CC BY-NC-ND 4.0 · Adipositas - Ursachen, Folgeerkrankungen, Therapie 2022; 16(01): 24-31
DOI: 10.1055/a-1722-5103
Originalarbeit

Ausweg aus der Versorgungslücke: Voll Krankenkassen-finanzierte konservative Adipositas-Therapie

Prospektive Auswertung klinischer Real-World-Daten eines großen Adipositas-ProgrammsClosing the Gap in Conservative Obesity Therapy: a Fully Health Insurance-Financed Obesity Program Prospective Analysis of Clinical Real World Data
Sarah Victoria Frenzel
1   Integriertes Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) Adipositas Erkrankungen, Medizinische Fakultät, Universität Leipzig
,
Sophie Bach
2   Medizinische Klinik III, Bereich Endokrinologie, Universitätsklinikum Leipzig
,
Swantje Ahrens
2   Medizinische Klinik III, Bereich Endokrinologie, Universitätsklinikum Leipzig
3   Department für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Medizinische Fakultät, Universität Leipzig
,
Mario Hellbardt
1   Integriertes Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) Adipositas Erkrankungen, Medizinische Fakultät, Universität Leipzig
,
Anja Hilbert
1   Integriertes Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) Adipositas Erkrankungen, Medizinische Fakultät, Universität Leipzig
3   Department für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Medizinische Fakultät, Universität Leipzig
,
Michael Stumvoll
1   Integriertes Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) Adipositas Erkrankungen, Medizinische Fakultät, Universität Leipzig
2   Medizinische Klinik III, Bereich Endokrinologie, Universitätsklinikum Leipzig
,
Mathias Fasshauer
1   Integriertes Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) Adipositas Erkrankungen, Medizinische Fakultät, Universität Leipzig
4   Institut für Ernährungswissenschaft, Justus-Liebig-Universität, Gießen
,
Haiko Schlögl
2   Medizinische Klinik III, Bereich Endokrinologie, Universitätsklinikum Leipzig
› Institutsangaben
 

Zusammenfassung

Hintergrund Das Leipziger Adipositasmanagement ist das deutschlandweit erste interdisziplinäre Therapieprogramm für Patienten mit Adipositas Grad 2 und 3 mit einem langfristigen (i. e., 4-jährigen) konservativen Behandlungsarm, welches über einen Vertrag der integrierten Versorgung (IV) komplett durch eine gesetzliche Krankenkasse finanziert wird. Die vorliegende Arbeit evaluiert die Effektivität des ersten Abschnitts des Programms mit einer mittleren Laufzeit von 72 Wochen.

Methoden Von 243 Personen wurden Gewicht, Körperumfänge sowie ausgewählte metabolische und psychologische Parameter vor Beginn (t0) und nach Abschluss des ersten Therapieabschnitts (t1) erhoben. Das methodische Design entspricht einer prospektiven Auswertung klinischer Real-World-Daten.

Ergebnisse Die Kosten pro Patient betrugen durchschnittlich 2022 €. Die Teilnehmer erreichten eine durchschnittliche Gewichtsreduktion von 5 kg (95%-Konfidenzintervall (KI) 3,8–6,2) bzw. 4% (KI 3,1–4,9) des Ausgangsgewichts. Der Hämoglobin-A1c-Wert reduzierte sich in der Gesamtkohorte von 5,9% auf 5,6% und bei Diabetes-mellitus-Patienten von 6,7% auf 6,2%. Weitere metabolische (z. B. Low-density-Lipoprotein- und Gesamtcholesterin) sowie psychologische (z. B. Lebensqualität) Parameter verbesserten sich ebenfalls signifikant.

Schlussfolgerung Die vorliegenden Daten belegen unter Real-World-Bedingungen, dass ein über einen IV-Vertrag voll kassenfinanziertes Therapieprogramm bei Adipositas Grad 2 und 3 eine klinisch relevante Gewichtsreduktion und damit verbundene metabolische Verbesserungen erreicht. Das Leipziger Adipositasmanagement trägt zur Schließung der Versorgungslücke, die aktuell für die Adipositas-Therapie in Deutschland besteht, bei und verbessert die Qualität der Angebote durch eine individuelle langjährige Betreuung.


#

Abstract

Background The obesity treatment program „Leipziger Adipositasmanagement“ is a long-term (i. e., four years long) conservative treatment program which is completely covered by a public health insurance company for patients with obesity grades 2 and 3 (i. e., body mass index>35 kg/m2). Here we evaluate the effectiveness of the first part of the program which was on average 72 weeks long.

Methods Body weight, body circumferences, metabolic and psychological parameters were collected prior to the start (t0) and after completion of the first part (t1). The whole first treatment part was completed by 243 persons. The analysis design was a prospective evaluation of clinical real world data.

Results Treatment costs per patient were 2,022 € on average. There were significant clinically meaningful improvements from t0 to t1. On average, patients lost 5 kg (95% confidence interval, KI 3.8 to 6.2 kg) or 4% (KI 3.1 to 4.9%) of their initial body weight. The hemoglobin A1c value decreased from 5.9 to 5.6% in all patients and from 6.7 to 6.2% in diabetic patients. Further metabolic (e. g., low density lipoprotein and total cholesterol) and psychological (e. g., quality of life) parameters improved significantly as well.

Conclusions The available real world data show, that an obesity treatment program, which is completely covered by a public health insurance company, can reach a clinically significant weight loss with metabolic improvements. The treatment program „Leipziger Adipositasmanagement“ contributes to improving long-term treatment of obesity in Germany.


#

Einleitung

Derzeit haben 23% der Männer und 24% der Frauen in Deutschland einen Body-Mass-Index (BMI) von≥30 kg/m2 und erfüllen damit das Diagnosekriterium für Adipositas. Die Prävalenz der für die Gesundheit besonders negativen Formen (Adipositas Grad 2 mit BMI 35–40 kg/m2 und Grad 3 mit BMI≥40 kg/m2) stieg, auch in Deutschland, in den letzten Jahren besonders stark an [1]. Insbesondere für diese BMI-Klassen ist das Risiko für metabolische, kardiovaskuläre, pulmonale, orthopädische sowie psychische Erkrankungen deutlich erhöht [2] [3]. Die Kosten im Gesundheitssystem für Patienten mit Adipositas sind gegenüber Normalgewichtigen wesentlich höher [4]. In einer aktuellen Analyse aus Deutschland lag bei Personen mit Adipositas Grad 2 die Summe aller medizinischen Kosten 800 € pro Jahr über denen normalgewichtiger Personen (BMI 18,5–25 kg/m2), bei Adipositas Grad 3 sogar 1800 € darüber [5]. Ohne Intervention kommt es unabhängig vom Ausgangsgewicht mit zunehmendem Alter zu einer weiteren Gewichtszunahme. In einer Beobachtungsstudie aus Süddeutschland stieg der BMI über den Zeitraum von 10 Jahren um durchschnittlich 1 kg/m². In derselben Kohorte führte die weitere BMI-Zunahme zu einer direkten Erhöhung der Kosten für Medikamente [6]. Bereits eine moderate Gewichtsreduktion hingegen kann eine signifikante Verbesserung von Komorbiditäten und kardiovaskulären Risikofaktoren bewirken [7]. Weitere wichtige Ziele der Gewichtsreduktion sind eine Steigerung der Lebensqualität sowie Vermeidung von Arbeitsunfähigkeit und vorzeitiger Berentung [8]. Allerdings stammen die Daten zu den Effekten der konservativen Gewichtsreduktion meist aus kontrollierten randomisierten Studien, die dann zwar die Überlegenheit einer intensiven Intervention meist gegenüber einer nur minimalen Intervention zeigen [9]. Für die Abschätzung der tatsächlich in der klinischen Versorgung zu erwartenden Effekte eignen sich diese Daten nur bedingt, da sie oft einer Verzerrung unterliegen. So ist die Patientenauswahl in Studien oft in Richtung motivierter Teilnehmer verschoben, die häufig finanzielle Aufwandsentschädigungen für die regelmäßige Teilnahme erhalten, und die Therapie erfolgt, gerade bei Gesprächs-/Beratungstherapie, standardisierter als unter Real-World-Bedingungen [10]. Mit Zunahme der elektronischen Erfassung von klinischen Patientendaten haben sich nun die Möglichkeiten deutlich verbessert, außerhalb von kostenintensiven Studien Real-World-Daten zu erheben [11]. Diese Daten bilden tatsächliche Therapieeffekte klinischer Behandlung ab und haben damit eine elementar wichtige zusätzliche Aussagekraft zu Ergebnissen aus rein studienfinanzierten Programmen [12].

Die Vergütung von konservativen Therapieprogrammen zur Gewichtsreduktion ist aktuell in Deutschland in der kassenfinanzierten ambulanten Regelversorgung trotz dringenden Handlungsbedarfs aus medizinischer und auch ökonomischer Sicht nicht möglich. Sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Ländern, in denen eine adäquate Adipositas-Therapie nicht ausreichend finanziert wird, werden zurzeit intensive Debatten über diesen Zustand geführt [13]. In Deutschland sind aber außerhalb der Regelversorgung Verträge zur integrierten Versorgung (IV-Verträge) gemäß § 140a ff. SGB V zwischen einer gesetzlichen Krankenkasse und einer Therapie-Einrichtung eine Möglichkeit zur Regelung von Therapiefinanzierungen. Das Leipziger Adipositasmanagement ist das deutschlandweit erste interdisziplinäre Adipositas-Therapieprogramm mit einem langfristigen (i. e., 4-jährigen) konservativen Behandlungsarm, welches über einen IV-Vertrag komplett durch eine gesetzliche Krankenkasse finanziert wird. Die vorliegende Arbeit evaluiert die Effektivität des ersten konservativen Therapiejahres bezüglich Gewichtsveränderung, Verbesserung metabolischer Parameter und psychischem Zustand der Patienten. Diese Real-World-Daten sind ein wichtiger Beitrag für die aktuelle Diskussion, was eine über die Regelversorgung kassenfinanzierte Adipositas-Therapie in Deutschland leisten könnte und welche Therapieeffekte zu erwarten sind.


#

Methode und Patienten

Einschlusskriterien waren ein BMI≥35 kg/m2, Volljährigkeit sowie ein bestehendes Versicherungsverhältnis mit der Allgemeinen Ortskrankenkasse Sachsen und Thüringen (AOK PLUS). Ausschlusskriterien waren schwere psychische Störungen, Suchterkrankungen und schwerwiegende sonstige Erkrankungen, die einer regelmäßigen Teilnahme am Therapieprogramm im Wege standen. Interessierte Personen meldeten sich für die Teilnahme selbstständig telefonisch bei der Adipositas-Ambulanz des Universitätsklinikums Leipzig an. Es erfolgte eine Aufklärung über die Inhalte des Programms, die Notwendigkeit einer regelmäßigen Teilnahme (Ziel:≥80% der Termine) und die Datenverarbeitung.

Bei der Eingangsuntersuchung (t0) wurden die internistischen Routine-Laborparameter und die wichtigsten metabolischen Laborwerte bestimmt. Außerdem erfolgte die standardisierte Erhebung der Anamnese und der anthropometrischen und psychologischen Parameter. Zur Erfassung der Lebensqualität wurde der EUROHIS-QOL-8-Item-Index [14] und zur Erfassung depressiver Symptome der Patient Health Questionnaire (PHQ-9) [15] genutzt. Bei psychischen Auffälligkeiten fand eine psychologische Vorstellung statt. Patienten mit Indikation für eine primäre bariatrisch-chirurgische Therapie gemäß der geltenden Leitlinien wurden bei entsprechendem Patientenwunsch chirurgisch weiter behandelt [16]. Alle Patienten, welche die Kriterien für die Programmteilnahme erfüllten, wurden eingeschlossen.

Die Patienten wurden je nach BMI, körperlicher Leistungsfähigkeit und zeitlicher Verfügbarkeit in die Module DOC WEIGHT[17], M.O.B.I.L.I.S. [18] oder das „Individuelle Therapieprogramm“ [19] eingeteilt. Jedes Modul dauerte 12 Monate. Je nach Modul fanden bis zu 6 diättherapeutische Einzelsitzungen, 6–12 diättherapeutische Gruppensitzungen, 40–48 Bewegungseinheiten in der Gruppe und 10–12 verhaltenstherapeutische Gruppensitzungen statt (detaillierte Auflistung der Modulinhalte siehe Supplement, Tab. 1). Bestand über die geplanten Sitzungen hinaus die Notwendigkeit zu Einzelgesprächen im diättherapeutischen und/oder psychotherapeutischen Bereich, konnte während des gesamten Therapiejahres die Vereinbarung von zusätzlichen Terminen erfolgen. Durch die Zeit zwischen Eingangsuntersuchung bis zum Start des jeweiligen Moduls, dem Nachholen von Fehlterminen und der Zeit nach Ende des Moduls bis zur 1. Verlaufsuntersuchung ergab sich eine mittlere Dauer des ersten Abschnitts des Programms von 507±81 Tagen (±Standardabweichung) ([Abb. 1b]).

Zoom Image
Abb. 1 a Gewichtsveränderung in Abhängigkeit des Therapiefortschritts (n=243). b Kumulativer Anteil der Completer, die die 1. Verlaufsuntersuchung absolviert haben.

Nach Abschluss des ersten Abschnitts des konservativen Therapieprogramms fand eine ärztliche Abschlussuntersuchung (1. Verlaufsuntersuchung, t1) statt, bei der erneut alle Parameter der Eingangsuntersuchung erhoben wurden. Die Kosten pro Patient für den kompletten ersten Therapieabschnitt betrugen durchschnittlich 2022 €. Die Kosten wurden im Rahmen des IV-Vertrags vollständig von der AOK PLUS übernommen. Im Anschluss an die 1. Verlaufsuntersuchung erfolgte eine Besprechung jedes Patienten mit dem Internisten, Ernährungstherapeuten, Psychologen und ggf. bariatrischen Chirurgen zur Festlegung des weiteren Therapieverlaufs. Bei Patientenwunsch wurde nach Abschluss des ersten konservativen Therapieabschnitts die Option einer bariatrischen Operation besprochen. Das konservative Therapieprogrammlief dann über weitere 3 Jahre in etwas reduzierter Intensität. Die Daten hierzu liegen aktuell noch nicht vor.

Im Zeitraum vom 01.08.2014 bis zum 15.09.2016 wurden 411 Personen in das Leipziger Adipositasmanagement eingeschrieben. Von 411 in das Programm eingeschriebenen Personen begannen 382 (93%) das konservative Therapieprogramm, für die übrigen 29 (7%) Patienten wurde entsprechend der S3-Leitlinie Chirurgie der Adipositas [16] die Indikation für einen bariatrischchirurgischen Eingriff gestellt. Das durchschnittliche Alter zum Zeitpunkt des Einschlusses betrug 43,4±13,9 Jahre, 72% (n=274) der Teilnehmer waren weiblich. Der durchschnittliche BMI betrug 44,3±6,9 kg/m², das Gewicht 127,3±24,8 kg. Einen Diabetes mellitus Typ 2 hatten bei Erstvorstellung 118 (31%) Patienten ([Tab. 1]), die Diagnose arterielle Hypertonie bestand bei 233 (61%) Patienten.

Tab. 1 Baseline-Charakteristiken der in das konservative Therapieprogramm eingeschlossenen Patienten (n=382).

Alter (Jahre)

43,4±13,9

  • Frauen (n=274; 72%)

42,6±14,0

  • Männer (n=108; 28%)

45,3±13,4

Gewicht (kg)

127,3±24,8

  • Frauen

120,5±20,3

  • Männer

144,3±26,9

Body-Mass-Index (kg/m2)

44,3±6,9

  • Frauen

44,6±6,9

  • Männer

43,3±7,2

Taillenumfang (cm)§

129,5±15,3

  • Frauen

124,8±13,5

  • Männer

140,7±13,5

Hüftumfang (cm)

139,0±14,5

  • Frauen

138,4±20,8

  • Männer

136,5±14,2

Nüchternglukose (mmol/l)

6,3±1,8

Hämoglobin A1c (%)

5,9±0,9

Diabetes mellitus Typ 2 – n (%)

118 (31%)

C-Peptid (nmol/l)

1,4±0,6

Gesamtcholesterin (mmol/l)

5,1±1,0

Low-density-Lipoprotein-Cholesterin (mmol/l)

3,3±0,9

High-density-Lipoprotein-Cholesterin (mmol/l)

1,2±0,3

Triglyzeride (mmol/l)

1,8±1,0

C-reaktives Protein (mg/l)

8,4±6,6

Aspartat-Aminotransferase (μkat/l)

0,5±0,2

Alanin-Aminotransferase (μkat/l)

0,6±0,4

Gamma-Glutamyltransferase (μkat/l)

0,7±0,6

Lebensqualität nach EUROHIS-QOL (Punkte)

25,6±5,4

depressive Symptome nach PHQ-9 (Punkte)||

7,9±5,1

Mittelwerte±Standardabweichung bzw. Anzahl (% von allen eingeschlossenen Teilnehmern). EUROHIS-QOL=EUROHIS-QOL-8-Item-Index; PHQ-9=Patient Health Questionnaire. Nur von §248, 243, 232 bzw. ||328 Patienten Daten vorhanden. Diagnose wurde gestellt, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt wurde: vordiagnostizierter Diabetes mellitus, Therapie mit Antidiabetika, HbA1c≥6,5% oder Nüchternglukose≥7,0 mmol/l.

Die Bestimmung der Laborparameter erfolgte zentralisiert im Institut für Laboratoriumsmedizin, Klinische Chemie und Molekulare Diagnostik des Universitätsklinikums Leipzig. Für die Bestimmung der Insulinresistenz wurde die Kalkulation nach dem homeostasis model assessment of insulin resistance (HOMA-IR) verwendet. Dafür wurde die Nüchternglukose (mmol/l) mit dem Nüchterninsulin (pmol/l) multipliziert und durch den Faktor 156,2625 geteilt [20].

Ziel der Datenanalyse war es, die tatsächlich in der Versorgung von Patienten mit Adipositas Grad 2 und 3 erzielbaren Effekte darzustellen, wenn die Bedingungen durch einen IV-Vertrag so optimal wie möglich gestaltet werden. Das methodische Design entspricht einer prospektiven Auswertung klinischer Real-World-Daten. Das Programm wurde von der Ethikkommission der Universität Leipzig unter dem Aktenzeichen 157-12-12122011 registriert. Die statistische Auswertung erfolgte mit R, Version 3.5.1, mit Excel 2010, Version 14.0 sowie mit SPSS, Version 24.


#

Ergebnisse

Zwischen Eingangs- und 1. Verlaufsuntersuchung vergingen durchschnittlich 507±81 Tage. Von den 382 konservativ therapierten Teilnehmern brachen 137 (36%) das Programm vorzeitig ab (Non-Completer). Bei der Mehrzahl der Fälle wurde entweder Zeitmangel oder gar kein Grund für den Abbruch angegeben. Bei 2 (1%) Patienten wurde während des ersten Therapieabschnitts aufgrund ausgeprägter Komorbidität und der Notwendigkeit einer raschen Gewichtsreduktion eine Überleitung zur bariatrischen Chirurgie beschlossen. 243 (64%) Personen absolvierten das komplette konservative Programm (Completer) und wurden in die 1. Verlaufsuntersuchung mit einbezogen. Im Vergleich der t0-Daten (Eingangsuntersuchung) der Non-Completer und Completer zeigten sich signifikante Unterschiede in Alter (40,0±14,2 vs. 45,3±13,4 Jahre; Differenz Non-Completer – Completer –5,3 Jahre; 95%-KI –8,1–(–2,4); p<0,001), High-density-Lipoprotein-Cholesterin (1,2±0,3 vs. 1,3±0,3 mmol/l; Differenz –0,1 mmol/l; 95%-KI –0,2–0,0; p<0,01), Triglyzeriden (2,0±1,2 vs. 1,7±0,8 mmol/l; Differenz 0,3 mmol/l; 95%-KI 0,1–0,6; p<0,01), Lebensqualität (24,6±5,7 vs. 26,2±5,1; Differenz –1,6; 95%-KI –2,8–(–0,4); p<0,05) und depressiven Symptomen (8,8±5,4 vs. 7,3±4,9; Differenz 1,5; 95%-KI 0,4–2,6; p<0,05) (Supplement, Tab. 2). Alle anderen Parameter unterschieden sich nicht signifikant (Supplement, Tab. 2).

In der Gruppe der Completer reduzierte sich der BMI über den Untersuchungszeitraum von 44,4±7,1 kg/m2 auf 42,6±7,7 kg/m2 (Differenz –1,8 kg/m2; 95%-KI –2,2–(–1,3); p<0,001) ([Tab. 2]). Bei den weiblichen Teilnehmern reduzierte sich der BMI durchschnittlich um 1,9±3,7 kg/m2 (95%-KI –2,4–(–1,3); p<0,001), bei den männlichen Teilnehmern um 1,5±2,5 kg/m2 (95%-KI –2,1–(–0,9); p<0,001). In der BMI-Reduktion zeigte sich kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen Frauen und Männern (p=0,39). Das Gewicht aller Completer reduzierte sich durchschnittlich von 126,8±24,8 kg auf 121,8±26,0 kg (Differenz –5,0 kg; 95%-KI –6,2–(–3,8); Spannweite: –47,8–(+16,5 kg); prozentuale Differenz –4,0% des Ausgangsgewichts; 95%-KI –4,9– (–3,1); p<0,001) ([Tab. 2], [Abb. 2]). Im Verlauf des konservativen Therapieprogramms zeigte sich in den Zwischenmessungen des Gewichts eine kontinuierliche Gewichtsabnahme ([Abb. 1a]). Bei getrennter Betrachtung der Geschlechter reduzierte sich das durchschnittliche Gewicht der weiblichen Completer von 119,9±19,7 kg auf 114,9±21,2 kg (Differenz –5,0 kg; 95%-KI –6,5–(–3,5); prozentuale Differenz –4,2% des Ausgangsgewichts; 95%-KI –5,4–(–3,0); p<0,001), das der männlichen Completer von 143,7±27,9 kg auf 138,8±29,1 kg (Differenz –4,9 kg; 95%-KI –6,8–(–3,0); –3,5% des Ausgangsgewichts; 95%-KI –4,9–(–2,2); p<0,001). Es gab keinen statistisch signifikanten Unterschied in der absoluten Gewichtsreduktion zwischen Frauen und Männern (p=0,95). Bei Betrachtung der Gewichtsabnahme in Abhängigkeit des Alters zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen Altersgruppen (Supplement, ▶Abb. S4).

Zoom Image
Abb. 2 Gewichtsveränderung der einzelnen Teilnehmer zwischen Eingangs- und 1. Verlaufsuntersuchung in kg (n=243).

Tab. 2 Entwicklung der anthropometrischen, metabolischen und psychologischen Parameter für alle Teilnehmer, die den ersten Therapieabschnitt erfolgreich beendet haben (Completer, n=243).

Eingangsuntersuchung

1. Verlaufsuntersuchung

Therapieeffekt (95%-KI)

p-Wert

Körpergewicht (kg)

126,8±24,8

121,8±26,0

–5,0 (–6,2–(–3,8))

<0,001

  • Frauen (n=173; 71,2%)

119,9±19,7

114,9±21,2

–5,0 (–6,5–(–3,5))

<0,001

  • Männer (n=70; 28,8%)

143,7±27,9

138,8±29,1

–4,9 (–6,8–(–3,0))

<0,001

Body-Mass-Index (kg/m2)

44,4±7,1

42,6±7,7

–1,8 (–2,2–(–1,3))

<0,001

  • Frauen

44,3±6,9

42,5±7,4

–1,9 (–2,4–(–1,3))

<0,001

  • Männer

44,5±7,8

43,0±8,4

–1,5 (–2,1–(–0,9))

<0,001

Taillenumfang (cm)§

130,2±15,0

125,8±16,4

–4,3 (–5,5–(–3,1))

<0,001

  • Frauen

125,5±12,9

120,7±13,7

–4,8 (–6,4–(–3,3))

<0,001

  • Männer

140,9±14,1

137,7±16,0

–3,2 (–4,9–(–1,4))

<0,001

Hüftumfang (cm)

138,9±14,6

134,6±15,9

–4,3 (–5,5–(–3,1))

<0,001

  • Frauen

140,0±14,2

135,7±15,2

–4,3 (–5,8–(–2,8))

<0,001

  • Männer

136,4±15,2

132,0±17,2

–4,4 (–6,3–(–2,4))

<0,001

Nüchternglukose (mmol/l) ([Abb. 3a])

6,3±1,6

6,1±1,5

–0,2 (–0,4–(–0,0))

<0,001

Hämoglobin A1c (%)

5,9±0,9

5,6±0,8

–0,3 (–0,4–(–0,2))

<0,001

  • Diabetiker (n=76)

6,7±1,2

6,2±1,1

–0,4 (–0,6–(–0,2))

<0,001

  • Nichtdiabetiker (n=164)

5,6±0,4

5,3±0,4

–0,2 (–0,3–(–0,2))

<0,001

C-Peptid (nmol/l)

1,4±0,6

1,3±0,7

–0,1 (–0,2–(–0,0))

<0,01

  • Diabetiker

1,6±0,8

1,5±1,0

–0,1 (–0,2–0,0)

0,16

  • Nichtdiabetiker

1,3±0,5

1,2±0,5

–0,1 (–0,2–(–0,0))

<0,01

Gesamt-Cholesterin (mmol/l)

5,1±1,0

5,0±1,0

–0,2 (–0,3–(–0,1))

<0,001

LDL-Cholesterin (mmol/l)

3,4±0,8

3,2±0,8

–0,1 (–0,3–(–0,0))

<0,001

HDL-Cholesterin (mmol/l)

1,3±0,3

1,3±0,4

0,0 (0,0–0,1)

<0,01

Triglyzeride (mmol/l)

1,7±0,8

1,6±0,8

–0,1 (–0,2–0,1)

0,18

C-reaktives Protein (mg/l)

8,2±6,8

7,5±7,8

–0,8 (–1,8–0,2)

0,06

ASAT (μkat/l)

0,5±0,2

0,5±0,2

–0,1 (–0,1–(–0,0))

<0,001

ALAT (μkat/l)

0,6±0,3

0,5±0,4

–0,1 (–0,1–(–0,0))

<0,001

GGT (μkat/l)

0,7±0,5

0,6±0,5

–0,1 (–0,1–(–0,0))

<0,001

Lebensqualität nach EUROHIS-QOL (Punkte)

26,2±5,1

27,9±5,5

1,7 (1,2–2,3)

<0,001

depressive Symptome nach PHQ-9 (Punkte)

7,3±4,9

6,0±4,5

–1,4 (–1,9–(–0,8))

<0,001

Taillen- und Hüftumfänge wurden erst im Verlauf des Programms standardisiert erhoben und lagen erst bei später eingeschlossenen Teilnehmern vollständig vor. Der Taillenumfang (n=146) reduzierte sich bei Frauen von 125,5±12,9 cm auf 120,7±13,7 cm (Differenz –4,8 cm; 95%-KI –6,4–(–3,3); p<0,001), bei Männern von 140,9±14,1 cm auf 137,7±16,0 cm (Differenz –3,2 cm; 95%-KI –4,9–(–1,4); p<0,001). Der Hüftumfang (n=141) reduzierte sich bei Frauen von 140,0±14,2 cm auf 135,7±15,2 cm (Differenz –4,3 cm; 95%-KI –5,8–(–2,8); p<0,001), bei Männern von 136,4±15,2 cm auf 132,0±17,2 cm (Differenz –4,4 cm; 95%-KI –6,3–(–2,4); p<0,001) ([Tab. 2]).

Der Hämoglobin-A1c (HbA1c) -Wert der Completer reduzierte sich von 5,9±0,9% auf 5,6±0,8% (Differenz –0,3%; 95%-KI –0,4–(–0,2); p<0,001). Bei Differenzierung von Patienten mit und ohne Diabetes mellitus zeigte sich in beiden Gruppen eine signifikante Verbesserung des HbA1c ([Tab. 2], [Abb. 3b]). Die mittels HOMA-IR ermittelte Insulinresistenz verbesserte sich bei der Gesamtheit der Patienten im Laufe des Untersuchungszeitraums signifikant von 5,6±3,9 auf 4,7±2,8 (Differenz –1,0; 95%-KI –1,5–(–0,5); p<0,001; n=202). Insulingeführte Diabetiker und Personen, bei denen sich die Diabetes-Medikation im Verlauf änderte, wurden aus dieser Analyse ausgeschlossen (n=38). In der Gruppe der nicht insulingeführten Diabetiker zeigte sich eine Verbesserung von 7,1±4,5 auf 5,1±2,8 (n=44; Differenz – 2,0; 95%-KI –3,0–(–0,9); p<0,001). In der Gruppe der Patienten ohne Diabetes mellitus zeigte sich eine Verbesserung von 5,2±3,6 auf 4,5±2,8 (n=158; Differenz –0,7; 95%-KI –1,3–(–0,2); p<0,01) ([Abb. 3c]).

Zoom Image
Abb. 3 Veränderung von a Nüchternglukose (mmol/l), b Homeostasis model assessment of insulin resistance (HOMA-IR) und c Hämoglobin A1c (HbA1c) (%) zwischen Eingangs- und 1. Verlaufsuntersuchung; für alle Teilnehmer, für die vollständige Laborwerte vorliegen (links), und aufgeteilt in Patienten mit und ohne Diabetes mellitus (rechts). §Die Einordnung in Diabetes-mellitus-Patienten/Nichtdiabetiker erfolgte anhand der vorliegenden Daten zur Eingangsuntersuchung. †Insulingeführte Diabetes-mellitus-Patienten und Personen, bei denen sich die Diabetes-Medikation im Verlauf änderte, wurden aus dieser Analyse ausgeschlossen.

Die Lipidwerte verbesserten sich ebenfalls. Das Gesamtcholesterin reduzierte sich von 5,1±1,0 mmol/l auf 5,0±1,0 mmol/l (Differenz –0,2 mmol/l; 95%-KI –0,3–(–0,1); p<0,001), das Low-density-Lipoprotein-Cholesterin reduzierte sich von 3,4±0,8 mmol/l auf 3,2±0,8 mmol/l (Differenz –0,1 mmol/l; 95%-KI –0,3–0,0; p<0,001) ([Tab. 2]).

Die Lebensqualität der Completer verbesserte sich im Summenwert des EUROHIS-QOL-Fragebogens von 26,2±5,1 auf 27,9±5,5 (Differenz 1,7; 95%-KI 1,2–2,3; p<0,001) ([Tab. 2]). Bei der Itemweisen Analyse zeigte sich, dass sich die Zufriedenheit mit dem Gesundheitszustand, die Leistungsfähigkeit, die psychische Gesundheit und Zufriedenheit mit persönlichen Beziehungen verbesserte. Die Werte der Items, die gesundheitsunabhängige Aspekte abfragten (z. B. die finanzielle Situation), sowie die Einschätzung der Lebensqualität allgemein veränderten sich nicht (Supplement, ▶ Tab. S3). Die Ausprägung depressiver Symptome reduzierte sich im Summenwert des PHQ-9-Fragebogens von 7,3±4,9 auf 6,0±4,5 (Differenz –1,4; 95%-KI –1,9–(–0,8); p<0,001). Mit Ausnahme der Konzentrationsfähigkeit und des Interesses/der Freude an den Tätigkeiten verbesserten sich hier die Werte aller Items (Supplement, ▶Tab. S4). Der Gewinn an Lebensqualität (Summenwert EUROHIS-QOL) und die Reduktion depressiver Symptome (Summenwert PHQ-9) fanden unabhängig von der Gewichtsreduktion statt.


#

Diskussion

Die konservativen Therapieangebote zur Gewichtsreduktion für Patienten mit Adipositas sind in Deutschland sehr limitiert. Anträge auf Kostenübernahme bei Krankenversicherungen sind zeitraubend und werden oftmals nicht oder nur anteilig bewilligt. Stattdessen wird immer mehr Geld für die medikamentöse Therapie der Folgeerkrankungen der Adipositas ausgegeben, wie z. B. für neu entwickelte Antidiabetika [21] und Lipidsenker [22]. Eine mögliche Ursache für die ungenügende Finanzierung der Therapie der Adipositas und damit der Prävention metabolischer Komplikationen ist der Mangel an Real-World-Daten, die die Effektivität konservativer Programme zur Gewichtsreduktion belegen. Solche Daten sind notwendig, da sie oft andere Ergebnisse liefern als Daten aus Therapien innerhalb kontrollierter Studien [12].

Das Therapieprogramm Leipziger Adipositasmanagement ist komplett kassenfinanziert. Durch die vertragliche Finanzierungsregelung innerhalb eines IV-Vertrags entfällt die Antragsstellung für jeden einzelnen Patienten. Das Programm richtet sich an Patienten mit Adipositas Grad 2 und 3, die ein besonders hohes Risiko für Komorbiditäten und eine frühzeitige Mortalität durch die Adipositas haben. Patienten mit Therapiewunsch können ohne Überweisungsschein und ohne komplizierte Antragsstellung bei der Krankenkasse bei Interesse und Erfüllung der Einschlusskriterien (BMI≥35 kg/m², ausreichende Motivation, Gruppenfähigkeit) in das Programm eingeschlossen werden. Der konservative Teil umfasst Ernährungs-, Verhaltens- und Bewegungstherapie.

In unserem klinischen Behandlungsprogramm lag die Therapietreue (engl. adherence, definiert von der WHO als: „das Ausmaß, in welchem das Verhalten eines Menschen bezüglich Medikamenteneinnahme, dem Einhalten einer Ernährungsumstellung und/oder Änderungen des Lebenswandels mit den Empfehlungen des Therapeuten übereinstimmt [23]“) über den gesamten ersten Abschnitt (im Mittel 72 Wochen) bei insgesamt 64% (Completer), die übrigen 36% der Patienten nahmen nicht alle Termine wie empfohlen wahr und für sie wurde das Programm beendet (Non-Completer). Die Therapietreue in unserer Real-World-Beobachtung ist damit deutlich höher als die Therapietreue in der medikamentösen Therapie, die für viele chronische Krankheiten vermutet wird; diese liegt oft nur in der Größenordnung von 50% [24]. Verglichen mit anderen Programmen zur Gewichtsreduktion durch Ernährungstherapie und Sport war die Therapietreue in unserem Kollektiv etwa ähnlich, in einer Metaanalyse lag die Therapietreue anderer Programme bei 60,5% (95%-KI 53,6–67,2) [25].

Die von uns berichteten Effektstärken beziehen sich auf die Gruppe der Completer, die 64% der Teilnehmer, die den kompletten ersten Abschnitt des Programms absolviert haben. Die insgesamt 137 Non-Completer beendeten das Programm meistens dadurch, dass sie die Termine nicht mehr wahrnahmen und dann aus dem Programm ausgeschlossen wurden. Von insgesamt 52 Non-Completern konnten Verlaufsgewichte nach t0 erfasst werden, die späteste Gewichtsmessung erfolgte im Durchschnitt 241 Tage nach t0. Zu diesem Zeitpunkt lag das Gewicht der Non-Completer, von denen eine Verlaufsmessung vorlag, 2,1±4,5 kg (Spannweite –14,6–+5,5 kg) unter dem Ausgangsgewicht bei t0. Kosten entstanden für die Krankenkasse nur, wenn der Patient tatsächlich Termine wahrnahm, die Abrechnung erfolgte quartalsweise.

Innerhalb des Untersuchungszeitraums konnten 70% der Completer eine Gewichtsreduktion erreichen, die durchschnittliche Gewichtsabnahme lag bei 5,0 kg, der BMI wurde um 1,9 kg/m2 (Frauen) und 1,5 kg/m2 (Männer) reduziert. Eine Gewichtsabnahme in dieser Größenordnung ist klinisch signifikant und führt zu einer Verbesserung der Komorbiditäten, wie bereits andere Studien gezeigt haben [8].

Die Teilnahme am Programm Leipziger Adipositasmanagement führte bei den Completern zu einer deutlichen Verbesserung metabolischer Parameter. Eine Mortalitätssenkung und Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse durch Gewichtreduktion kann laut Studienlage vor allem bei adipösen Patienten erreicht werden, die bereits metabolische Veränderungen aufweisen [26]. Besonders in dieser Patientengruppe sahen wir bei den Completern deutliche Verbesserungen: beispielsweise sank der HbA1c in der Subgruppe der Diabetes-mellitus-Patienten signifikant von 6,7 auf 6,2%.

In einer weiteren Subgruppenanalyse zeigte sich, dass es keinen signifikanten Unterschied der absoluten Gewichtsreduktion zwischen therapieadhärenten Männern und Frauen gab. Interessanterweise gab es auch keine signifikanten Unterschiede in der Gewichtsreduktion der unterschiedlichen Altersgruppen (Supplement, ▶Abb. S4). Eine Limitierung der Finanzierung von Programmen zur Gewichtsreduktion auf bestimmte Altersgruppen wäre nach unseren Daten damit nicht gerechtfertigt.

Das Programm beinhaltete auch regelmäßige psychologische Evaluationen und, je nach Bedarf, Konsultationen. Psychische Krisen, die eine erfolgreiche Gewichtsreduktion gefährdeten, wurden innerhalb des Programms therapiert. Die mit Fragebögen erfassten Parameter „depressive Symptome“ und „Lebensqualität“ verbesserten sich bei den Completern durch das Programm signifikant, liegen aber in dieser Gruppe von adipösen, oft multimorbiden Patienten auch nach Ende der Therapie unterhalb der Werte einer deutschen Referenzpopulation [27]. Beide psychologischen Parameter verbesserten sich unabhängig von der Gewichtsreduktion.

Die durchschnittlichen Kosten des hier berichteten ersten Therapieabschnitts für die Patienten, die den gesamten ersten Abschnitt erfolgreich absolvierten, in Höhe von 2022 € pro Patient zeigen ein deutlich besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis als der Einsatz von Medikamenten zur Gewichtsreduktion. Beispielsweise sind die Medikamentenkosten für eine Therapie mit dem in Deutschland zur Gewichtsabnahme zugelassenen Liraglutid 3 mg für 1 Jahr aktuell mit ca. 3500 € gelistet. Hierbei sind die zur Rezeptierung notwendigen ärztlichen Vorstellungen, die Kosten für Blutzuckerkontrollen und die Rezeptgebühren noch nicht mit eingerechnet. In der klinischen Phase-III-Studie wurden durch das Medikament nach einem Jahr durchschnittlich 5,6 kg Gewicht abgenommen. Die Kosten pro kg abgenommenes Gewicht sind dort also wesentlich höher, zudem nach ca. 9 Monaten medikamentöser Therapie ein Plateau in der Gewichtreduktion erreicht wurde. Dieses Plateau wurde nur dann gehalten, wenn das Medikament weiter verschrieben wurde, nach Absetzen nahmen die Patienten das zuvor abgenommene Gewicht wieder komplett zu [28], [29]. Die Daten unseres konservativen Programms zur Gewichtsreduktion zeigen bei Betrachtung der Gewichtsentwicklung über den Untersuchungszeitraum eine kontinuierliche Gewichtsreduktion ([Abb. 1a]). Weiterführende Analysen werden die über den ersten Therapieabschnitt hinausgehende Effektivität des Programms im 2. bis 4. Therapiejahr untersuchen.

Unsere Daten belegen unter Real-World-Bedingungen, dass ein über einen IV-Vertrag voll kassenfinanziertes Therapieprogramm bei Adipositas Grad 2 und 3 eine klinisch relevante Gewichtsreduktion und damit verbundene metabolische Verbesserungen erreicht. Diese Daten sollten dazu animieren, das Angebot an kassenfinanzierten multimodalen Therapieprogrammen der Adipositas weiter auszubauen, um so die aktuell in Deutschland bestehende Versorgungslücke bei Adipositas zu schließen, damit langfristig Komorbiditäten der Adipositas und deren hohe Kosten für das Gesundheitswesen vermieden werden können.

Kernaussagen
  • Volle Finanzierung eines großen konservativen Behandlungsprogramms durch eine Krankenkasse über Vertrag zur integrierten Versorgung (IV-Vertrag) möglich.

  • Real-World-Daten: Gewichtsreduktion bei 70% der Teilnehmer, die den ersten Abschnitt des multimodalen Programms mit Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie abgeschlossen haben; durchschnittliche Gewichtsabnahme aller Completer von 5 kg (95%-Konfidenzintervall 3,8–6,2).

  • Kontinuierliche Gewichtsabnahme über den gesamten Behandlungszeitraum; ähnliche Effekte für alle Altersgruppen zwischen 18 und 76 Jahren.

  • Signifikante Verbesserungen der wichtigsten kardiovaskulären Risikofaktoren mit HbA1c-Senkung in der Gruppe aller Completer von 5,9 auf 5,6%, bei Diabetes-mellitus-Patienten von 6,7 auf 6,2%; LDL-Cholesterin-Senkung von 3,4 auf 3,2 mmol/l.

  • Ein Gewichtsabnahmeprogramm unter Real-World-Bedingungen beeinflusst klinisch wichtige Parameter positiv. Die Nachhaltigkeit der Intervention wird in weiterführenden Studien untersucht.


#

Zitierweise für diesen Artikel

Frenzel, SV, Bach S, Ahrens S et al.: Ausweg aus der Versorgungslücke: Voll Krankenkassen-finanzierte konservative Adipositas-Therapie. DMW - Deutsche Medizinische Wochenschrift 2020; 145(14): 78–86. DOI: 10.1055/a-1134-1896


#
#

Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Danksagung

Wir bedanken uns bei David Petroff für die Hilfe bei Statistik und Abbildungserstellung und bei Charlott Kranepuhl und Marlen Schmidt für die Unterstützung bei der Datenerhebung und Dokumentation.

Zusätzliches Material


Korrespondenzadresse

Dr. med. Haiko Schlögl
Universitätsklinikum Leipzig
Medizinische Klinik III, Bereich Endokrinologie, Liebigstraße 20
04103 Leipzig
Deutschland   

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
07. März 2022

© 2020. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


Zoom Image
Abb. 1 a Gewichtsveränderung in Abhängigkeit des Therapiefortschritts (n=243). b Kumulativer Anteil der Completer, die die 1. Verlaufsuntersuchung absolviert haben.
Zoom Image
Abb. 2 Gewichtsveränderung der einzelnen Teilnehmer zwischen Eingangs- und 1. Verlaufsuntersuchung in kg (n=243).
Zoom Image
Abb. 3 Veränderung von a Nüchternglukose (mmol/l), b Homeostasis model assessment of insulin resistance (HOMA-IR) und c Hämoglobin A1c (HbA1c) (%) zwischen Eingangs- und 1. Verlaufsuntersuchung; für alle Teilnehmer, für die vollständige Laborwerte vorliegen (links), und aufgeteilt in Patienten mit und ohne Diabetes mellitus (rechts). §Die Einordnung in Diabetes-mellitus-Patienten/Nichtdiabetiker erfolgte anhand der vorliegenden Daten zur Eingangsuntersuchung. †Insulingeführte Diabetes-mellitus-Patienten und Personen, bei denen sich die Diabetes-Medikation im Verlauf änderte, wurden aus dieser Analyse ausgeschlossen.