Psychiatr Prax 2022; 49(02): 67-68
DOI: 10.1055/a-1727-7911
Debatte: Pro & Kontra

Assistierter Suizid – eine ärztliche Aufgabe? – Pro

Assisted Suicide – A Duty for Physicians? – Pro
Georg Marckmann
Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Ludwig-Maximilians-Universität München
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Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im Februar 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) für verfassungswidrig erklärt und festgestellt, dass das Recht auf selbstbestimmtes Sterben auch die Freiheit umfasst, sich selbst das Leben zu nehmen und dabei die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen. Vorausgesetzt wird dabei, dass der Suizidentschluss freiverantwortlich gefasst wurde. Lebensalter, Lebenssituation, etwaige Erkrankungen und deren Stadium oder die Prognose spielen keine Rolle. Das Gericht hat zudem festgestellt, dass niemand dazu verpflichtet werden kann, Assistenz beim Suizid zu leisten. Aktuell wird intensiv darüber diskutiert, ob und ggf. in welcher Form der Gesetzgeber Regelungen zum Schutz der Selbstbestimmung über das eigene Leben ergreifen soll. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob Suizidassistenz eine ärztliche Aufgabe ist. Der Deutsche Ärztetag hat dies im Mai 2021 verneint, allerdings zugleich das Verbot der ärztlichen Unterstützung von Suiziden aus der Musterberufsordnung gestrichen.


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Im Anschluss an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts stellt sich insbesondere die Frage, wie und durch wen eine rechtlich vertretbare und ethisch verantwortete Praxis der Suizidassistenz gestaltet werden kann. Während das Rechtssystem vor allem eine Sicherung der formalen Voraussetzungen einer freiverantwortlichen Entscheidung fordert, gehen die ethischen Verpflichtungen darüber hinaus. Zum einen beinhaltet das Autonomieprinzip nicht nur die Achtung, sondern auch die Förderung der Selbstbestimmung und die aktive Unterstützung bei der Entscheidungsfindung. Zum anderen fordern die Prinzipien des Wohltuns und Nichtschadens eine umfassende Sorge um das Wohlergehen der betroffenen Menschen, über die Sicherung der selbstbestimmten Entscheidung hinaus. Erforderlich ist folglich nicht nur ein Schutzkonzept für die freiverantwortliche Entscheidung, sondern ein umfassendes Unterstützungskonzept für Menschen, die einen Suizid erwägen, in einer existenziellen Entscheidungssituation. Aus meiner Sicht sprechen verschiedene Argumente dafür, dass Ärzt*innen aufgrund ihrer spezifischen Qualifikationen eine ganz zentrale Rolle bei der Suizidassistenz einnehmen.

Zunächst erfordert die unverzichtbare Feststellung der Freiverantwortlichkeit ärztliche Kompetenzen, sowohl bei der Feststellung der Selbstbestimmungsfähigkeit als auch bei der Information über alle entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte, insbesondere wenn der Suizidwunsch im Zusammenhang mit einer Erkrankung entstanden ist. In diesem Fall ist es eine ärztliche Aufgabe, den Betroffenen über seine aktuelle medizinische Situation und die verfügbaren medizinischen Handlungsoptionen als mögliche Alternativen zur Selbsttötung aufzuklären. Für psychosoziale Unterstützungsangebote kann die Einbeziehung weiterer Berufsgruppen erwogen werden. Zur Abklärung, ob der Suizidwunsch die Folge einer psychischen Erkrankung ist, sind entsprechend psychiatrisch geschulte Personen hinzuzuziehen.

Die Unterstützung bei der Entscheidungsfindung sollte darauf abzielen, den Betroffenen in einer gemeinsamen Deliberation dazu zu befähigen, eine wohl abgewogene Entscheidung gemäß seinen individuellen Präferenzen und Lebensplänen zu treffen. Hierbei sind ähnliche Anforderungen an das Gespräch gestellt wie sonst beim gemeinsamen Prozess der medizinischen Entscheidungsfindung (Shared Decision Making), sodass Ärzt*innen in der Verbindung von medizinisch-fachlicher und kommunikativer Kompetenz besonders geeignete Gesprächsparter*innen sein können. Voraussetzung ist allerdings eine entsprechende Erfahrung in der Gesprächsführung mit Menschen mit Todeswünschen.

Die ethische Wohlergehensperspektive fordert darüber hinaus eine umfassende Hilfe für Menschen mit Suizidwünschen. Sich um diese Menschen zu kümmern, gehört zu den zentralen Aufgaben von Ärzt*innen und anderen Berufsgruppen im psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich. Auch die Bundesärztekammer hat jüngst Hinweise zum ärztlichen Umgang mit Suizidalität und Todeswünschen veröffentlicht (Bundesärztekammer 2021). Allerdings steht dort ausschließlich die Suizidprävention und damit die Hilfe zum Weiterleben im Vordergrund. Während das Gespräch über Suizidalität und Todeswünsche eine ärztliche Aufgabe sei, so die Bundesärztekammer, gehöre die Mitwirkung bei der Selbsttötung nicht zur Ausübung des ärztlichen Berufs. Allerdings stehe es Ärzt*innen frei, im Einzelfall Hilfe zur Selbsttötung zu leisten.

Dabei gäbe es durchaus gute Gründe, Ärzt*innen auch mit der Begleitung der Umsetzung des Suizids zu betrauen. Zum einen setzt die effektive und sichere Durchführung des Suizids medizinisches Fachwissen voraus. Zum anderen stellt sich die Frage, warum sich die ärztliche Hilfe für Menschen mit einem Suizidwunsch ausschließlich auf die Hilfe zum Weiterleben beschränken soll. Im Gespräch müssen alle Optionen einschließlich der gewünschten Selbsttötung gemeinsam mit dem Betroffenen erwogen werden – und warum sollte dann die Umsetzung einer Option, d. h. der assistierte Suizid, aus dem Hilfsangebot ausgegliedert werden? Möglicherweise lassen sich Menschen mit Suizidgedanken eher erreichen, wenn Ärzt*innen für ein ergebnisoffenes Gespräch und eine umfassende Hilfe einschließlich der Suizidassistenz zur Verfügung stehen. Auch mit Blick auf die Möglichkeiten der Suizidprävention erscheint folglich nicht die ärztliche Mitwirkung bei der Selbsttötung, sondern vielmehr der Verzicht auf diese begründungsbedürftig.

Welche Gründe ließen sich hierfür anführen? Zunächst müsste man prüfen, ob die Hilfe zur Selbsttötung intrinsisch dem ärztlichen Handeln bzw. dem ärztlichen Ethos widerspricht. Allgemein lässt sich ärztliches Handeln als eine bestimmte Form der Praxis eigentlich nur über die Zielsetzung definieren: Hilfe für kranke oder von Krankheit bedrohte Menschen. Da ärztliche Hilfe in vielen Fällen auch die Begleitung beim selbstbestimmten Sterben umfasst, beispielsweise beim von Patient*innen gewünschten Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen, stellt sich die Frage, warum in bestimmten Situationen nicht auch eine Mitwirkung bei der Selbsttötung eine legitime Form der ärztlichen Hilfe sein kann. Allenfalls könnte man argumentieren, dass die Mitwirkung bei Suizidwünschen ohne Krankheitsbezug nicht zu den ärztlichen Aufgaben gehöre. Aber auch diese Menschen haben Anspruch auf Unterstützung – die vermutlich von Ärzt*innen am besten geleistet werden kann, die im Umgang mit Todeswünschen erfahren bzw. entsprechend geschult sind.

Aus der Wohlergehensperspektive ist vor allem zu prüfen, welche anderen Lösungswege es für die Sorgen und Nöte der Betroffenen gibt. Diese gehen in die gemeinsame Deliberation ein und können darüber hinaus den beteiligten Ärzt*innen im Einzelfall eine Orientierung bei der Entscheidung bieten, ob sie einem Wunsch nach Suizidassistenz nachkommen sollen oder nicht. Dabei wäre insbesondere zu prüfen, ob starke, am Wohlergehen der Betroffenen orientierte Argumente für eine andere Handlungsoption sprechen. Dies könnte beispielsweise dann der Fall sein, wenn es eine Handlungsalternative gibt, die den Betroffenen eine hinsichtlich Lebensqualität bzw. Lebensmöglichkeiten nicht gravierend eingeschränkte Zukunftsperspektive bietet.

Folglich spricht einiges dafür, dass Ärzt*innen eine ergebnisoffene Unterstützung für Menschen mit Suizidwünschen anbieten, die neben der Hilfe zum Weiterleben ggf. auch eine Assistenz zur Selbsttötung umfasst. Primäres Ziel der Unterstützung wäre die Ermöglichung einer selbstbestimmten Entscheidung (nicht die Verhinderung eines Suizids!), getragen von einer wertschätzenden Grundhaltung gegenüber dem Suizidwunsch. Natürlich könnte man die Suizidassistenz auch auf andere Berufsgruppen beispielsweise im Kontext von Sterbehilfeorganisationen übertragen. Dies wäre aber durch entsprechende Vorteile für die Betroffenen zu rechtfertigen – nicht allein durch die Behauptung, die Mitwirkung bei der Selbsttötung sei keine ärztliche Aufgabe.

Im Lichte dieser Argumentation wäre es wünschenswert, die Ärzteschaft gäbe ihre zurückhaltende Position auf und würde sich klar dazu bekennen, dass die Hilfe für Menschen mit Suizidwünschen eine ärztliche Aufgabe ist, die neben Hilfen zum Weiterleben auch die Assistenz bei der Selbsttötung umfasst. Eine entsprechende berufsethische Regelung der ärztlichen Suizidassistenz könnte aufwendige gesetzlich verankerte Kontrollprozeduren überflüssig machen – zumal die Assistenz beim nicht freiverantwortlichen Suizid bereits heute strafbar ist. Die unverzichtbare Suizidprävention sollte vor allem auf der Systemebene ansetzen und sicherstellen, dass die Lebensbedingungen der Menschen insbesondere bei Erkrankungen und Pflegebedürftigkeit so gestaltet sind, dass die Betroffenen nicht zum Tode verzweifeln und die Selbsttötung als einzige Lösung ansehen.


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Autorinnen/Autoren

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Georg Marckmann

Interessenkonflikt

Der Autor ist Präsident der Akademie für Ethik in der Medizin. Er äußert hier allerdings seine persönliche Meinung und spricht nicht im Namen der Fachgesellschaft.

  • Literatur

  • 1 . Hinweise der Bundesärztekammer zum ärztlichen Umgang mit Suizidalität und Todeswünschen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB. Dtsch Arztebl 2021; 118: A-1428-A-1432

Korrespondenzadresse

Univ.-Prof. Dr. med. Georg Marckmann, MPH
Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Ludwig-Maximilians-Universität München
Lessingstraße 2
80336 München
Deutschland   

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
04. März 2022

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Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 . Hinweise der Bundesärztekammer zum ärztlichen Umgang mit Suizidalität und Todeswünschen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB. Dtsch Arztebl 2021; 118: A-1428-A-1432

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