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DOI: 10.1055/a-1634-1840
Teure Haftung für Pflegepersonal
Krankenhaus kommt Fehler des Pflegepersonals teuer zu stehen- Der Fall
- Die Entscheidung
- Fehler des Pflegepersonals wird zugerechnet
- Pfleger traf ärztliche Ent-scheidung
- Ungewöhnlich hohes Schmerzensgeld
- Schmerzensgeld ist Einzelfallsache
- Fazit
- Zitierweise für diesen Artikel
Ein aktuelles Urteil macht deutlich, dass nicht nur ärztliche Behandlungsfehler teuer werden können. Aufgrund eines groben Fehlers eines Pflegers wurde eine Klinik zu sehr hohem Schmerzensgeld verurteilt.
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Das Fehlverhalten des Pflegers als Erfüllungsgehilfe wurde der Beklagten zugerechnet und ein grober Behandlungsfehler bereits im Jahr 2015 festgestellt. Nach weiteren 5 Jahren steht nunmehr auch die Summe, die als Schmerzensgeld zu zahlen ist, fest: 800000,- €.
Der Fall
Bei dem Patienten handelt es sich um ein Kind, das im Alter von 5 Jahren stationär in einer Klinik für Kinder- und Jugendmedizin behandelt wurde. Das Kind war mit dem Rettungsdienst in das Krankenhaus der Beklagten eingeliefert worden. Der Junge litt unter hohem Fieber und Schüttelfrost und wurde mit der Diagnose „Fieber unklarer Genese“ stationär aufgenommen. Neben der Gabe von Ibuprofen und Paracetamol wurde eine Infusionstherapie zur Sicherstellung eines ausgeglichenen Flüssigkeitshaushaltes begonnen. Am Aufnahmeabend wurde der Junge zuletzt gegen kurz vor 23:00 Uhr durch den Kinderarzt untersucht, der Allgemeinzustand zu diesem Zeitpunkt wurde als „stabil“ dokumentiert. Zusätzlich wurde zu diesem Zeitpunkt ein vereinzelt aufgetretener unspezifischer Hautausschlag dokumentiert. Während der Nacht erbrach sich das Kind mehrfach. Gegen 4:00 Uhr in der Nacht hatte sich der Junge vermutlich während des Erbrechens selbst die Infusionsnadel gezogen. Der Pfleger glaubte, das Kind würde schlafen und entschied, die Infusionsnadel nicht wieder anzulegen und verständigte auch nicht den im Hintergrund in Bereitschaft stehenden Arzt. Tatsächlich war das Kind bereits somnolent. Am darauffolgenden Morgen gegen 7:00 Uhr kam es auf Hinweis der Mutter des Kindes zu einer erneuten Begutachtung der Hautveränderung durch das Pflegepersonal, welches dann dazu führte, dass der diensthabende Arzt hinzugerufen wurde. Das Kind wies hämmorrhagische Nekrosen auf und es wurde mit einer Notfallversorgung bei Verdacht auf Meningokokkensepsis begonnen. Gegen 8:00 Uhr wurde die Diagnose bakterielle Meningitis gestellt. Den klinischen Befunden konnten auch Hinweise auf das Waterhouse-Friedrichsen-Syndrom entnommen werden. Gegen 8:30 Uhr erlitt der Junge einen septischen Schock und wurde sodann im Laufe des Vormittages in Begleitung eines Intensivteams in schlechtem Allgemeinzustand in das Klinikum verlegt. Zu diesem Zeitpunkt wies der Junge bereits multiple blau-schwarze Hautnekrosen am ganzen Körper und im Gesicht auf, hatte eine schwere Bewusstseinstrübung, unklare Sprache und fehlende Orientierung.
Aufgrund der fortgeschrittenen Sepsis mussten dem Kind beide Unterschenkel amputiert werden und es erlitt u. a. großflächige Vernarbungen. Zeitversetzt folgten mehrfache Muskellappen- und Spalthauttransplantationen im Gesicht, an den Armen sowie an den Oberschenkeln.
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Die Entscheidung
Dem Kläger wurde gegen die Beklagte u. a. ein Anspruch auf ein angemessenes Schmerzensgeld aufgrund eines Behandlungsfehlers dem Grunde nach zugesprochen (Urteil LG Aurich vom 21.10.2013, Az.: 2 O 162/12, bestätigt durch das OLG Oldenburg).
Da der zuständige Pfleger den Zustand des Klägers trotz entsprechender Hinweise der Mutter des Klägers ignorierte und trotz der erkennbaren hämmorrhagischen Nekrosen keinen Arzt hinzuzog, liege ein grober Behandlungsfehler vor. Dem Pfleger wurde außerdem als grobe Unterschreitung der Standards angelastet, dass er in der irrigen Annahme, der somnolente Kläger schlafe, vermeintlich um ihn nicht zu wecken, darauf verzichtete, eine Braunüle wieder anzulegen, die sich der Kläger gezogen hatte; letztes habe dazu geführt, dass dem ohnehin durch Fieber und wiederholtes Erbrechen dehydrierten Kläger über Stunden keine Flüssigkeit zugeführt wurde.
Die zeitlich verzögerte Behandlung stellt nach Auffassung des Gerichts demnach einen groben Behandlungsfehler dar. Die Beklagte muss sich das Verhalten des Pflegers insoweit zurechnen lassen.
Ein grober Behandlungsfehler liegt grundsätzlich dann vor, wenn der Arzt gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf.
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Fehler des Pflegepersonals wird zugerechnet
Auch Fehler des Pflegepersonals, für deren Verhalten das Krankenhaus einzustehen hat (§ 278 BGB), sind zu berücksichtigen. Der Pfleger war bei der Beklagten beschäftigt und zur Pflege und Betreuung des Klägers in dieser Nacht verpflichtet. Sein pflichtwidriges Verhalten musste sich die Beklagte zurechnen lassen, so das Gericht.
Durch die Entfernung der dem Kläger gesetzten Infusionsnadel im Rahmen des wiederholten Erbrechens sei es zu einem Abbruch einer ärztlich angeordneten Behandlungsmaßnahme gekommen, welche der Volumenstabilisierung diente. Dies habe zu einem Volumenmangel und einer Verschlechterung des Krankheitsbildes geführt. Hätte der Pfleger in dieser Situation einen Arzt dazugerufen, wäre es nach den Ausführungen des Sachverständigen Stand der medizinischen Wissenschaft gewesen, die Diagnose zu überprüfen und dann entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Bei einer antibiotischen Behandlung, kombiniert mit einer Volumentherapie und eventuell der Gabe von gerinnungshemmenden Mitteln, hätten dann Aussichten auf eine erfolgreiche Therapie bestanden.
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Pfleger traf ärztliche Ent-scheidung
Die Verabreichung von Infusionen sei eine ärztliche Aufgabe, über deren Abbruch oder Fortführung nur ein Arzt entscheiden dürfe, so der Sachverständige im Prozess. Der Pfleger hätte in dieser Situation den im Hintergrund tätigen Arzt über den Abbruch der Infusion informieren müssen. Es seien auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich gewesen, dass die Kontaktierung eines Arztes dem Pfleger nicht möglich gewesen wäre, denn es sei ein Arzt im Bereitschaftsdienst und in dieser Nacht sei es auf der Kinderstation eher ruhig gewesen.
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Ungewöhnlich hohes Schmerzensgeld
In einem anschließenden Prozess über die Höhe des zugestandenen Schmerzensgeldes erging erst Jahre später das Urteil. Das erstinstanzliche Gericht sprach dem Kläger ein ungewöhnlich hohes Schmerzensgeld in Höhe von 800 000,- € (abzüglich bereits geleisteter 150 000,- €) zu (LG Aurich, Urteil vom 23.11.2018). Besonders hervorgehoben hatte das Landgericht bei der Bemessung den Umstand, dass der noch junge Kläger noch eine lange Zeit unter den Folgen der Behandlungsfehler zu leiden haben werde.
Gegen dieses Urteil ging die Beklagte in Berufung. Sie war unter anderem der Meinung, das Schmerzensgeld sei zu hoch angesetzt und falle aus dem Rahmen anderer Entscheidungen zu vergleichbaren Schädigungen. Im Interesse der Gerechtigkeit und Gleichbehandlung sei es angezeigt, unter angemessener Berücksichtigung der besonderen Umstände des zu entscheidenden Falles den Rahmen der einschlägigen Rechtsprechung einzuhalten; dazu müsse man sich vor Augen führen, dass Schmerzensgeld in der Größenordnung von 500 000 € in der Regel nur für allerschwerste Gesundheitsschäden wie Hirnschädigungen mit Zerstörung der Persönlichkeitsstruktur zuerkannt würde.
Doch das OLG Oldenburg bestätigte die Entscheidung (Urteil vom 18.3.2020 – 5 U 196/18). Der Senat hielt die Art der Bemessung, wie sie das Landgericht vorgenommen hatte, für zutreffend; die Entscheidung verlasse auch nicht den Referenzrahmen der Schmerzensgeldentscheidungen anderer deutscher Gerichte; schließlich erweise sich auch die Bewertung im Einzelfall als zutreffend und angemessen.
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Schmerzensgeld ist Einzelfallsache
Es gebe keinen angemessenen Betrag im Sinne einer a priori feststehenden absoluten Summe, die vom Gericht nur im Sinne eines arithmetischen Rechenvorgangs ermittelt werden müsste, so der Senat in seiner Entscheidung. Vielmehr handele es sich um eine Bewertung des Einzelfalls nach der Schwere der erlittenen Verletzungen, der hierdurch bedingten Leiden, deren Dauer, der subjektiven Wahrnehmung der Beeinträchtigungen für den Verletzten und des Ausmaßes des Schädigerverschuldens (mit Verweis auf BGH vom 12.5.1998 – VI ZR 182/97). Diese Bewertung benötige zur Vermeidung einer Willkürentscheidung einen Referenzmaßstab. Dabei hielte der Senat den (herkömmlichen) Weg, nämlich die maßgeblichen Gesichtspunkte des Einzelfalles herauszuarbeiten und sie dann in einer Gesamtabwägung unter Beachtung des Systems vergleichbarer Gerichtsentscheidungen zu bewerten, trotz daran geübter Kritik für weiterhin vorzugswürdig.
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Fazit
Gerade in für Ärzte und das Pflegepersonal besonders anstrengenden Zeiten wie diesen mit personeller Unterbesetzung, Arbeiten am Limit etc. darf nicht aus dem Blick geraten, dass ärztliche Leistungen auch ärztliche Leistungen bleiben müssen. Es bleibt also für Kliniken nicht aus, dem Pflegepersonal durch dienstliche Anweisungen klar vorzuschreiben, bei einer unklaren oder ungewöhnlichen medizinischen Situation immer ärztlichen Rat hinzuzuziehen und auf die strikte Trennung von ärztlichen zu pflegerischen Leistungen hinzuweisen. Bestenfalls sollten derartige Anweisungen durch regelmäßig wiederholtes Anhalten dazu verstärkt werden. Aber auch der Appell an die diensthabenden Ärzte, Entsprechendes an das Pflegepersonal zu kommunizieren, wäre häufig hilfreich. Nur wenn das Pflegepersonal die „Rückendeckung“ der diensthabenden Ärzte hat, auch einmal „umsonst“ zur Sicherheit einen Arzt gerufen zu haben, können solche Situationen (in der Regel) vermieden werden. Denn häufig wollen Pfleger die Ärzte nicht mit vermeintlichen Bagatellen belästigen, weil ihnen der Eindruck vermittelt wird, das hätten sie nun wirklich selbst machen können. Insoweit muss einem diensthabenden Arzt auch klar vor Augen geführt werden, dass er sich selbst auf dünnem Eis bewegt, wenn der Eindruck entsteht, er wolle nicht gestört werden.
Wer „gerichtliche Gedankengänge“ zur Schmerzensgeldhöhe einmal nachvollziehen möchte, sollte die Entscheidungsgründe des OLG Oldenburg lesen. Dort wird deutlich, wie komplex ein derartiger Entscheidungsfindungsprozess auch für die Gerichte ist, die einerseits den Interessen der Geschädigten entsprechen und andererseits keine „amerikanischen“ Verhältnisse herbeiführen sollen.
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Zitierweise für diesen Artikel
klinikarzt 2020; 49: 522–523
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Autorinnen/Autoren
Publication History
Article published online:
20 February 2023
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