Z Sex Forsch 2022; 35(01): 55-57
DOI: 10.1055/a-1747-2143
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Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen

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Eva Illouz. Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen. Berlin: Suhrkamp 2020. 447 Seiten, EUR 18,00

Eva Illouz eröffnet ihre umfangreiche Studie mit der Frage „Warum fällt es […] so schwer, intime Liebesbeziehungen einzugehen oder aufrechtzuerhalten?“ (S. 13). Diese Frage ist mehr als eine Frage, denn sie enthält gleichzeitig eine Feststellung. Es geht nicht darum, ob gegenwärtig Liebesbeziehungen „halten“, sondern warum sie nicht halten. Illouz grenzt ihre Analyse auf die bürgerlich kapitalistisch geprägten Gesellschaften in Europa, Nordamerika und Australien ein. Ihre leitende Fragestellung präzisiert sie folgendermaßen: Gefährdet die politische, kulturelle und gesellschaftliche Freiheit in den von ihr herangezogenen Ländern „die Möglichkeit, substantielle und feste Bindungen einzugehen?“ (S. 16). Ihr sekundäranalytisches Verfahren beruht auf einer umfassenden Rezeption von vor allem englisch-, französisch- und deutschsprachiger Literatur.

Eva Illouz ist für ihre progressiven politischen Positionen in Israel bekannt, wo sie eine Professur für Soziologie und Anthropologie an der Hebräischen Universität Jerusalem hat. Um so bemerkenswerter ist ihre Sorge um die Auswirkungen der „Freiheit“ auf Sexualität und feste Beziehungen in kapitalistischen postindustriellen Gesellschaften. Sie verwahrt sich in ihren Vorbemerkungen gleichermaßen gegen „das konservative Lamento über die sexuelle Freiheit“ wie auch gegen „ihre libertäre Verherrlichung, die sie über alle Werte stellt“ (S. 21). Für Illouz führt die Analyse der emotionalen und sexuellen Freiheit in den gegenwärtigen postindustriellen Gesellschaften zur „Bruchlinie zwischen Freiheit und Anomie“ (S. 23). Notwendig sei eine „Rückkehr zum Kern von Durkheims Fragen nach dem Verhältnis von Gesellschaftsordnung und Anomie“ (S. 23). Für sie geht es buchstäblich um die Alternative von sexueller Freiheit und „amoralischem Chaos“ (S. 23). Damit distanziert sie sich auch von den Kulturwissenschaften, den Queer Studies und der Geschlechterforschung, die die Freiheit „implizit oder ausdrücklich zum Leitstern ihrer Forschung erheben“ (S. 23). Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist vielmehr die Befürchtung, dass die vorherrschende neoliberale Philosophie der Privatsphäre zu einem Diskurs der sexuellen Freiheit führe, welcher die „Normativität von Beziehungen“ (S. 29) zersetze.

Illouz betont, dass ihre Analyse sich auf dem Feld der Heterosexualität ergiebiger durchführen lasse. Die Institution der Ehe oder der Partnerschaft bilde immer noch den Kern der Heterosexualität. Sie kommt im Fortgang ihrer Analyse zu einem niederschmetternden Ergebnis. Die Sexualität entwickele sich „zu einer bezahlten wie unbezahlten Quelle von Mehrwert für eine Reihe von einflussreichen Industrien in Männerhand“ (S. 157). Zu diesen Industrien zählt sie die therapeutisch-pharmakologische Industrie, die Produzenten von Sexspielzeug und die Werbe- und Filmbranche (S. 83). Das vorherrschende sexuelle Benchmarking (im Sinne von Leistungsvergleichen) werde durch die Internetkultur verstärkt und internationalisiert, vor allem durch die Online-Dating-Websites und Tinder als besonders erfolgreiche mobile Dating-App. Der postindustrielle „zerstreuende“ Kapitalismus brauche die traditionellen sozialen Agenturen nicht mehr, die die Sexualität im Industriekapitalismus regulierten und im Wesentlichen auf der Gründung von Familien basierten. Der „Gelegenheitssex“ sei die soziale Form, die den Wandel der Sexualität am besten zum Ausdruck bringe (S. 100). Die neue Phase des Kapitalismus sei charakterisiert durch eine gesteigerte sexuelle Aktivität. „Das Überhandnehmen von Gelegenheitssex“ sei nicht einfach nur ein „Pufferzeitraum“ zwischen Beziehungen (S. 103). Er habe massive Auswirkungen auf Beziehungen. Er imitiere zudem die Anonymität und Flüchtigkeit von Interaktionen in der Konsumsphäre, ihn zu praktizieren, verlange die Fähigkeit, „Geschlechtsverkehr von Gefühlen, moralischen Empfindungen und gesellschaftlichen Normen zu trennen“ (S. 114). Gelegenheitssex verwerfe das zentrale Merkmal der Heteronormativität, die Unterordnung der Sexualität unter Ehe, Monogamie und Häuslichkeit (S. 139). Auf diese Weise würden sexuelle Praktiken und Interaktionen Teil der Ökonomie, so Illouz, auf den US-amerikanischen Soziologen Adam Green verweisend (S. 154). Den gegenwärtigen Kapitalismus nennt Illouz „skopisch“, aus dem altgriechischen „skopein“ (auf Deutsch: betrachten) abgeleitet. Dieser suggeriere Konsumfreiheit und verlange den sexuellen Akteur*innen einen zu hohen psychischen Preis ab. Die Tentakel des skopischen Kapitalismus zerstörten – „unter tätiger Mithilfe der Psychobranchen“ (S. 346) – emotionale Bindungen und psychische Autonomie. Der Kapitalismus beziehe aus dem Spektakel und dem Zurschaustellen von Körpern einen „Mehrwert“. „[…] die Sexualität ist so allgegenwärtig, dass sie Menschen aufgenötigt werden kann“ (S. 134). Diese Nötigungsprozesse haben besondere Folgen für Frauen. Sie seien in einem Markt angesiedelt, „in dem es Frauen zur Pflicht gemacht wird, dass sie ihre Freiheit und Macht darauf verwenden, den sexuellen Wert ihres Körpers in eine ästhetische, symbolische und ökonomische Darbietung zu verwandeln“ (S. 162). Die Körper von Frauen würden somit durchgehend sexualisiert und „kommodifiziert“, d. h. zur Ware gemacht (S. 162). Vor allem der Gelegenheitssex gleiche einer Dienstleistungstransaktion. All dies habe für Frauen fatale Folgen, da die Herrschaft von Männern über Frauen, trotz bescheidener, aber bedeutender Gleichheitsgewinne in den postindustriellen Demokratien noch fest verwurzelt und weit verbreitet sei. Die behauptete (sexuelle) Freiheit habe lediglich dazu geführt, dass die Beherrschung von Frauen im „skopischen“ Kapitalismus vertieft wurde. „Die Aneignung des weiblichen sexualisierten Körpers stellt eine Enteignung von Wert im Marx’schen Sinne dar: Eine Klasse – die Männer – zieht Wert aus den Körpern einer anderen Klasse – der Frauen“ (S. 168).

Mit dieser Argumentation setzt sich Illouz mehreren Einwänden aus. Sie gebraucht Kategorien wie Ware, Mehrwert und andere marxistische Termini im metaphorischen Sinne, wogegen nichts einzuwenden wäre, wenn die Analyse damit nicht irreführend würde. Eine Ware, für die nicht gezahlt wird, ist keine Ware, sondern möglicherweise ein Geschenk oder ein geraubtes Gut oder eine erpresste Dienstleistung. Bezahlte sexuelle Dienstleistungen können zur Kapitalakkumulation genutzt werden; aus einvernehmlichen Sexkontakten, die nicht auf dem Austausch von Sex und Geld basieren, kann jedoch kein „Mehrwert“ erzielt werden. Männer und Frauen als antagonistische Klassen zu definieren, ist zumindest in marxistischer Perspektive äußerst eigenwillig.

Illouz sieht im allgegenwärtigen Gelegenheitssex die Ursache für die Auflösung vieler heterosexueller Ehen und Partnerschaften und für die Schwierigkeiten, neue einzugehen. Gleichzeitig führt sie selbst viele Gründe an, warum Frauen sich casual sex in viel höherem Maße verweigerten als Männer. Männer neigten leichter als Frauen dazu, Sexualität von Gefühlen zu trennen. „Gelegenheitssex impliziert Distanziertheit und entspricht eher einer maskulinistischen Vernunft“ (S. 115). Aus diesem Grund stünden Frauen Gelegenheitssex ambivalenter gegenüber als Männer. Wenn diese Feststellungen zutreffen, gibt es starke Gründe, warum der Gelegenheitssex unter heterosexuellen Personen keineswegs so verbreitet ist, wie Illouz behauptet. Es sei denn, man unterstellte der Mehrheit der Frauen eine so schwache soziale Position, dass sie nicht in der Lage sind, sich dem männlichen Ansinnen nach Gelegenheitssex zu widersetzen. Aktuelle Daten aus Frankreich (wo Illouz in Paris die Stellung einer Forschungsdirektorin bekleidet) können Illouz’ Thesen nicht belegen, weder die behaupteten hohen Partner*innenzahlen noch das Ausmaß der Benutzung von Online-Dating-Websites. Im Rahmen einer 2016 durchgeführten Repräsentativbefragung der französischen Bevölkerung (n = 15 216) gaben die Frauen an, sechs Sexpartner (Mittelwert) in ihrem Leben gehabt zu haben, die Männer gaben im Mittel 14 Partnerinnen an. Die Diskrepanz der Partner*innenzahlen sind für die Sozialforscher*innen Ergebnis einer geschlechtsspezifischen Zählweise: Frauen nennen Sexualpartner, die emotional bedeutsam waren, Männer wollen eher eine Erfolgsbilanz vorzeigen. 15 % der heterosexuellen Männer und 9 % der heterosexuellen Frauen haben nach dieser Studie mindestens einmal eine Internet-Dating-Site benutzt. Diese Daten belegen weder die von Illouz behauptete massive Zunahme der Partner*innenzahlen noch die der Gelegenheitskontakte, selbst für unter 30-Jährige, die in der Tat mehr Gelegenheitskontakte mitteilen. Aktuelle britische, französische und deutsche Daten dokumentieren, dass etwa neun Zehntel der Sexualakte von heterosexuellen Frauen und Männern innerhalb ihrer Ehe oder Beziehung stattfinden. Auch diese empirischen Ergebnisse belegen nicht Illouz’ These von der Dominanz des Gelegenheitssex unter heterosexuellen Personen. Zudem berücksichtigt sie zu wenig die Tatsache, dass der stattfindende Gelegenheitssex auch neben den Ehen oder festen Beziehungen heterosexueller Paare stattfinden kann.

Trotz aller Anlehnung an Marx’sche Kategorien ist Illouz’ Analyse fixiert auf Frauen der Mittelschicht. Sie betont immer wieder den Aufwand, den Frauen unter Rückgriff auf Produkte der kosmetischen und der Modeindustrie betreiben, um ihre Körper als glänzende Ware zu inszenieren. Diese Aussage scheint nicht nur mit Blick auf einen bedeutenden Anteil der Mittelschichtsfrauen unzutreffend, sie zeugt auch von erheblicher Ignoranz gegenüber einer großen Anzahl von Frauen, die in den nicht akademisierten Dienstleistungsberufen und in der Industrie arbeiten. Das weibliche Reinigungspersonal und Hilfspersonal im Hotel- und Gaststättengewerbe, die weiblichen Bediensteten der Verkehrsbetriebe, Krankenschwestern, die Arbeiterinnen in der Automobil- und Chemieindustrie haben weder die Zeit noch die Mittel, sich auf die von Illouz kritisierte Weise „marktfähig“ herauszuputzen, wenngleich dies auch nicht wenige Frauen aus den unteren Schichten versuchen.

Zu Recht hebt Illouz den „scharfen Gegensatz“ hervor, der in (West-)Europa und Nordamerika besteht, „zu Kulturen, in denen die Sexualität tief in die moralische Kultur eingebettet ist und von ihr bestimmt wird“ (S. 259). Dies ist ein Verweis auf afrikanische und asiatische Gesellschaften, in denen nicht nur der Islam oder der Hinduismus, sondern auch das Christentum ganz wesentlich „normsetzend“ für die Sexualität sind. Sowohl Deutschland wie auch Frankreich und Großbritannien haben Millionen von Einwohner*innen mit familiären Bezügen zu islamischen oder mehrheitlich orthodoxen Ländern. Die moralische Kultur in europäischen Ländern ist also keinesfalls durchgängig von einer „laizistischen“ Moral bestimmt. Es verwundert, dass Illouz hierauf überhaupt nicht eingeht.

Zuzustimmen ist Illouz, wenn sie hervorhebt, dass die Einführung der erleichterten Scheidungsmöglichkeiten in Europa und Nordamerika den Charakter der Ehe fundamental geändert habe. Von Bedeutung ist zudem der mehrfache Hinweis, dass die Mehrzahl der Scheidungsbegehren von Frauen ausgeht. In Deutschland bestehen allerdings noch zwei Drittel der Ehen 25 Jahre, nachdem sie eingegangen wurden (ähnlich in Frankreich). Selbst wenn der Anteil der Ehescheidungen höher wäre, müssten die stark erweiterten Scheidungsmöglichkeiten jedoch als historischer Fortschritt gewertet werden, vor dem Hintergrund, dass Ehen nicht mehr halten müssen, bis dass der Tod einer der Ehepartner*innen sie auflöst. Illouz’ Logik folgend muss es verwundern, dass ein so hoher Anteil der Ehen so lange hält. Über die Gründe dafür gibt ihr französischer Kollege, der Soziologe Michel Bozon, in seinem schönen Essay „Pratique de l’amour“, der zwei Jahre vor Illouz’ Studie erschienen ist, Aufschluss. Bozon hebt dabei u. a. auf die starken Bindekräfte der Partnerschaftsroutinen ab, in seinen Augen ein Gegengewicht zur Abnahme der Leidenschaft in der Liebe. Es erstaunt, dass Illouz, die für ihre Analyse einen enormen Rechercheaufwand betrieben hat, es vorzog, den Essay von Bozon unerwähnt zu lassen.

Michael Bochow (Berlin)



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Article published online:
08 March 2022

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