Das Ritual ist eine nach bestimmten Regeln ablaufende, meist formelle und oft feierlich-festliche,
nahezu immer in Gemeinschaft erfolgende Handlung mit meist zusätzlichem Symbolgehalt:
Die Handlung hat eine Bedeutung, d. h. sie steht für etwas, das sie selbst nicht ist.
Das Wort leitet sich vom lateinischen „Ritus“ ab, das in erster Linie religiöse Handlungen
(„Zeremonien“, d. h. „förmliche Akte“) bezeichnet, im übertragenen allgemeineren Sinne
aber auch „Brauch“, „Sitte“ oder „Gewohnheit“ meinen kann. Immer geht es um Handeln,
dem zudem ein bestimmter (meist nicht unmittelbar offensichtlicher) Sinn zugeordnet
ist. Weltliche Rituale sind der Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen,
vor allem der Medizin, Psychologie und Sozialwissenschaften. Rituale bauen auf psychologischen
Mechanismen auf, werden jedoch kulturell tradiert [12]. Manche Rituale gelten als Kulturgut.
Für viele heutige Menschen scheinen Rituale eher einer vergangenen Zeit anzugehören:
alte sinnlose Zöpfe, die abgeschnitten gehören, weil sie nicht mehr in die aufgeklärte
moderne Welt von Smartphones, Computern und Internet passen. Alles geht immer, 24/7
an 365 Tagen – Rituale scheinen in unserer schnelllebigen, auf ständige Neuigkeiten
ausgerichteten Zeit keinen Platz mehr zu haben [7]. Das zuweilen beklagte Verschwinden von Ritualen (von Anstand und Höflichkeit über
Tischgebete und Gottesdienstbesuche bis zum Respekt von Autoritäten und Institutionen)
wird von anderen als Fortschritt begrüßt, die in Ritualen eine Einschränkung ihrer
persönlichen Freiheit sehen wie in anderen Konventionen auch.
„Rituale, die überall im menschlichen Leben vorkommen und in vielen religiösen und
kulturellen Traditionen eine zentrale Rolle spielen, werfen Fragen auf. Eine wichtige
Frage betrifft den Wert solcher Wiederholungen nach festen Regeln – z. B. beim Gebet,
im zwischenmenschlichen Umgang, manchmal sogar beim Essen und Trinken. Warum sollte
man beispielsweise beim Gebet nicht den direkten Ausdruck religiöser Gedanken und
Gefühle fördern – sozusagen aus dem Herzen heraus und nicht nach einer bestimmten
festen Vorschrift? Manchmal wird suggeriert, und es ist verlockend, anzunehmen, dass
die Reglementierung einer solchen Äußerung sie einschränkt und letztlich erniedrigt.
Es ist schwierig, in einer solchen scheinbar unnötigen Regulierung des Ausdrucks menschlicher
Angelegenheiten einen Wert zu sehen.“, kann man in der Concise Routledge Encyclopedia of Philosophy (S. 774) dazu nachlesen.[
1
] Und weiter heißt es dort: „Aus philosophischer Sicht werfen Rituale Fragen auf,
denn aus keinem der gängigen Ansätze in der Ethik lassen sich der moralische Wert
von Ritualen zwanglos ableiten oder gar deren wesentliche Bedeutung für moralisches
Handeln einsichtig machen. Aber in genau diesen Zusammenhängen werden Rituale in Gemeinschaften
und von Praktikern gesehen.“ Wie es scheint, passen Rituale weder in die heutige Lebenspraxis
noch lässt sich ihre Ausübung theoretisch „rational rekonstruieren“ (wie man dies
heute nennt). Warum also gibt es (noch) Rituale?
Kulturwissenschaften
In Sozial- und Kulturwissenschaften wie der Soziologie, Ethnologie und Kulturanthropologie werden Rituale beschrieben, und es überwiegt die Ansicht, dass sie zum Funktionieren
menschlicher Gemeinschaften beizutragen scheinen. Laufen gemeinschaftliche Handlungen
als Ritual ab, dann sind Anfang, Durchführung und Ende garantiert, der Ablauf ungestört,
und der Zweck der Handlung wird – z. B. die Aufnahme in eine Gemeinschaft, die Bewältigung
einer Auseinandersetzung zwischen Mitgliedern einer Gemeinschaft, gemeinsames Feiern
oder Bewältigen eines Problems – mit hoher Wahrscheinlichkeit erfüllt. Begrüßungs-
und Trennungsrituale erleichtern und vereinfachen Begegnungen, Essens- und Reinigungsrituale
erleichtern und vereinfachen das Miteinander; Solidaritäts- und Übergangsrituale (also
z. B. Geburtstags- und Hochzeitsfeste) spielen eine zentrale Rolle für die Entstehung
und Erhaltung zugrunde liegender sozialer Bindungen. Solche Riten haben eine identitäts-
oder sinnstiftende Funktion und dienen damit dem Gruppenzusammenhalt oder der Rollenzuweisung
und damit Differenzierung innerhalb der Gruppe; Vergebungsriten (etwa zur Wiederaufnahme
eines Mitglieds in die Gemeinschaft oder zur Versöhnung verfeindeter Gruppenmitglieder)
oder Kampfriten (von Kampfsport bis zum Duell) haben letztlich den gleichen Zweck
und bieten die Möglichkeit einer geregelten Austragung von Auseinandersetzungen (daher
gibt es Rituale bei Gericht). Staatsriten (Krönung von Monarchen, Vereidigung von
Kanzlern und Präsidenten, Fahnenzeremonielle der Streitkräfte) dienen der Darstellung
und Legitimation staatlicher Macht.
Der US-amerikanische Anthropologe Roy A. Rappaport (1926–1997) formulierte schon vor
gut 50 Jahren eine Art kybernetisches Modell der Rituale [13]. Bei einem Stamm auf Neuguinea (die Tsembaga) untersuchte Rappaport zunächst eingehend
Zyklen gesellschaftlicher Verhaltensabläufe, bei denen durch Rituale bestimmte Stellgrößen
(verfügbare Nahrungsmittel; Einwohnerzahl pro Fläche; kriegerische Auseinandersetzungen
mit Nachbarstämmen) nach Art eines Thermostaten reguliert werden. „Der rituelle Zyklus
wirkt somit als Homöostat im lokalen Subsystem [dem Stamm von etwa 200 Menschen],
indem er Variablen wie die Größe der Schweinepopulation, die Arbeit der Frauen, die
Länge der Brachezeiten und andere Variablen innerhalb lebensfähiger Bereiche hält;
er wirkt als Homöostat im [größeren] regionalen Subsystem, indem er die Häufigkeit
von Kriegen reguliert und gleichzeitig periodisch die Expansion ökologisch kompetenterer
Gruppen auf Kosten der weniger kompetenten zulässt“[
2
], ohne dass hierdurch die Bevölkerungszahlen zu stark dezimiert würden [13].
Psychologie
In der Psychologie bezeichnet ein Ritus den stets in derselben Weise wiederkehrenden
Ablauf eines gelernten Tuns. Private Routinen für Aufstehen, Essenszeiten, Arbeiten,
Mittagsschlaf, Freizeitgestaltung bis hin zum Einschlafen erleichtern vielen Menschen
die Bewältigung ihres Alltags. Was ritualisiert ist, geschieht „automatisch“, d. h.
ohne großen gedanklichen Aufwand: „Man macht das halt so.“ Vielfältige und meist ebenso
triviale wie unbemerkte Rituale gibt es beim Essen und Trinken. Sie reichen von der
Art wie wir täglich für uns allein Tee oder Kaffee zubereiten bis hin zu Festmahlzeiten
im Freundeskreis (Geburtstag) oder Kreis der Großfamilie (Thanksgiving oder Weihnachten).
Solche Verhaltensweisen finden sich in verschiedenen Zeiträumen, Kulturen und Gesellschaftsschichten
[14]. Wo steht eigentlich, dass man Kekse mit der Schokoladenseite nach oben isst oder
ein Stück Kuchen von der Spitze her beginned? Warum fängt niemand an der breiten Seite
an (Abb. 1)? Der Genuss vieler Speisen scheint mit den sie begleitenden Ritualen gesteigert
zu werden, wofür es auch einige empirische Evidenz gibt. Viele essensbezogene Rituale
erscheinen willkürlich [23].
Abb. 1 Rituale fallen uns meist gar nicht auf, weil wir sie für selbstverständlich nehmen.
Wer sagt eigentlich, dass man ein Stück Kuchen von vorne nach hinten isst, und stellt
man überhaupt „vorne“ und „hinten“ fest? Quelle: ©Autor
Nach Hobson und Mitarbeitern [9] haben Rituale eine regulierende Funktion im Hinblick auf Emotionen, Handlungsziele
und soziale Bindungsprozesse. Diese 3 Funktionen können bei einzelnen Ritualen überlappen,
können jedoch zumindest auch getrennt in den Blick genommen werden. Rituale können
als Mechanismen verstanden werden, die Menschen verwenden, um mit ihren geistigen
Ressourcen zu haushalten [18]. Wenn im Laufe der Evolution des Menschen seine Psychologie eine immer größere Rolle
spielte, seine psychologischen „Ressourcen“ nicht anders als materielle Ressourcen
wie Nahrung oder Energie zu werten sind, dann könnten Rituale zur Kultivierung und
zur Steuerung dieser psychologischen Ressourcen beitragen.
Medizin
In der Medizin kommen Rituale sowohl als Problem als auch als Problemlösung vor. Zwangshandlungen,
die von einfachen Bewegungen bis zu Handlungsabfolgen von hoher Komplexität reichen
können, werden als Zwangsrituale bezeichnet, die im Zusammenhang mit Zwangsstörungen
von den Betroffenen gegen ihren Willen praktiziert werden. Werden diese Rituale vom
Patienten nicht befolgt, entsteht Angst. Mit den Handlungen erlangt der Patient damit
ein gewisses Maß an Kontrolle über seine Emotionen, was verstärkend wirkt. So erklärt
sich beispielsweise, warum ein Waschzwang so weit gehen kann, dass die Haut von Händen
und Unterarmen dermatologisch versorgt werden muss. Umgekehrt ist die Medizin voller
Rituale [1]: Die körperliche Untersuchung erfolgt nach einem bestimmten Ritual. Und viele Therapien
werden nach ganz bestimmten Ritualen durchgeführt – von der Chirurgie bis zur Psychotherapie.
Wenn nur das Ritual wirkt, spricht man von einem Placeboeffekt [29].
Einschlafriten können gegen Schlaflosigkeit helfen: Gewöhnt man sich an, vor dem Zubettgehen
immer dieselben Handlungen in derselben Reihenfolge und in derselben Art und Weise
zu tun (führt man also einen „Gute-Nacht-Ritus“ oder „Schlafritus“ ein), fällt das
Einschlafen leichter – auch ohne Schlaftablette.
Religiöse Rituale
In den verschiedensten Religionsgemeinschaften der Welt sind Rituale fester Bestandteil religiöser Handlungen (Gebete, Gesänge,
Gottesdienste und andere kultische Handlungen wie Segnungen oder die Taufe, das Feiern
religiöser Feste wie beispielsweise Weihnachten). Religiöse Rituale unterscheiden
sich von anderen (weltlichen) Ritualen durch einen Bedeutungsüberschuss
[26]: Das Ritual steht nicht nur für sich selbst (wie Verbeugung für Unterwerfung, Waschen
für Sauberkeit, Essen und Tanz für Gemeinschaft), sondern es steht als Symbol für
religiöse Inhalte. Vielfach wurden und werden religiöse Rituale von besonders qualifizierten
Mitgliedern der Religionsgemeinschaft („Priester“) ausgeführt oder zumindest organisiert
und überwacht.
Religiöse Rituale wirken umso besser, je numinoser, d. h. je unverständlicher bzw.
unbegreiflicher sie sind, und je mehr Ehrfurcht (Vertrauen/Größe und Angst/Kleinheit
zugleich) sie hervorrufen, wie man mittlerweile sogar experimentell zeigen konnte:
„Die Überzeugungen, die rituellen Handlungen einen Sinn geben, wirken sich in unterschiedlicher
Weise auf die Fähigkeit von Ritualen aus, ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen. Rituale,
die nicht materielle, nicht falsifizierbare Überzeugungen unterstützen, scheinen den
Gruppenzusammenhalt am effektivsten zu fördern. […] Darüber hinaus erzeugen religiöse
Rituale, die sich an ein übernatürliches Wesen richten, ein Gefühl der Numinosität,
das die Ausführenden weltlicher Rituale nicht erleben. […] Da säkulare Rituale dieses
Gefühl der Numinosität nicht hervorrufen und die Ideologie, die säkularen Ritualen Bedeutung verleiht, durch Erfahrung
bewertet werden kann [d. h. empirisch falsch sein kann], ist die Fähigkeit dieser
[weltlichen] Rituale, Vertrauen und Zusammenarbeit zu fördern, vergänglich“[
3
]
[21]. Und an anderer Stelle [22] wird ergänzt: „Die Fähigkeit religiöser Rituale, emotionale Erfahrungen hervorzurufen,
die mit dauerhaften übernatürlichen Konzepten und Symbolen in Verbindung gebracht
werden können, unterscheidet sie von […] weltlichen Ritualen und bildet den Kern ihrer
Effizienz bei der Förderung und Aufrechterhaltung langfristiger Gruppenkooperation
und -bindung.“[
4
]
Religion hat wahrscheinlich immer dazu gedient, die Einheit ihrer Anhänger zu stärken.
Man ordnet sich freiwillig einer höheren Macht unter, und wenn alle das tun, dann
hat dieser Glaube ganz offensichtlich Wirkungen in der realen Welt. Leider hat dieser
Gruppenzusammenhalt auch eine „dunkle Seite“ [24]. Der größere interne Zusammenhalt geht mit mehr Vorurteilen gegenüber anderen Gruppen
und wahrscheinlich auch mit größeren Gewinnchancen bei Auseinandersetzungen mit diesen
einher. Der adaptive Vorteil der Religion macht ihre Mitglieder bei Konflikten zwischen
Gruppen erfolgreicher. Für jedes einzelne Mitglied ist die Fähigkeit der eigenen Gruppen,
gegen andere Gruppen erfolgreich zu konkurrieren, ein wesentlicher Überlebensfaktor.
Der hier zitierte Autor [21] wird in diesem Zusammenhang sehr persönlich und schildert seine Erfahrung als junger
Mensch: „Ich war 15 Jahre alt, als ich zum ersten Mal die Altstadt von Jerusalem besuchte,
die 2000 Jahre alten Überreste des Zweiten Tempels, der so genannten Westmauer. Vielleicht
war dies ein Vorgeschmack auf mein späteres Leben als Anthropologe, aber bei meinem
ersten Blick auf die alten Steine beeindruckten mich die Menschen, die am Fuße des
Bauwerks standen, mehr als die Mauer selbst. Die Frauen standen der Mauer zugewandt
in der offenen Sonne und trugen langärmelige Hemden, Kopfbedeckungen und schwere Röcke,
die über den Boden kratzten. Die Männer mit ihren dichten Bärten, langen schwarzen
Mänteln und Pelzmützen schienen auch die Sommerhitze zu vergessen, während sie, sich
inbrünstig wiegend, Gott ein Loblied sangen. Ich wandte mich an einen Freund: ,Warum
sollte sich jemand bei klarem Verstand für den Winter in Neuengland kleiden, um den
ganzen Nachmittag in der Wüstenhitze zu beten?‘“
Mit Bezug auf seine viel später als erwachsener Anthropologe formulierten Ausführungen
zu den Risiken und Nebenwirkungen von religiös motiviertem Zusammenhalt, sagt er dann:
„Dies scheint heute so wahr zu sein wie eh und je, und nirgendwo wird dies deutlicher
als in der Region, die ich als 15-jähriger Junge besucht habe – und in der ich mich
gerade befinde, während ich diese Zeilen schreibe. Während ich meine Feldforschung
im Zentrum dieses Kriegsgebiets durchführe, hoffe ich, dass wir durch die Anerkennung
der Tiefe des religiösen Bedürfnisses in der menschlichen Psyche und durch das Verständnis
dieser mächtigen Anpassung lernen können, wie wir Kooperation statt Konflikt fördern
können“[
5
]
[21].
Die ungünstigen Auswirkungen von Ritualen sind damit keineswegs erschöpfend behandelt.
Aus der Psychologie ist längst bekannt, dass sie auch zu Starrheit, Konservativismus,
sinnlosem Festhalten an nicht mehr zeitgemäßen Gedanken („Kadavergehorsam“) sowie
zu verminderter Kreativität führen können [6]. Insbesondere religiöse Rituale können Kompromisse behindern [2]. Das muss jedoch nicht so sein, wie die nächsten Abschnitte zeigen sollen.
Kinder
Rituale geben insbesondere Kindern Geborgenheit und Sicherheit. Regelmäßige Wiederholungen
werden als Verlässlichkeit erlebt, zeitliche Struktur reduziert Angst, denn die Welt
wird dadurch vorhersagbar. Zudem erleichtert Rhythmisierung viele Tätigkeiten. Kinder
lernen Rituale (wie alles!) sehr rasch, was u. a. auch Vorfreude (z. B. auf Feste)
erst ermöglicht. Bei der institutionellen Betreuung von Kindern, beispielsweise in
der Kita, erleichtern Abschiedsrituale beim morgendlichen Bringen die Trennung von
Mutter oder Vater. Stuhlkreise zu Beginn, mit einem Sinnspruch oder Lied, geben Raum
zum Ankommen, bieten Möglichkeiten des strukturierten Austausches und für Absprachen
bezüglich der Gestaltung des Tages. Kinder lernen, dass die Zeit in der Gemeinschaft
etwas Besonderes ist. Aufräumrituale (z. B. Glöckchen oder bestimmtes Lied) bereiten
rechtzeitig auf das Spielende vor und vermeiden ein abruptes Abbrechen der Spielhandlung.
Rituale vor der Mittagsruhe sorgen für Entspannung und Geborgenheit. Geschichten,
Lieder oder Entspannungstechniken leiten vom aufregenden Spielen in eine ruhige, entspannende
Phase über. Waschrituale sorgen nicht zuletzt in Zeiten von Corona nicht nur für Sauberkeit,
sondern auch für Hygiene: Händewaschlieder helfen Kindern dabei, 30 Sekunden beim
Wasserhahn durchzuhalten. Auch Eltern und Erzieherinnen schätzen Rituale, weil sie
den Kindern sichtbar guttun. Rituale geben damit nicht nur Kindern Halt, sondern sorgen
auch für Eltern und Erzieher für einen entspanntes Miteinander.
Über den Zusammenhang von Koordination und Kooperation wurde an dieser Stelle vor
4 Jahren eingehend berichtet [25], sodass ich mich hier kurzfassen kann. Menschen passen ihre Bewegungen einander
automatisch an, was durch Rituale noch gefördert werden kann. Solch koordiniertes
Bewegen bildet die Grundlage für höhere soziale Kognition, einschließlich Empathie
und Perspektivenübernahme und begünstigt damit soziale Interaktionen. Was in der Kindheit
mit Bewegungsspielen und spielerischen Ritualen beginnt, die motorische Abstimmung
mit anderen verlangen, wandelt sich in der Ontogenese bis hin zum Erwachsenenalter
in vielerlei zwischenmenschliche positive prosoziale Effekte. Interessanterweise ist
das alles für die Kindheit recht gut untersucht, nicht jedoch für das Jugendalter.
Was bei jungen Menschen während der Adoleszenz eine gesunde psychosoziale Entwicklung
fördert, ist relativ wenig untersucht. Hier besteht also Nachholbedarf [15]. Denn es ist keineswegs so, dass es im Jugendalter keine Rituale gibt. Es scheint
vielmehr so, als überließen wir diesen Bereich den monetären Interessen einer boomenden
Popkultur-Industrie, deren Ziel ganz offensichtlich nicht in der Förderung von Bildung
sowie geistiger und körperlicher Gesundheit und emotional-sozialer Reife besteht.
Rituale wirken
Rituale haben je nach ihrem Inhalt, Kontext und zeitlicher Anwendungscharakteristik
(mehrfach täglich bis alle 10 Jahre) unterschiedliche Wirkungen. Dass sie Wirkungen
haben, ist unbestritten, und dass viele dieser Wirkungen günstig für uns sind, ist
ebenfalls unbestritten. Betrachten wir abschließend einige neuere Studien hierzu.
Selbstkontrolle. Das Ausführen ritualisierter Handlungen kann das subjektive Gefühl der Selbstdisziplin
verstärken, sodass Rituale zur Verbesserung der Kontrolle über das eigene Verhalten
genutzt werden können. Hierzu führten Tian und Mitarbeiter [27] 6 Experimente durch. Ein erstes Feldexperiment zeigte, dass die Durchführung eines
Rituals vor dem Essen über einen Zeitraum von 5 Tagen den Teilnehmern half, die Kalorienaufnahme
zu reduzieren. Ein zweites Experiment zeigte, dass die Assoziation eines Rituals mit
gesundem Essverhalten die Wahrscheinlichkeit erhöhte, bei einer anschließenden Entscheidung
gesunde Lebensmittel auszuwählen. Dieser positive Einfluss von Ritualen auf die richtige
Auswahl gesunder Lebensmittel wurde auch beobachtet, wenn das Ritual vor der Auswahl
stattfand, also nicht in das Essen integriert war und wenn das Ritual nicht als solches
bezeichnet wurde, wie weitere Experimente zeigten. Schließlich konnte nachgewiesen
werden, dass der Mechanismus des Effekts tatsächlich über vermehrte Selbstkontrolle
bei entsprechenden Zielkonflikten (Schokoladeneis oder Salat?) vermittelt ist. Liegen
keine solchen Zielkonflikte vor (und braucht es daher auch keine Selbstkontrolle),
haben Rituale auch keinen Effekt. Man konnte mittlerweile sogar experimentell an 331
Teilnehmern zeigen, dass Rituale zur Selbstkontrolle einen positiven Effekt auf die
Adhärenz bei Maßnahmen zur Verhinderung von Ansteckungen mit COVID-19 haben [17].
Rituale können Angst und Stress reduzieren. 180 Studenten wurden zunächst entweder einer Stressbedingung ausgesetzt oder nicht
(Kontrollbedingung) und wurden anschließend entweder kognitiv belastet, konnten ungerichtete
Bewegungen ausführen, oder beides tun (Bewegung und kognitive Belastung) oder ein
Ritual ausführen oder gar nichts tun (Kontrolle). Wie sich zeigte, hatte das Ritual
nicht den erwarteten direkten vermindernden Einfluss auf Angst und Stress. Es wurde
jedoch festgestellt, dass induzierter Stress die anschließenden repetitiven Bewegungen
der Teilnehmer verstärkte, was wiederum die physiologische Erregung reduzierte. Der
Mechanismus der Angstreduktion durch Rituale besteht nach diesen Experimenten also
eher darin, dass sie repetitives Bewegen beinhalten und diese das Erregungsniveau
senkt [11].
Rituale bewirken tatsächlich die Förderung von Kooperation (und können leider auch die Vorurteile gegenüber „den Anderen“ verstärken), wie mittlerweile
sogar experimentell nachgewiesen werden konnte [9]. Hierzu wurden neue Rituale – willkürliche Hand- und Körpergesten, die in stereotyper
und wiederholter Weise ausgeführt werden mussten – in 4 Experimenten eingesetzt. Gesunde
Probanden übten neue Rituale eine Woche lang zu Hause (Experimente 1, 2 und 4) oder
einmal im Labor (Experiment 3) nachdem sie zuvor in „In-Gruppen“ und „Out-Gruppen“
eingeteilt worden waren. Man wollte auf diese Weise untersuchen, ob das Ausführen
von Ritualen tatsächlich zu mehr Gruppenzusammenhalt (In-Gruppe) und mehr Vorurteile
(gegenüber der Out-Gruppe) führt. Die Ergebnisse zeigten, dass Rituale tatsächlich
nur bei täglicher Wiederholung und wenn sie aufwändig genug sind, wirken.
Eine weitere Studie untersuchte die Auswirkungen von 9 natürlich vorkommenden Ritualen
auf prosoziales Verhalten, gemessen als Einstellungen (gegenüber anderen Ritualteilnehmern) und Entscheidungen in einem Spiel um öffentliche Güter. Die 9 Rituale unterschieden sich im Grad der
Synchronizität und im Grad des religiösen Bedeutungsüberschusses. Tatsächlich waren
Rituale bei der Förderung prosozialer Einstellungen umso wirksamer, je synchroner
die Körperbewegungen waren, und stärkere religiöse Rituale waren mit den größten Beiträgen
im Spiel um öffentliche Güter verbunden [4]. Durch Pfadanalyse konnte ein Modell etabliert werden, in dem religiöser Bedeutungsüberschuss
die Auswirkungen synchroner Bewegungen auf prosoziale Verhaltensweisen vermitteln.
Die Analyse liefert damit einen experimentellen, quantitativen Beleg für die seit
langem bestehende anthropologische Vermutung, dass Rituale Körperbewegungen und Religiosität
geschickt kombinieren, um Prosozialität zu erzeugen. Der Mechanismus lautet mit den
Worten der Autoren: „Rituelle Synchronizität erhöht die Wahrnehmung des Einsseins
mit anderen, was wiederum religiöse Werte unterstützt und damit prosoziales Verhalten
verstärkt“ [4].
Insgesamt 4 naturalistische Feldexperimente mit Videobeobachtung in Echtzeit widmeten
sich der Frage, wie sich die 2 Faktoren der Synchronizität und Erregung bei menschlichen
Ritualen auf den sozialen Zusammenhalt und die Zusammenarbeit auswirken. In einem
Sportstadion musste eine große Zahl von Fremden an einer Gruppenmarschaufgabe teilnehmen,
bei der Synchronizität und physiologische Erregung getrennt manipuliert wurden. Über
eine im Dach des Stadions versteckte Kamera wurde die anschließende Bewegung, Gruppenbildung
und Kooperation der Teilnehmer beobachtet. Die Ergebnisse werden wie folgt zusammengefasst:
„Synchronizität und Erregung zeigten beide Haupteffekte und sagten größere Gruppen,
eine engere Gruppierung und kooperativeres Verhalten in einem Trittbrettfahrer-Dilemma
voraus. Synchronie und Erregung interagierten auch bei der Messung von Gruppenbildung
und Kooperation, sodass Synchronie nur in Verbindung mit physiologischer Erregung
zu einer stärkeren Gruppenbildung und einer größeren Kooperation führte“ [10]. Diese experimentelle Studie beschrieb damit erstmals die kausalen und interaktiven
Auswirkungen von Synchronizität und Erregung auf prosoziales Verhalten.
Eine mehrfache Befragung während des 5-tägigen hinduistischen Lichterfests Diwali
in Indien an 486 Personen (258 Frauen) im Durchschnittsalter von etwa 30 Jahren zeigte,
dass der Zeitaufwand, den eine Person gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Familie
für die Vorbereitung des Fests leistet, sowohl mit dem Ausmaß an sozialer Bindung
als auch mit positiven Emotionen und subjektiv erlebter Gesundheit in Beziehung steht,
wenn es auch einen abnehmenden Ertragszuwachs (an sozialer Bindung) bei mehr als 8
Stunden Festvorbereitung pro Tag gab: „Insgesamt […] legen die Ergebnisse nahe, dass
das Engagement für das Ritual einen abnehmenden Grenznutzen aufweist“ [20]. Auch zeigten sich Unterschiede beim Vergleich der Effekte in den beiden Städten
(Dehli und das eher ländliche Prayagra) in denen die Befragung durchgeführt worden
war.
Solche Effekte des gesellschaftlichen Kontexts auf die Auswirkungen von Ritualen wurden
auch von der US-amerikanische Kulturpsychologin Michelle Gelfand beschrieben. Sie
konnte zunächst vor gut 10 Jahren empirisch eindrucksvoll belegen, dass sich Gesellschaften
(aus historischen und/oder umgebungsbedingten Gründen) irgendwo auf einem Kontinuum
zwischen „Strenge“ (tightness) bzw. „Lockerheit“ (looseness) befinden[
6
], also viele streng durchgesetzte Regeln und wenig Toleranz für Abweichungen zeigen
oder – umgekehrt – wenige streng durchgesetzte Regeln und größere Toleranz für Abweichungen
[5]. Wie weitere Studien ergaben, hängt es hiervon entscheidend ab, ob sich Rituale
negativ verfestigen (erstarren) oder positive Horizonte ermöglichen [6].
Wenn die Rahmenbedingungen stimmen und zudem alles wirklich richtig gemacht wird,
dann können Rituale sogar prosoziale Auswirkungen über die In-Gruppe hinaus haben,
wie Paul Reddish und Mitarbeiter [16] von der National University in Singapur zeigten. Sie gingen speziell der Frage nach,
ob sich synchrones Verhalten auch auf die Mitglieder einer erweiterten In-Gruppe oder
sogar einer Out-Gruppe im Sinne einer „generalisierten Prosozialität“ auswirken kann.
Ihre Probanden führten eine einfache rhythmische Bewegung entweder im Takt (Synchronie-Bedingung)
oder außerhalb des Taktes (Asynchroniebedingung) miteinander aus. Vor und während
der rhythmischen Bewegung wurden die Teilnehmer durch Priming über eine erweiterte
Gruppenidentität informiert. Nach der Aufgabe hatte die Hälfte der Teilnehmer die
Möglichkeit, einem Mitglied der erweiterten In-Gruppe zu helfen; die andere Hälfte
hatte die Möglichkeit, einem Mitglied der Out-Gruppe zu helfen. Die Autoren fanden
einen Haupteffekt der Synchronie-Bedingung im Hinblick auf Mitglieder beider Gruppen,
was sie als Anzeichen dafür werten, dass sich die prosozialen Effekte der Synchronie
auch auf Nichtgruppenmitglieder erstrecken. Diese Studie zeigt damit, dass recht banale
Rituale in bestimmten Kontexten zu allgemeiner Prosozialität zwischen Gruppen führen
können, sogar gegenüber Mitgliedern der Out-Gruppe.
Halten wir fest: In den vergangenen Jahrzehnten hat die Erforschung von Ritualen neue
Erkenntnisse aus den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen hervorgebracht.
Gerade deren Zusammenschau, von der psychologischen bis hin zur kulturellen und evolutionären
Ebene, ermöglichte die Herausarbeitung von Mechanismen, die auf der Ebene des Individuums
wirken, deren Funktionen jedoch weit über den Ressourcenhaushalt des Individuums hinausgehen
und auf Gruppen- oder Gesellschaftsebene ihre Wirkungen zeigen [28]. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich Rituale als äußerst menschliche und soziale
Angelegenheit, obgleich sie auch bei Tieren und beim einzelnen Menschen vorkommen
können. Es ist müßig, nach einer allgemeinen Definition von Ritual zu fragen, weil
es diese – ganz ähnlich wie für den Begriff „Spiel“ – nicht gibt [3]. Beim Menschen weisen sie nicht selten einen Bedeutungsüberschuss auf – man spricht
von religiösen Ritualen – und können von heftigen Emotionen begleitet sein. Dies verstärkt
ihren gemeinschaftsstiftenden Effekt, was ihre Bedeutung für die Verfasstheit des
Menschen als Gemeinschaftswesen (Zoon politikon) unterstreicht.