in serum is one of the main diagnostic steps. In erythrocytosis, congenital causes have to be distinguished from acquired ones. Furthermore, there are primary and secondary forms. Congenital causes of erythrocytoses occur very infrequently, are mainly diagnosed in young age and should be treated in specialized centers. Polycythemia vera (PV), a clonal disorder and one of the main myeloproliferative neoplasms (beside essential thrombocythemia and primary myelofibrosis), represents the most frequent primary acquired cause of erythrocytosis. Clinically, increased thrombophilia and microvascular disturbance occur. The first-line treatment in patients with PV includes administration of aspirin and phlebotomies. Secondary acquired forms of erythrocytosis mainly occur due to hypoxia triggered by nicotine abuse or chronic heart and lung diseases. Regarding other differential diagnoses, a cancer-associated EPO production, kidney diseases or exogenous supply with EPO (= EPO doping) have to be considered.

Kernaussagen
  • Pathologische Steigerungen der Erythrozytenzahl sind eher unterschätzte Auffälligkeiten im Rahmen von Blutbildkontrollen, die aber bei der Abklärung häufig zu Unsicherheiten führen.

  • Eine Erythrozytose ist meist ein asymptomatischer Zufallsbefund. Die Bestimmung des EPO-Spiegels ist ein essenzieller diagnostischer Schritt.

  • Kongenitale Erythrozytosen sind sehr selten und werden an spezialisierten Zentren betreut.

  • Die wichtigste primäre Erythrozytose ist die Polycythaemia vera, die vor allem mit einer Thromboseneigung vergesellschaftet ist und zu Mikrozirkulationsstörungen führt.

  • Die sekundären erworbenen Erythrozytosen sind meist ursächlich mit einer zentralen Hypoxie vergesellschaftet. Eine tumorassoziierte EPO-Produktion sollte differenzialdiagnostisch ausgeschlossen werden.

  • Differenzialdiagnostisch muss an eine Veränderung des Plasmavolumens als Ursache für die Erythrozytose gedacht werden – sog. relative Erythrozytose.



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Article published online:
12 May 2022

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