XXXVII. DGKJP-Kongress, Magdeburg 18. bis 21. Mai 2022
Das vorliegende Heft spannt dafür den Bogen über so verschiedene und kontroverse Themen
wie den Beitrag von Georg Romer und Thomas Lempp zur Geschlechtsdiversität bis hin
zur spannend-modernen Abhandlung von Beate Herpertz-Dahlmann, Jochen Seitz und Brigitte
Dahmen über die metabolisch-psychiatrische Erkrankung Anorexia nervosa. Das ebenfalls
hochaktuelle Thema der Transition durch Martin Driessen, Marcel Romanos, Thomas Pollmächer
und Michael Kölch, in der Gemeinschaft von DGKJP und DGPPN abgebildet, fügt sich in
diesen Kanon nahtlos ein. Ebenso der Beitrag von Renate Schepker und Isabell Boege
zur stationsäquivalenten Behandlung für Kinder, Jugendliche und Familien. Die Arbeit
von Gundolf Berg zu F-Diagnosen bei 0- bis 20-Jährigen in der ambulanten Behandlung
im ersten Jahr der COVID-19-Pandemie zusammen mit dem Beitrag von Michael Kölch zu
psychischen Störungen bei Minderjährigen über die Belastungen, psychische Störungen,
die Teilhabe und die langfristigen Folgen der Pandemie richten den Fokus auf das Thema,
welches wie kein zweites (außer der Klimakrise) die vergangenen 2 Jahre unser aller
Arbeit dominiert hat. Es ist allerdings ein merkwürdiges Unterfangen in Zeiten einer
Pandemie mit aktuell deutlich ansteigenden Fallzahlen und immer noch unübersehbaren
Folgen für alle Bereiche der Gesellschaft kurz- und langfristiger Natur zu einem Kongress
einzuladen, der – nach bisheriger Planung – als Präsenzkongress stattfinden soll.
Das Kongressmotto „Zukunft! – Von soweit her bis hierhin – Von hier aus noch viel
weiter“ schließt nahtlos an die inhaltliche Ausrichtung der beiden Vorkongresse in
Ulm und Mannheim mit den Themen „Dazugehören“ und „Vernetzt! Neuronale Netze, Forschungsnetze,
Versorgungsnetze, soziale Netze, internationale Vernetzung“ an und versucht unter
dem Begriff „Zukunft!“ zu bündeln, wo wir stehen und wohin es von hier aus tatsächlich
in der Zukunft mit unserem Fach hingehen soll. Spannenderweise sind die beiden zusätzlichen
Zeilen „von soweit her bis hierhin“ und „von hier aus noch viel weiter“ die Inschriften
auf der alten Magdeburger Eisenbahnhubbrücke. Die Schriften sind in venezianischem
Glas künstlerisch in blau und rot gestaltet und bieten sich dem Blick auf die Brücke
jeweils flussaufwärts und flussabwärts. Insofern sollte Magdeburg also ein guter Ort
sein, um sich mit diesen symbolkräftigen Themen zu beschäftigen. Die Vorbereitungen
sind pandemiebedingt, also unter schwierigen Bedingungen, getroffen, aber wir gehen
davon aus, dass wir einen Kongress in Präsenz durchführen können, der uns allen die
Gelegenheit gibt, das so lange vermisste Miteinander im Gespräch und Austausch und
in der kontroversen wissenschaftlichen Diskussion zu gestalten.
Die „Merkwürdigkeit“ eines Kongresses unter Pandemiebedingungen wird jetzt allerdings
weit übertroffen von den furchtbaren Kriegsereignissen in der Ukraine mit bereits
Millionen Flüchtlingen und all dem Leid und Tod in den betroffenen Gebieten in der
Ukraine. So bekommt unsere Zeit ein Thema aufgezwungen, welches unter dem Begriff
„Zeitenwende“ die ganze Brutalität noch gar nicht ahnen lässt, mit der wir konfrontiert
sind und vermutlich noch eher zunehmend konfrontiert sein werden. Die Kongressplanung
erfolgte in Friedens-, allerdings Pandemie- und Klimakrisenzeiten, und bekommt mit
dem Krieg nun ein Oberthema, dem wir alle nicht ausweichen können und dem auch der
Kongress sich wird stellen müssen. Wie ist allerdings noch völlig offen, und das wird
uns in den kommenden Wochen bis zum Kongressbeginn noch mehr beschäftigen.
Neben der Vielfalt des vorliegenden Themenheftes, das neben den aktuellen Kriegsereignissen
fast wie aus der Zeit gefallen wirkt, sollten zur Corona-Pandemie in verschiedenen
Veranstaltungen die unterschiedlichen Facetten des Geschehens mit ihren Erkenntnissen
beleuchten werden, andererseits haben wir uns bemüht, den Kongress nicht nur im Zeichen
der Corona-Pandemie zu sehen, sondern die anderen uns beschäftigenden und wichtigen
Themen ebenso darzustellen. Hier sind 2 wichtige Themenkomplexe zu nennen, einerseits
die wissenschaftstheoretischen Grundlagen unseres Faches, die immer wieder von verschiedener
Seite herausgefordert und infrage gestellt werden. Andererseits wird uns die Zukunft
der Psychotherapie (Stichwort: Psychotherapeutengesetz etc.) zentral beschäftigen
und die Ausgestaltung einer modernen Psychotherapie ohne Verleugnung ihrer ganz unterschiedlichen
Wurzeln wird die Zukunft unseres Faches sicherlich maßgeblich prägen. Ein weiterer
Schwerpunkt des Kongresses soll die Beschäftigung mit Berufsgruppen sein, die sonst
nicht im wissenschaftlichen Fokus des DGKJP-Kongresses stehen: der Pflege- und Erziehungsdienst
(PED), die Fachtherapien (Ergo-, Physio-, Musik-, Spiel-, Kunsttherapie etc.), die
Sozialpädagogik (Sozialarbeit) sowie die (Krankenhaus-)Schule. Für diese für unsere
Arbeit im multiprofessionellen Team so wichtigen Bereiche wollen wir in Zukunftsworkshops
ausloten, welche Wege hier zukünftig denkbar sind und wie sich die Schnittstellen
zu den anderen Disziplinen und Berufsgruppen gestalten. Die Ergebnisse dieser Workshops
sollen am Ende des Kongresses in einer gemeinsamen Sitzung präsentiert werden.
Wir hoffen, dass wir damit der vollen Multidisziplinarität unseres Faches gerecht
werden und Anregungen geben können, die wissenschaftliche Beschäftigung in diesen
Bereichen voranzutreiben und in die Kinder- und Jugendpsychiatrie als Gesamtes zu
integrieren. Wichtige Fragen betreffen auch die aktuell diskutierte Transgender-Thematik,
Kinderschutz, Nachhaltigkeit, Depression-Suizidalität und Autismus, um nur einige
Themen zu nennen. Ein Novum auf diesem Kongress ist die Planung einer Veranstaltungsserie
durch die DGKJP-Nachwuchsorganisation YouCAP3. Dies schließt eine gemeinsame Veranstaltung mit ESCAP zu den europäischen Perspektiven
ein und wir hoffen sehr, dass wir mit diesen Veranstaltungen die Attraktivität unseres
Faches für junge Wissenschaftler in der DGKJP weiter stärken können. Darüber hinaus
haben wir erstmals versucht, den Kongress in zeitlicher Nähe zum nachfolgenden ESCAP-Kongress
im Juni in Maastricht zu gestalten und hoffen, dass wir die Diskussionen und den wissenschaftlichen
Austausch, den wir in Magdeburg zu verschiedenen Themen beginnen, in Maastricht im
Juni auf europäischer Ebene fortsetzen können. Und auch hier prägen die Kriegsereignisse
das zu findende Zusammenspiel von nationaler und europäischer Ebene.
Der jetzige Krieg in Europa hat nachgerade unser Kongressmotto „Zukunft!“ seines positiv
in die Zukunft weisenden Ausrufezeichens beraubt und es durch ein mehr als fragiles
Fragezeichen ersetzt. Die eigentlich mitschwingende friedlich-ruhige Flussmetapher,
allerdings auch auf einer Fahrt im Frieden nicht ohne Stromschnellen und lauernde
Gefahren, wird nun zu einer bedrohlich-gefährlichen Fahrt ins Ungewisse. Der erste
Kongress unserer Vorläufer-Fachgesellschaft fand im September 1940 während des Zweiten
Weltkrieges in Wien statt – möge das kein böses Omen sein: Hoffen wir auf das Beste
und seien wir mit unseren bescheidenen Mitteln auf das Schlimmstes gefasst!
Henning Flechtner, Magdeburg