Entzündliche Komplikationen von CGRP(-Rezeptor)-Antikörpern
Entzündliche Komplikationen von CGRP(-Rezeptor)-Antikörpern
*** Ray JC, Allen P, Bacsi A, et al. Inflammatory complications of CGRP monoclonal
antibodies: a case series. The Journal of Headache and Pain 2021; 22: 121
Hintergrund
Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) ist ein multifunktionales Neuropeptid, das
ubiquitär vorkommt und in der Migränepathophysiologie eine entscheidende Rolle spielt.
Monoklonale Antikörper gegen CGRP und den CGRP-Rezeptor sind seit 2018 zur prophylaktischen
Behandlung der Migräne zugelassen. Sowohl in randomisiert-kontrollierten Studien als
auch open label und in Real-world-Studien zeigten diese Substanzen ein sehr günstiges
Nebenwirkungsprofil. Aufgrund der Neuigkeit dieser Substanzklassen sind weitere Analysen
nach Markteinführung jedoch sinnvoll. Da der CGRP-Signalweg auf vielfältiger Weise
mit dem Immunsystem interagiert, ist die Analyse von möglichen immunologischen Nebenwirkungen
von besonderer Bedeutung.
Zusammenfassung
Es handelt sich um eine Fallserie über neu aufgetretene oder deutlich verschlechterte
inflammatorische Syndrome in Zusammenhang mit einer CGRP(-Rezeptor)-Antikörpertherapie.
Die Autoren berichten über 8 Fälle aus Kopfschmerzpraxen und -zentren in Irland und
Australien in den Jahren 2019 und 2020. Die präsentierten Fälle umfassen ein breites
Spektrum an inflammatorischen Komplikationen, die sich wie folgt zusammensetzen:
-
Ein 56-jähriger Mann mit bekannter rheumatoider Arthritis entwickelte eine Autoimmunhepatitis
nach der ersten Erenumab-Behandlung.
-
Eine 67-jährige Frau ohne bekannte inflammatorische Erkrankungen wurde nach 12 Monaten
Behandlung mit Erenumab mit einem Susac-Syndrom diagnostiziert.
-
Eine 44-jährige Frau ohne relevante Vorerkrankungen entwickelte ein DRESS-Syndrom
(Drug Rash with Eosinophilia and Systemic Symptoms) nach einer Dosis Erenumab.
-
Eine 32-jährige Frau ohne relevante Vorerkrankungen wurde nach Therapie mit Erenumab
(6 Monate) und Fremanezumab (5 Monate) mit Granulomatose mit Polyangiitis diagnostiziert.
-
Eine 20-jährige Frau mit bekannter IgG4-assoziierter Erkrankung entwickelte eine schwere
generalisierte Polyarthralgie nach einer Dosis Galcanezumab.
-
Eine 45-jährige Frau mit bekannter Psoriasis zeigte eine schwere Exazerbation ihrer
Erkrankung nach einmaliger Behandlung mit Galcanezumab.
-
Eine 41-jährige Frau mit bekannter Psoriasis-Arthritis entwickelte einen Krankheitsschub
nach der ersten Erenumab-Behandlung.
-
Eine 46-jährige Frau ohne relevante Vorerkrankungen entwickelte Urticaria nach 18
Behandlungen mit Erenumab.
Allen Fällen gemeinsam ist der enge zeitliche Zusammenhang mit einer CGRP-(Rezeptor)-Antikörpertherapie,
das Fehlen anderer eindeutiger Auslöser sowie die Besserung nach Beendigung der Antikörpertherapie,
was einen kausalen Zusammenhang vermuten lässt. Für die Entstehung dieser entzündlichen
Syndrome werden zahlreiche immunologische Mechanismen diskutiert. Insgesamt kommt
durch CGRP zu einer Hemmung der angeborenen Immunität und Blockade von inflammatorischen
Signalwegen. Eine Inhibierung des CGRP-Signalweges durch Antikörper könnte umgekehrt
zu einer Hyperaktivierung entzündlicher Prozesse führen.
Kommentar
Die Beobachtung von entzündlichen Komplikationen unter CGRP(-Rezeptor)-Antikörpern
erscheint relevant aus pathophysiologischer als auch klinischer Sicht. Die präsentierten
Fälle sind gut ausgearbeitet und ein Zusammenhang mit der Antikörpertherapie erscheint
plausibel. Einige wesentliche Limitationen sollten jedoch berücksichtigt werden. Erstens
handelt es sich um eine kleine Fallserie. Wenn man bedenkt, wie viele Patienten in
2 Ländern über 2 Jahre mit CGRP(-Rezeptor)-Antikörpern behandelt wurden, erscheint
die Inzidenz solcher Komplikationen sehr gering und deren klinischen Relevanz fraglich.
Zweitens ist hier die Kausalität nicht bestätigt und die Möglichkeit einer reinen
Koinzidenz nicht ausgeschlossen. Drittens wurden die Diagnosen in der Hälfte der Fälle
nicht durch eine Biopsie validiert, sondern lediglich klinisch gestellt. Die Inzidenz
der beschriebenen immunologischen Komplikationen sollte in größeren Kohorten überprüft
und bestätigt werden. Insbesondere Patientenregister werden in Zukunft für solche
und ähnliche Fragestellungen an Bedeutung gewinnen.
Bianca Raffaelli, Berlin
Früher Beginn (vor dem 18. Lebensjahr) der Clusterkopfschmerz-Erkrankung in mehr als
ein Viertel der Patienten
Früher Beginn (vor dem 18. Lebensjahr) der Clusterkopfschmerz-Erkrankung in mehr als
ein Viertel der Patienten
***Schor LI, Pearson SM, Shapiro RE, et al. Cluster headache epidemiology including
pediatric onset, sex and ICHD criteria: Results from the International Cluster Headache
Questionnaire. Headache 2021. doi: 10.1111/head.14237
Zusammenfassung
Die hier vorliegende Veröffentlichung stellt Teilaspekte einer internationalen, Internet-basierten
Befragung von Clusterkopfschmerz-Patienten vor. Der Fragebogen umfasst 152 Fragen
hinsichtlich Symptome und ICHD-3-Kriterien, Demografie, Krankheitsgeschichte, Behandlung
und Depression (Erhebung mittels Beck Depression Inventory und Hopelessness Depression
Symptom Questionnaire). Eingeschlossen wurden volljährige Patienten mit einer ärztlich
gestellten Clusterkopfschmerz-Diagnose. 3251 Probanden nahmen an der Befragung teil,
davon wurden 1604 Patienten, die die ICHD-Kriterien erfüllten, eingeschlossen. Die
episodische Verlaufsform wurde – wie anzunehmen- häufiger diagnostiziert (78,0 %).
Die Patienten waren bei Krankheitsbeginn 27,3 ± 12,5 Jahre alt, 27,5 % berichteten
über einen Beginn in der Kindheit, also vor dem 18. Lebensjahr. Episodische Clusterkopfschmerz-Patienten
berichteten einen Krankheitsbeginn am häufigsten in einem Alter zwischen 16 und 20
Jahren, chronische Patienten hingegen zwischen 10 und 50 Jahren. Bei 6,5 % der Teilnehmer
begann die Erkrankung nach dem 50. Lebensjahr. Durchschnittlich warteten Patienten
6,2 ± 7,0 Jahre bis zur Diagnosestellung, wobei bei einem Beginn in der Kindheit die
Diagnoseverzögerung deutlich länger war (11,1 ± 9,4 Jahre). Darüber hinaus bekamen
nur 15,2 % dieser Patienten eine Diagnose vor dem 18. Lebensjahr. Wie bekannt waren
Männer häufiger von der Erkrankung betroffen (68,8 %). Frauen hatten häufiger einen
chronischen Clusterkopfschmerz, eine höhere Schmerzintensität und höhere Depressionswerte.
Kein statistisch signifikanter Unterschied zeigte sich hinsichtlich der Wirkung der
Medikamente in Frauen und Männern. Episodische Patienten berichteten von 95 Attacken/Jahr,
chronische Patienten von 301 Kopfschmerz-Attacken. Für die Ermittlung der Attackenhäufigkeit
wurde die Gesamtattackenzahl des Lebens erfragt und durch die Krankheitsdauer geteilt.
Kommentar
Zusammenfassend sind viele der Ergebnisse bekannt. Dennoch ist die Zahl der Teilnehmer
bemerkenswert und der Ansatz einer internationalen Befragung eines nicht klinischen
Patientenkollektivs aus verschiedenen Zentren ist spannend. Einschränkend ist zu sagen,
dass der Fragebogen nur auf Englisch durchgeführt werden konnte, was den Zugang sicherlich
einschränkt. Darüber hinaus muss ein recall bias bei Fragebogen-Studien bedacht werden,
insbesondere die Abschätzung der Attackenhäufigkeit ist fraglich. In den letzten Jahrzehnten
rückten Patientinnen zunehmend in den Fokus. Insofern ist der Vergleich zwischen weiblichen
und männlichen Patienten für die klinische Versorgung interessant und notwendig. Wichtig
für die Behandlung der Patienten ist der frühe Beginn der Erkrankung in mehr als einem
Viertel der Betroffenen, der mit einer relevanten Diagnoseverzögerung einhergeht.
Katharina Kamm, München
Unterschiedliche Arten der Verabreichung bei der Prävention chronischer Migräne führen
zu unterschiedlichen Placebo-Reaktionen: eine Metaanalyse
Unterschiedliche Arten der Verabreichung bei der Prävention chronischer Migräne führen
zu unterschiedlichen Placebo-Reaktionen: eine Metaanalyse
**** Swerts DB, Benedetti F, Peres MFP. Different routes of administration in chronic
migraine prevention lead to different placebo responses: a meta-analysis. Pain 2021.
doi: 10.1097/j.pain.0000000000002365
Hintergrund
Die Placebo-Reaktion ist ein wirkungsvoller Behandlungsfaktor bei verschiedenen Erkrankungen
und kann bis zu 75 % der Behandlungseffekte erklären. Jedoch ist ungeklärt, welchen
Effekt verschiedene Verabreichungsarten auf die Placebo-Reaktion ausüben. In der vorliegenden
Metaanalyse von Swerts und Koautoren werden unterschiedliche Verabreichungsarten (Injektionen
am Kopf, intravenöse oder subkutane, oder orale Gabe) hinsichtlich ihrer Placebo-Reaktion
im Rahmen einer Metaanalyse untersucht.
Zusammenfassung
Eingeschlossen wurden in die Studie 7 klinische RCT-Studien mit 5672 Patienten, welche
unter chronischer Migräne (CM) ohne weitere Komorbiditäten gelitten haben (immerhin:
zunächst wurden 1447 Publikationen gesichtet, davon wurden 51 durchgesehen und schlussendlich
7 verwertet). Verglichen wurden die Verabreichungsarten „subkutan“, „intravenös“ oder
„oral“ in der Prophylaxe der chronischen Migräne gegenüber Patienten mit multiplen
Injektionen im Kopfbereich nach dem Schema der PREEMPT-Studie. Der primäre Outcome
war die Anzahl der Migränetage pro Monat nach 12, 16 und 24 Behandlungswochen im Vergleich
zur Baseline vor Behandlungsbeginn. Die Autoren können zeigen, dass Placebo-Reaktionen
am größten waren, wenn Botulinumtoxin am Kopf injiziert wurde. Danach folgte die intravenöse
Injektion des CGRP-Antikörpers Eptinezumab (PROMISE-2). Orales Topiramat und die Gabe
subkutaner monoklonaler Antikörper (mAK) wiesen keine Differenzen auf und waren deutlich
schwächer als die Injektion am Kopf. Die Art der Verabreichung beeinflusst somit in
weitem Umfang die Placebo-Reaktion bei der Prophylaxe der chronischen Migräne. In
der aktuellen Metaanalyse konnte ein Placeboanteil von bis zu 75 % erreicht werden.
Kommentar
Die Autoren stellen eine Arbeit vor, in welcher sie die Placebo-Wirkung bei unterschiedlichen
Behandlungsarten der CM untersuchen. Dabei wird zwischen Placebo-Effekt und Placebo-Reaktion
unterschieden; letztere bezieht sich auf alle Auswirkungen auf der Gesundheit nach
inaktiver Behandlung (also ohne spezifische Medikation). Der Placebo-Effekt dagegen
bezieht sich auf alle Wirkungen aufgrund von Erwartungen, Merkmalen der Erkrankung,
Arzt-Patient-Beziehung, Umgebungsfaktoren und Art der Anwendung [1]. Dabei konnte schon früher gezeigt werden, dass die Art der Anwendung zu unterschiedlichen
Wirkungen führt. Je „invasiver“ die (Schein-)Behandlung, desto größer die Wirkung.
Die Autoren haben alles richtig gemacht – die Auswahl der Erkrankung (CM) macht Sinn,
weil sehr unterschiedliche Applikationsformen möglich sind und die CM gut definierbar
ist. Die Studien sind sehr überzeugend, zumal sie auf großen Stichproben beruhen und
somit zu stabilen Aussagen führen. Problematisch bleibt die Trennung des Placebo-Effektes
von der Placebo-Reaktion. Außerdem finden sich keine stichhaltigen Erklärungen hinsichtlich
der Überlegenheit in der Placebo-Wirkung der Injektionen am Kopf gegenüber den anderen
Interventionsformen.
Die Studie zeigt, dass auch in einer Welt hochwirksamer Medikamente der psychologische
Anteil einer Wirkung immens sein kann. Inhaltlich ist der Ansatz deswegen sehr innovativ.
Inwieweit durch bestimmte therapeutische Maßnahmen Wirkungserwartungen aufgebaut und
damit die medikamentöse Wirkung noch verstärkt werden kann, sollte jetzt untersucht
werden. Es ist bekannt, dass multimodale Behandlungsansätze, die psychologische Therapieverfahren
beinhalten, effektiver sind als die jeweiligen Einzelverfahren. Vielleicht liegt darin
der Grund für die unerwartet hohe Wirkung multimodaler Ansätze: psychologische Wirkungserwartung
und medikamentöse Intervention boostern die Einzelwirkung [2].
Peter Kropp, Rostock
INFORMATION
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Exzellente Arbeit, die bahnbrechende Neuerungen beinhaltet oder eine ausgezeichnete
Übersicht bietet
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Gute experimentelle oder klinische Studie
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Gute Studie mit allerdings etwas geringerem Innovationscharakter
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**
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Studie von geringerem klinischen oder experimentellen Interesse und leichteren methodischen
Mängeln
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Studie oder Übersicht mit deutlichen methodischen oder inhaltlichen Mängeln
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Die Kopfschmerz-News werden betreut von: Priv.-Doz. Dr. Ruth Ruscheweyh, Klinik und
Poliklinik für Neurologie, Klinikum der Universität München, Marchioninistr. 15, 81377
München, Tel. 089/440073907, ruth.ruscheweyh@med.uni-muenchen.de
Sie wird dabei unterstützt von Dr. Thomas Dresler, Tübingen (Bereich Psychologie und
Kopfschmerz), PD Dr. Gudrun Goßrau, Dresden (Bereich Kopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen)
und Dr. Katharina Kamm, München (Bereich Clusterkopfschmerz).
Die Besprechungen und Bewertungen der Artikel stellen die Einschätzung des jeweiligen
Autors dar, nicht eine offizielle Bewertung durch die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft.